Geheime Dokumente des autoritären chinesischen Regimes enthüllen die systematische Verfolgung und Internierung der uigurischen Minderheit in Xingjiang. Laut Amnesty International werden Millionen Uiguren in den sogenannten Internierungslagern festgehalten und sind dabei psychischer sowie physischer Folter ausgesetzt. Auf erzwungene menschenverachtende Weise wird ihnen die Identität, Sprache, Kultur sowie Religion abgeschworen.
Wir haben eine Uigurin namens Magfiret Aitamu getroffen, die vor einem Jahr nach Deutschland fliehen musste, um nicht das gleiche Schicksal wie ihre Landsleute und vielleicht sogar ihre Familie zu erleiden. Sie erzählte uns ihre Geschichte, die in ihrer Geburtsstadt Xingjiang anfängt und von der verzweifelten Suche nach Sicherheit und Freiheit geprägt ist.
Bereits vor 25 Jahren musste Magfiret Aitamu aus ihrer Heimat fliehen, aus Angst vor den Repressalien des chinesischen Regimes. Dadurch ist sie nur knapp der Brutalität des Regimes entkommen und weiß nicht wie es ihrer verbliebenen Familie ergeht.
Zuletzt hatte Magfiret Aitamu im Jahre 2017 telefonischen Kontakt mit ihrer Schwester. Danach hat sie nichts von ihrer Schwester und dem Verbleib ihrer Familie gehört.
Magfiret Aitamu teilte uns das letzte Gespräch mit ihrer Schwester folgendermaßen mit: „Ich rief wie gewohnt meine Familie in Xingjiang an. Wie üblich nahm meine Schwester Colpan das Gespräch entgegen. Nach einem kurzen Grußwort, fragte sie mich schroff und sehr ungewohnt: „Magfiret! Was ist? Wieso rufst du an?“ Ihre Art erschrak mich. Woraufhin ich fragte, ob sie erkrankt sei oder ob jemand aus dem Hause verstorben sei. Meine Schwester sprach sehr merkwürdig in abgehackten Sätzen und war äußerst aufgewirbelt. Kurz darauf weinte sie und schrie: „Magfiret! Ruf uns nie wieder an. Wir werden uns erst wieder im Jenseits sehen.“
Seitdem hat Aitamu keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie und weiß nicht, ob diese in Internierungslagern verharren oder gar ums Leben gekommen sind.
Nach einem langen Schluchzen setzte Frau Aitamu ihre Worte fort und nannte ihre Vermutung, dass ihre Familie sowie andere Familien abgehört werden und falls sie Kontakt zu ausländischen Familienangehörigen haben, gleich in die Internierungslager eingesperrt werden.
Flucht oder Tod
Magfiret Aitamu hat als eine von zehn ihrer Geschwister im Jahre 1973 in Xingjiang das Licht der Welt erblickt. Einer ihrer Brüder wurde in einer Polizeiwache umgebracht. Dazu sagt Magfiret Aitamu: „Man behauptete, er sei selbst aus einem Fenster gesprungen und starb dabei. Jedoch wissen meine Familie und ich, dass er gezielt ermordet wurde.“
Außerdem besuchte Magfiret Aitamu acht Jahre lang die staatliche Schule und arbeitete später in einer Textilfabrik sowie in einem Kleidungsgeschäft. Zu dieser Zeit entschloss sie sich dazu ein Kopftuch zu tragen, wodurch allerdings ihr Leben um einiges erschwert wurde.
„Entweder legst du dein Kopftuch ab oder du kündigst.“ Damit wurde sie vor die Wahl gestellt. Dazu entgegnete sie: „Ich wollte mein Kopftuch anbehalten und hatte deswegen gekündigt. Daraufhin wurde ich alle zwei Tage zur Polizeiwache vorgeladen. Meine Geschwister sagten, ich solle besser ins Ausland, da ich in Xingjiang nicht mehr in Sicherheit war. Mir wurde bewusst, dass eine Flucht unausweichlich wurde, zumal ich allen Ernstes um mein Leben fürchtete.“
Die Flucht aus Xingjiang
„Im Jahre 2004 verließ ich aus Furcht und Angst mein Heimatland und reiste zuerst in den Golfstaat Dubai. Dort habe ich auf den heiligen Fastenmonat Ramadan gewartet, damit ich nach Saudi-Arabien als Pilgerin einreisen durfte. Dort wurde mir nach einiger Zeit gesagt, dass ich nach Peking reisen müsse, um mir von dem Konsulat ein Visum ausstellen zu lassen. Daraufhin flog ich im Jahre 2005 zurück nach China, genauer nach Peking. Ich entschloss mich dort kurzerhand auch meine Familie in Xingjiang zu besuchen. Da jedoch die Flüge sehr strikt kontrolliert wurden, entschloss ich mich für eine zweitägige Zugfahrt nach Xingjiang.
