Die Frage nach dem Subjekt der Gotteserfahrung kann eine grundlegende Wende in der Betrachtung der Religionen und einen Perspektivwechsel im Religionsunterricht herbeiführen. Wie vollzog sich die erste Begegnung? Ging sie von Gott selbst aus oder durch ein anderes Subjekt, das behauptete, mit Gott in Beziehung zu stehen und in seinem Namen zu sprechen? Und was für eine Rolle spielte dabei die kulturelle Bedingtheit?
Gerade aus der Perspektive religiöser Bildung führte mich die Suche nach einer Antwort auf diese Frage an einen neuen Ort des Denkens. In den Gottesvorstellungen der drei monotheistischen Religionen – des Judentums, des Christentums und des Islams – zeigen sich diese Subjekte in charakteristisch unterschiedlicher Gestalt: Im Judentum ist es das Volk, im Christentum das Individuum, im Islam der Prophet.
Die Gotteserfahrung im Judentum
Im Judentum erscheint Gott als ein Herr, der mit einem geschichtlichen Volk, nämlich den Israeliten, einen Bund schließt. Seine Rettung und seine Verheißungen werden fortwährend durch historische Ereignisse bestätigt. Dieses kollektive Zeugen findet in Mose seinen Höhepunkt:
„Und der HERR sprach zu Mose: So geh nun hin; ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.“ (Exodus 3,10)
Die Israeliten, Nachkommen der zwölf Söhne Jakobs (Israels), sind das erwählte Volk Gottes. Seine Worte, Verheißungen und Gebote richten sich nicht an einzelne Individuen, sondern an das Volk als Ganzes. Als Gott Mose am Sinai beruft, geschieht dies im Namen dieses Volkes, mit dem er seinen Bund schließt:
„Wenn ihr nun meiner Stimme gehorcht und meinen Bund haltet, so sollt ihr mein besonderes Eigentum sein unter allen Völkern.“ (Exodus 19,5)
„Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Der HERR, dein Gott, hat dich erwählt, dass du ihm gehörst aus allen Völkern, die auf Erden sind.“ (Deuteronomium 7,6)
So ist die Gotteserfahrung des Judentums zutiefst kollektiv: Gott begegnet nicht dem vereinzelten Menschen, sondern dem Volk in seiner gemeinsamen Geschichte. Die Erfahrung des Göttlichen ist zugleich Erinnerung, Erzählung und Identität.
Die Gotteserfahrung im Christentum
Im Christentum löst sich diese kollektive Gotteserfahrung und konzentriert sich ganz auf das „Individuum“. Gott manifestiert sich im Menschen selbst – nicht in einem Volk, sondern in einer konkreten Person, im Messias Jesus. Das ist einzigartig unter den monotheistischen Traditionen. Jesus ist nicht nur Gottes Gesandter, sondern das fleischgewordene göttliche Wort (Logos):
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott… Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns.“ (Johannes 1,1.14)
In seiner eigenen Zeugenschaft identifiziert sich Jesus mit Gott:
„Ich und der Vater sind eins.“ (Johannes 10,30)
Damit erhält die Gotteserfahrung eine neue Dimension. Der Mensch Jesus, aus der jüdischen Tradition hervorgegangen, trägt Gott in seinem eigenen Leib. Im Wesentlichen ist es Gott selbst, der dies ermöglicht. Die Erlösung des Individuums im Christentum hängt ebenfalls von Gott in Christus ab:
Die Erlösung des Einzelnen ist im Christentum untrennbar an diesen Gott im Christus gebunden:
„Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen.“ (Johannes 14,9)
Nach Paulus führt dieses „Sehen“ zu einer inneren Wandlung des Menschen; der Gläubige wird eins mit Christus:
„Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ (Galater 2,20)
Hier wird die Gotteserfahrung zur innersten Bewegung des Ichs: Gott, der sich in einem Menschen offenbart, ruft den Menschen dazu auf, in sich selbst göttlich zu werden.
