Ohne die Vergangenheit in irgendeiner Weise zu würdigen, macht das moderne Denken geltend, alleiniger Hüter des einzig wahren Wissens zu sein – eines Wissens, dessen Grundpfeiler Rationalismus und Positivismus seien. Dieser Sichtweise zufolge sind Physik und Metaphysik voneinander zu trennen. Allein die physische Sphäre wird als vermessbar und mit dem Verstand durchdringbar eingestuft, während das Feld der Metaphysik an die Kirche delegiert wird. Getreu dieser mechanistischen Wahrnehmung des Universums lassen sich alle Geschehnisse im Universum mit dem Mechanismus von Ursache und Wirkung erklären; dieser und nur dieser vermittle uns das nötige Wissen über das physikalische Universum. Francis Bacons1‚wissenschaftliche Methode‘ beruht darauf, dass nur Experimente die Wahrheit zu enthüllen vermögen. Demgemäß führt nur ein Weg zur Erkenntnis: dass man seinen Verstand der experimentellen Forschung zur Verfügung stellt, deren Aufgabe es ist, den Mechanismus von Ursache und Wirkung in der gegenständlichen Welt zu untersuchen. Dieser Gedanke, der das Fundament der Moderne bildet, verachtet die metaphysische Dimension des Seins. Er beinhaltet außerdem, dass alles, was dem Individuum von Vorteil ist, hoch geschätzt wird und dass es alles, was in seiner Macht steht, tun kann, um seine Ziele zu erreichen.
Zwei Wege zu denken
Die Wissenschaft sagt, alles habe eine Ursache. Ohne die Ursache(n) zu verstehen, könne man sich kein Wissen um das Sein erwerben. Entsprechend sucht die moderne Wissenschaft, die die metaphysische Dimension des Seins nicht anerkennt, erst gar nicht nach irgendeiner Weisheit in der Schöpfung, sondern lediglich nach Ursache-Wirkung-Mechanismen, die auf Eigennutz basieren. Für das moderne Denken wiederum sind alle Individuen Herren ihrer selbst, die das Leben nach eigenem Gutdünken interpretieren.
In Wirklichkeit jedoch stehen dem menschlichen Verstand zwei Möglichkeiten offen: Entweder lässt er sich zu einem willfährigen Spielzeug in den Händen des Nafs (das Böses befehlende Selbst des Menschen) degradieren, oder er tritt auf wie ein Botschafter des Herzens. Folglich ist es uns überlassen, ob wir mit unserem Böses befehlenden Selbst oder mit dem Herzen denken. Entscheiden wir uns für die erste Möglichkeit, so bedeutet dies, dass jeder meint, unbedingt seine persönlichen Wünsche verwirklichen zu müssen. In diesem Fall wird es zwangsläufig zu Verwerfungen im Zusammenleben in der Gesellschaft kommen. Die moderne Philosophie hängt sogar dem Irrglauben an, das ganze Universum sei ein Feld, auf dem das Chaos regiert. Aus diesem Grunde machte Friedrich Nietzsche geltend, es sei nur konsequent, nach Macht zu streben. Er unterteilte die Menschen in zwei Gruppen: die Adeligen (die Mächtigen) und die Masse. Diejenigen, die keinen Zugang zu materiellen Gütern besitzen, versuchen demnach, dieser unangenehmen Realität zu entfliehen und sich andere Quellen der Macht zu erschließen, die ihnen Befriedigung verschaffen. In diesem Sinne lägen die Wurzeln der Suche nach einer metaphysischen Wahrheit in der Ohnmacht des Menschen. Wie verhält es sich aber in Wirklichkeit: Ist Ohnmacht tatsächlich die Triebfeder der Suche nach einer metaphysischen Wahrheit, oder ist nicht vielmehr die Nichtanerkennung von Religion ein Resultat von Ohnmacht?
Die Ohnmacht des Menschen
Zwar ragt der Mensch unter allen anderen Lebewesen heraus, doch ist er nicht sein eigener Herr. Hier ein Gleichnis: Ein Soldat besitzt etwas Geld. Es wurde ihm ausgehändigt, damit er es im Dienste seiner Regierung einsetze; deshalb kann er es nur für bestimmte Dinge ausgeben. Ihm sind die Hände gebunden, er hat nicht die volle Verfügungsgewalt über das Geld. Ähnliches gilt für uns alle. Auch wir besitzen nicht die volle Verfügungsgewalt über uns selbst oder unseren Körper, da wir ihn nicht immer so nutzen können, wie wir es gerne hätten. Manchmal werden wir krank, manchmal sind wir zu schwach, um auch nur einen Arm zu heben. Allein die Tatsache, dass wir unseren Tod nicht verhindern können, zeigt, dass wir nicht gänzlich frei über uns selbst oder unseren Körper verfügen können.
Menschen, deren Verstand und Bewusstsein geschärft ist, nehmen die Welt zwangläufig als einen Ort der Kummers wahr, weil sie angesichts der Sorgen und Nöte ihrer Mitmenschen Mitleid empfinden. In den Augen des modernen Menschen jedoch, der jedem Selbst (Nafs) uneingeschränkte Verfügungsgewalt einräumt, ist diese Welt ein Ort, an dem die nackte Gewalt triumphiert; ein Ort, an dem – wie Sartre behauptet – die Menschen sich selbst überlassen sind und nicht wissen, was sie tun sollen. Und so hallen in ihr die Kommandos der Gewaltherrscher und die Klagen der Unterdrückten wider. Die Widersprüche dieser modernen Sichtweise, die die Religion völlig außer Acht lässt, haben den Herzen und Seelen der Menschen großen Kummer und ein lähmendes Gefühl der Ohnmacht beschert. Und diese Ohnmacht ist gekennzeichnet durch einen Zustand der spirituellen Schwäche. Die Betroffenen ergründen zwar ihre Außenwelt, finden aber in sich selbst keine feste Basis, in die sie ihr Vertrauen setzen können.