Dort blieb ich wieder für einen Monat in meinem ersehnten Heimatland und verbrachte mit meiner Familie Zeit. Allerdings konnte ich in Xingjiang nicht so leicht auf die Straße und Frei war ich auch nicht. Die Polizei hatte langsam bemerkt, dass ich wieder zurück war und fragten wieder ständig nach meinen Papieren. Ich wurde ständig beobachtet und fürchtete um mein Leben. Abrupt entschied ich mich wieder für eine Flucht mittels der Zugfahrt nach Peking. Von Peking aus flog ich wieder zurück nach Dubai und nach weiteren sieben Monaten bekam ich auf informellen Wege ein Visum für Saudi-Arabien, was mich sieben tausend saudische Riyal kostete.
In Saudi-Arabien lebte ich alleine und als einsame Frau durfte ich nicht arbeiten und kein Auto fahren. Deshalb blieb mir als einziges zuhause zu kochen und diese uigurischen Speisen zu verkaufen. Damit versuchte ich meinen Unterhalt zu erzielen und verkaufte das selbst Zubereitete an verschiedene gastronomische Einrichtungen. Dennoch konnte ich nicht damit leben und schließlich musste ich alle zwei Jahre ein Visum kaufen. Die Händler, welche mir das Visum verkauften, bedrohten mich an die Behörden zu melden. Meine größte Angst war die Abschiebung nach China!“
Frei war ich weder in China noch in Saudi-Arabien
Die Gültigkeit ihres chinesischen Reisepasses lief zu Anfang des Jahres 2019 ab. Deshalb musste sie in den darauffolgenden sechs Monaten Saudi-Arabien verlassen. Doch die Angst vor einer Rückkehr war zu groß. „Ich wusste, dass wenn ich zurück nach Xingjiang migrieren würde, mich entweder der Tod oder die Internierungslager erwarten würde.“ Auch eine Flucht in die Türkei sah aussichtlos aus, da eine bekannte Uigurin zurück nach Saudi-Arabien abgeschoben wurde und von dort aus zurück nach China. Seitdem hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihr.
Ihre Flucht nach Deutschland bringt Magfiret Aitamu folgenderweise zu Wort:
„Ich kaufte für den 13.06.2018 einen Flug nach China, bei dem ein Zwischenstopp in Frankfurt vorgesehen war. Es war der 28 Tag des Monats Ramadan im Jahr 2018. In der heiligen Nacht (laylat al-qadr) ging ich zum letzten Mal zur Kaaba und betete zu Gott, dass er mir meine Freiheit bescheren soll. In Frankfurt überreichte ich der Polizei alle nötigen Papiere und beantragte ein Asyl. Der Tag an dem ich meine Freiheit erlangte, war freilich ein lang ersehnter Festtag.
Das Gefühl der Freiheit erlangte ich erst in Deutschland. Weder in China noch in Saudi-Arabien sowie in der heiligen Stadt Mekka durfte ich so frei sein. Mein Großvater durfte keine Freiheit erlangen, gleichwohl ist auch mein Vater ohne die Freiheit schmecken zu dürfen verstorben. 25 Jahre meines Lebens musste auch ich in Angst vor dem Staat, der Polizei leben. Sogar Tiere haben in Deutschland Rechte, die in China und Saudi-Arabien für Menschen keine Geltung haben. Ich hoffe, dass ich auch die restlichen Jahre meines Lebens in diesem freiheitlichen Rechtsstaat verbringen darf.
Mein Wunsch ist es Busfahrerin zu werden
Neuerdings lebt Magfiret Aitamu im Münsterland und besucht regelmäßig einen Deutschkurs. Einen Berufswunsch hat sie auch. Sie möchte Busfahrerin werden, weil „ich viele unterschiedliche Menschen dadurch treffen kann. Ich möchte mich den Menschen als glückliche Uigurin präsentieren und eine entsprechende Dienstleistung für die hiesige Gesellschaft bereitstellen. Vielleicht sogar meinen Dank dadurch zeigen.“
Die Geschichte von Magfiret Aitamu führt uns nochmal vor Augen, wie wichtig Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind. Für die meisten von uns ist es selbstverständlich in einem demokratischen Rechtsstaat zu leben. Abgesehen von der religiösen und ethnischen Zugehörigkeit sollten aber alle Menschen das Recht der freien Meinungsäußerung und der freien Selbstbestimmung haben dürfen.
Abdülkerim Senel