Die Gotteserfahrung im Islam
Der Islam unterscheidet sich sowohl vom Judentum als auch vom Christentum, indem er das Verhältnis zwischen Gott und dem Propheten in den Mittelpunkt stellt. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch entfaltet sich hier auf der Achse von Offenbarung und Vermittlung. Das erste konkrete Subjekt dieser Beziehung ist zweifellos der Prophet Muhammad.
Im Islam offenbart sich die Gotteserfahrung in der Person des Propheten Muhammad, des Empfängers der Offenbarung. Nach dem Koran bedeutet dies nicht nur, die göttliche Botschaft zu empfangen, sondern sie zu leben, sie zu verkörpern und zu erklären. Die Stellung des Propheten geht über die eines reinen Empfängers hinaus: Er ist Träger, Deuter und Vollstrecker der Offenbarung.
„Er spricht nicht aus eigenem Antrieb, entsprechend seinem eigenen Wunsch; das ist nichts anderes als eine Offenbarung, die ihm eingegeben wird.“ (53:3-4)
Auch die Propheten des Alten Testaments werden in ähnlicher Weise beschrieben. Doch der Koran betont ausdrücklich, dass die Worte und Handlungen des Propheten nicht willkürlich sind:
„Sprich: Ich folge nur dem, was mir offenbart wird.“ (6:50)
„Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit herabgesandt, damit du zwischen den Menschen richtest, wie Gott es dir gezeigt hat.“ (4:105)
Der Prophet Muhammad ist nicht nur „Gesandter“, sondern zugleich „Zeuge“:
„O Prophet! Wir haben dich gewiss als einen Zeugen geschickt, als Verkünder der frohen Botschaft und als Warner.“ (33:45)
„Wie wird es sein, wenn wir aus jeder Gemeinschaft einen Zeugen bringen und dich über sie als Zeugen stellen?“ (4:41)
Diese Zeugenfunktion des Propheten prägt auch die historische Verantwortung der Umma, die als kollektives Subjekt der Gerechtigkeit Zeugnis ablegt:
„So machten Wir euch zu einer mittleren (maßvollen) Gemeinschaft, damit ihr Zeugen seid über die Menschen und der Gesandte über euch Zeuge sei.“ (2:143)
Diese Verse verweisen auf die zentrale Stellung des Propheten in einer streng theozentrischen Religion und zugleich auf eine Beziehung, die sich „von unten nach oben“ vollzieht. Denn im Islam ist allein Gott das absolut Heilige. Seine Transzendenz bestimmt nicht nur das Weltverständnis, sondern auch die Grenzen menschlicher Erkenntnis und Moral. Gott, die „absolute Wahrheit“ kann nur durch Offenbarung und Prophetie erkannt werden. Der Koran betont seine absolute Herrschaft:
„Das Urteil gebührt allein Gott. Er spricht die Wahrheit, und Er ist der beste der Richter.“ (6:57)
„Gott gehört, was in den Himmeln und auf der Erde ist; und Gott umfasst alle Dinge.“ (Sure 4:126)
Diese Herrschaft nimmt auf Erden Gestalt an in der Person des Propheten, in seinen Worten und Handlungen. Sein Leben und seine Überlieferungen (Hadithe) bilden im Islam die lebendige Auslegung des Korans.
Schlussbetrachtung
Die Frage nach dem Subjekt der Gotteserfahrung eröffnet einen tiefen Blick in das Selbstverständnis der drei monotheistischen Religionen. Sie zeigt, wie unterschiedlich ihre Gottesbilder und religiösen Praktiken geformt sind.
Im Judentum steht die kollektive Beziehung des Volkes Israel zu Gott im Mittelpunkt; im Christentum rückt die individuelle Begegnung mit Gott in der Person Jesu ins Zentrum; im Islam hingegen, obwohl Gott der Mittelpunkt bleibt, erhält die Offenbarung ihre konkrete Gestalt durch den Propheten.
Diese Unterschiede machen deutlich: Die Gotteserfahrung kommt nicht unmittelbar „von oben“, nicht allein von Gott her, sondern nimmt durch die Erzählungen der jeweiligen Mittler und Subjekte Gestalt an – in unterschiedlichen Zeiten, Kontexten und Bedürfnissen. Wäre sie ausschließlich von oben gegeben, wie ließen sich dann diese drei ganz verschiedenen Formen des göttlichen Dialogs erklären?