Die Vermutung, dass Konflikt und Widerstreit die alles entscheidenden Faktoren im Leben sind, beruht ebenfalls auf einer völlig falschen Sichtweise. Die Hilfe und Unterstützung von Sonne und Mond für Pflanzen und Tiere oder die Tatsachen, dass Tiere (und Pflanzen) in den Dienst des Menschen gestellt wurden, dass uns schmackhafte Früchte wertvolle Nährstoffe liefern und dass unsere Körperzellen von kraftspendenden Atomen versorgt werden, sind nur einige wenige Belege dafür, dass Hilfsbereitschaft und gegenseitige Unterstützung im Universum gang und gäbe sind. Dieser Punkt ist so elementar, dass selbst schon die Nichtexistenz einer einzigen Ursache im Universum unüberschaubare Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Stellen wir uns zum Beispiel nur einmal vor, dass der Stickstoffkreislauf auf Stickstoffbakterien verzichten müsste. Dann wären die Pflanzen nicht dazu in der Lage, Stickstoff aufzunehmen. Ihr Stoffwechsel würde geschwächt, es würde keine Photosynthese mehr stattfinden, der Sauerstoffgehalt in der Luft würde sinken und der Kohlendioxidgehalt gleichzeitig steigen. Das Resultat: Die Erde würde sich in einen Ort verwandeln, der dem menschlichen Leben nicht länger förderlich wäre. Das zeigt: Alle Gleichgewichte und Harmonien im Universum – in kleinem ebenso wie in großem Maßstab – künden vom Gesetz gegenseitiger Hilfeleistung und Unterstützung.
Der wahre Charakter der Ursachen
Wenn heutzutage alles, was geschieht, als das Zusammenspiel bestimmter Ursachen beschrieben wird, und wenn die Ursachen als die absolute Machtinstanz im Universum hingestellt werden, so liegt dies daran, dass die moderne Philosophie die transzendente Wahrheit ignoriert. Said Nursi sagte einmal über den Einfluss der Ursachen: „Physikalische Ursachen sammeln nur und fügen zusammen. Allen vernünftigen Menschen sollte aber klar sein, dass sie nicht aus dem Nichts erschaffen können, was nicht in ihnen selbst steckt.“ Hinter jeder noch so ordinären Wirkung verbergen sich bei genauerer Betrachtung ein tiefes Bewusstsein, transzendentes Wissen, absolute Verfügungsgewalt und ähnliche Attribute. Ursachen jedoch besitzen all diese Attribute nicht und sind daher auch wohl kaum die wahren Architekten der Wirkungen. Abgesehen davon ist jede Ursache kontingent (wirklich oder möglich, aber nicht wesensnotwendig) – ob sie vorhanden ist oder nicht, spielt für das, was sich entwickelt, keine absolut ausschlaggebende Rolle. Jede Ursache basiert auf einer anderen Ursache, die ihrerseits auf einer weiteren gründet. Am Ende dieser Kette bedürfen wir aber noch immer einer Instanz, die eben nicht kontingent ist, deren Existenz unerlässlich ist (Wadschib al-Wudschud) und die gewissermaßen der Verursacher der Ursachen ist (Musabbib al-Asbab). Wenn doch der Mensch, der als die am höchsten entwickelte Ursache gilt, es nicht schafft, auch nur das winzigste Objekt aus dem Nichts zu erschaffen, dann kann auch keine andere Ursache der wahre Architekt der Wirkungen sein.
Ein Mensch, dessen Denken der modernen Wissenschaft folgt und der versucht, sich allein mit seinem Verstand und durch Experimente Wissen um die gegenständliche Welt anzueignen, wird alles (von der kleinsten bis hin zur größten Sphäre) auf Ursachen zurückführen. Weil der ‚moderne‘ Wissenschaftler die vollkommenen Gleichgewichte, die er in den kleinsten Zellen oder auch im Universum als Ganzes entdeckt, für ein Geschenk der Ursachen hält, muss er zu dem Ergebnis kommen, dass jede Ursache auch das Potenzial hat, diese perfekte Harmonie wieder zu zerstören; denn etwas zu zerstören ist viel einfacher, als es aufzubauen. Damit lädt er sich eine enorm schwere Last auf die Schultern. Denn alle Entdeckungen, die er macht, alles, was er auf dem Pfad der Wissenschaft den Ursachen zuschreibt, verwandelt sich für ihn schon bald in einen Quell der Angst. Sein Wissen macht ihn also nicht mächtig, sondern ohnmächtig. Und unter dem Druck dieser Abhängigkeit forscht er nach immer neuen Quellen der Macht. Als solche können ihm sein eigenes Selbst (oder Ego), eine bestimmte Technologie oder auch die Natur dienen.
Entgegen den Argumenten einer mechanistischen Weltsicht, die die Physik von der Metaphysik trennt und die Ursachen als Quelle alles Existierenden betrachtet, und entgegen der Sichtweise der Moderne, die jedem Selbst absolute Autorität bescheinigt, das Universum für chaotisch hält und Gewalt als den einzig möglichen Weg zur Lösung von Konflikten betrachtet, wenden sich die Menschen also nicht aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus der Religion zu. Vielmehr mündet die mangelnde Hinwendung zum Glauben in Ohnmacht und Hilflosigkeit.
(Aus der Zeitschrift Fontäne, Ausgabe 48, 2010)
1 Roger Bacon (ca. 1220-1292): Englischer Franziskanermönch und Philosoph, Reformer des Bildungswesens und einer der bedeutendsten Befürworter der experimentellen Wissenschaft im Mittelalter.