Die Debatten über den Islam reißen nicht ab. Doch weder verlaufen sie auf einer fruchtbaren Ebene, noch sind Tonfall und Inhalt zufriedenstellend. Es redet, salopp gesagt, jeder, der einen Mund hat. Die Worte sind scharf wie Messer, alles wird zurechtgebogen; von der Suche nach Wahrheit keine Spur. Die aus Starrsinn, oberflächlichem Denken und Dogmen errichtete Barrikade ist mit der „Berliner Mauer“ zu vergleichen. Wer keinen Millimeter über den eigenen Komfortbereich und Bewusstseinsstand hinausblickt, scheint dabei noch bestens gelaunt.
Islamgegner und Islamisten befinden sich in einer Art symbiotischer Beziehung. Die Wechselwirkung und die Konfrontation in Hass und Feindschaft funktionieren auf erstaunlich harmonische Weise. Die Polarisierung der Gesellschaft ist hervorragend getimt. Begriffe wie Freiheit, Religion, Staat, Recht und Demokratie erzeugen ein heilloses Durcheinander, da sie von den jeweiligen Seiten unterschiedlich wahrgenommen werden. Etikettierung, Stigmatisierung, Ausgrenzung, Herabwürdigung, Dämonisierung – sie alle sind allgegenwärtig; menschenfeindliche Haltungen und pauschale Urteile haben Hochkonjunktur. Lösungsorientierte, zivilisierte Diskussionen und das Bemühen um gegenseitiges Verstehen sind Lichtjahre entfernt…
Einzige Gruppe, die sich in dieser beklemmenden Atmosphäre wohlfühlt: Jene, die von Unwissenheit und Hass leben und keinen „intellektuellen Anstand“ kennen. Der türkische Intellektuelle Cemil Meriç sagte zurecht: „In diesem Land (gemeint ist die Türkei) gibt es keine Rechten und Linken, keine Fortschrittlichen oder Rückständigen. Es gibt nur Anständige und Unanständige.“ Auf der einen Seite stehen jene, die auf Liebe und Zusammenleben setzen, auf der anderen Seite die, die sich blindem Hass und Feindschaft hingeben.
Eine Sprache, die ständig Pathos und Heldentum konsumiert und Hass produziert, die spaltet, beunruhigt, rassistisch, diskriminierend, faschistisch, totalitär und antidemokratisch ist – ist so gebräuchlich wie nie zuvor. Angesichts all dieser Gründe und des Leids wäre Schweigen einfach gewissenlos. Doch – vorweg gesagt – geht es nicht darum, sich zum Anwalt einer bestimmten Seite zu machen, sondern im Namen kollektiver Verantwortung laut zu werden.
Wenn der Islam im Mittelpunkt der Debatten steht, dann sind es in erster Linie Muslime – insbesondere Intellektuelle und führende Köpfe –, die angesprochen sind. Obwohl äußere Einflüsse und Manipulationen nicht zu vernachlässigen sind, tragen Muslime primär selbst Verantwortung für die Probleme rund um den Islam. Sie müssten sich diesen Problemen selbst stellen, ohne Hilfe oder Eingreifen von außen. Doch selbst angesichts all der Ereignisse ist kaum eine ernsthafte, rationale oder realitätsbezogene Aufarbeitung zu erkennen. Stattdessen werden die Gründe für Rückständigkeit und Verrohung chronisch woanders gesucht – entweder bei „den anderen“ (etwa bei dem Antichristen, ausländischen Mächten, Orientalisten etc.), die vor allem von politischen Islamisten behauptet, oder in den „eigenen Sünden und beim Satan“, was vorwiegend von Mystikern und Sufis hervorgehoben wird. Offenbar liegt es daran, dass das Leben meist durch heteronome (fremdbestimmte) Gebote und Verbote geregelt wird. Deshalb konzentriert man sich einerseits auf äußere Einflüsse und erklärt andererseits Katastrophen und Unterdrückung häufig mit den eigenen Sünden. Nur nicht diejenigen, die an der Macht sind, in Frage stellen – Schuld immer bei sich selbst suchen! Die „Rettung“ wird nicht in rationalen und realistischen Lösungen gesucht, die sich aus sozialen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten der Zeit ergeben würden, sondern in einem seit über 500 Jahren fortdauernden irrationalen und romantischen Reflex. Soll man über den Zeitverlust trauern oder über die endlose Schande einer uneinsichtigen Mentalität?