Wenn also die Beziehung zu Gott über menschliche Subjekte vermittelt wird, wenn sie ihn gewissermaßen im eigenen Namen sprechen lassen, dann zeigt sich: Auch die drei monotheistischen Religionen, trotz ihres gemeinsamen Ursprungs im Glauben an den einen Gott, sind Kinder unterschiedlicher Narrative, Kulturen und Geschichtsräume. Daher ist es notwendig, jede Form der Verallgemeinerung zu vermeiden. Auch wenn das Leben der Propheten im Rahmen normativer Regeln eine verbindliche Bedeutung besitzt, ist es nicht möglich, die Offenbarung unmittelbar auf die religiöse Erfahrung der gesamten Gemeinschaft zu übertragen. Denn die Gotteserfahrung jedes Menschen ist relativ, dynamisch, kontextabhängig und von einem vielschichtigen, mehrdimensionalen Charakter geprägt.
Bemerkenswert ist zudem, wie eng das Verhältnis zwischen Subjekt und Gott mit den jeweiligen historischen und kulturellen Bedingungen verwoben ist.
So verdient auch der Wandel der Offenbarung selbst Beachtung: Im Judentum spricht Gott direkt mit Mose und übergibt ihm ohne Mittler die Tafeln des Gesetzes. Zu Jesus hingegen spricht er nicht durch ein Medium, sondern in ihm selbst; sein Wort wird Mensch. Im Islam schließlich vermittelt der Engel Gabriel die Offenbarung. Der Prophet Muhammad steht als Mittler zwischen Gott und den Menschen (Sure 5:67) und zugleich als „schönes Vorbild“ (Sure 33:21). Aus dieser doppelten Rolle entstehen Koran und Sunna als Quellen des Glaubens.
Diese drei Wege offenbaren verschiedene Bewegungen des Göttlichen, vom Himmel zur Erde und von der Erde zum Himmel. Sie zeigen, wie sich Gottes- und Gesetzesverständnis jeweils „von unten nach oben“ entfalten und welch unterschiedliche Formen die Gotteserfahrung annehmen kann, wobei die kulturelle Bedingtheit eine entscheidende Rolle spielt.
Und schließlich drängt sich die Frage auf: Konzentriert sich der Schöpfer des nahezu unendlichen Universums und der Milliarden von Menschen tatsächlich nur auf das schmale Gebiet zwischen Irak und Ägypten? Gewiss nicht. Gott lässt sich nicht auf eine einzelne Kultur, ein einziges Volk oder eine Region reduzieren. Und doch scheint jede der monotheistischen Religionen in einem bestimmten Raum, aus einem bestimmten Erbe heraus, ihre Wurzeln zu schlagen.
In Wahrheit aber sind überall auf der Welt Religionen entstanden, getragen von den Bedürfnissen, Hoffnungen und Ängsten der Menschen. Ob monotheistisch, polytheistisch oder naturreligiös, viele Glaubensformen wurzeln im gleichen menschlichen Verlangen nach Sinn und Ursprung. Wenn man diesen Ansatz wissenschaftlich untersucht, könnten sich neue Horizonte für den interreligiösen Dialog und die religiöse Bildung eröffnen. So ließen sich Gotteserfahrungen und die daraus erwachsenen Glaubensformen in einem pluralistischeren Geist betrachten und verstehen.
Zum Schluss noch eine Beobachtung: In der religiösen Bildung könnte die Einbeziehung mythologischer und philosophischer Perspektiven dem Thema eine besondere Tiefe verleihen. Sie ermöglicht es, Religion nicht ideologisch, sondern in ihren Schichten zu begreifen, in Gemeinsamkeiten und Unterschieden, in Mythen und philosophischen Auffassungen. Solch ein mehrdimensionaler Ansatz könnte helfen, die Einseitigkeit dogmatischer Deutungen zu überwinden und den Nährboden für fundamentalistische oder fanatische Sichtweisen zu entziehen.
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