Die Debatten entwickeln sich in eine Richtung, in der der Glaube zu einer islamistischen, salafistischen oder politischen Ideologie wird und die – in vielen Punkten überholte und nicht erneuerte – islamische Normlehre grundsätzlich in Frage gestellt wird. Die Thematik ist umfangreich. Fast alle muslimischen Gruppen neigen gedanklich immer mehr zu einer islamistischen oder salafistischen Einstellung. Selbst kulturell geprägte Muslime oder Gegner des politischen Islams geben islamistengleich den politischen Strömungen oder anderen religiösen Bewegungen die Schuld – und blenden dabei die Probleme im eigenen Umfeld aus. Man wartet auf Wunder oder überlässt alles Gott und dem Jenseits. In einer Komfortzone, in der man nicht aus dem Schattendasein à la Platons Höhlengleichnis herauswill, erwartet man, dass die Sonne im Westen aufgeht. Immerhin häufen sich angeblich die Zeichen der Apokalypse(!). Analytisch und kritisch denkende, lösungsorientierte Menschen stehen unter massivem Druck durch die Traditionalisten, die über weite Teile der Gesellschaft Macht ausüben.
Viele konservative Meinungsführer und islamische Theologen vertreten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – pluralistisches und kritisches Denken, partizipative Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Menschenrechte weder redlich noch mit ausreichender Ernsthaftigkeit. Wenn sie dies tun, dann wirkt es oft strategisch und situationsbedingt. Wie bei vielem in der Region wird auch hier nur so getan „als ob“. Sie vertreten eine ausgrenzende (exklusivistische) Haltung, weil sie Wahrheit und Erlösung allein in ihrem eigenen religiösen oder ideologischen Fundament sehen und moderne Sozialwissenschaften von vornherein ablehnen.
Pluralismus durch den Perspektivenwandel
Auch wenn es wie eine Utopie erscheint, in einer Wüste aus Problemen eine Oase des liberalen und pluralistischen Denkens zu errichten – irgendwo muss man anfangen. Inmitten des Durcheinanders sollten daher folgende Fragen beantwortet werden: Wo stehe ich in diesen Debatten? Worin zeige ich meine reflektierte Positionierung und Pluralitätsfähigkeit? Welche Haltung nehme ich gegenüber gemeinsamen ethischen Werten ein? Wie sehr habe ich pluralistisches Denken verinnerlicht? Und wie kann ich es praktisch leben?
In den islamischen Quellen lässt sich durchaus ein gewisses Potenzial für ein freiheitliches, gemeinschaftliches Zusammenleben und pluralistisches Denken erkennen. Frühere, stellenweise vorhandene Beispiele im Schrifttum der Altvorderen und aus früheren monarchischen Gesellschaften könnten aktualisiert und in den Diskurs eingebracht werden. Fachleute könnten dies zumindest anhand wissenschaftlicher Methoden aufzeigen.
Nach Kant ist die Voraussetzung für pluralistisches Denken die Überwindung der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Das größte Hindernis ist dabei eine verzerrte Mentalität. Ein Wandel in der Denkweise und Perspektive ist also dringend notwendig. Auch der Weg zur Lösung theologischer und sozialer Probleme führt zumindest teilweise hierüber. Doch ohne Verinnerlichung kritischen Denkens lässt sich keine gesunde Diskussionskultur etablieren und auch kein pluralistisches Denken verankern.
In Wirklichkeit ist der Islam gar nicht so fremd gegenüber pluralistischem Denken, wie oft behauptet. Entscheidend ist, mutig festzulegen, welche Werte heute in den Vordergrund gestellt werden sollen. Wie in allen Religionen finden sich auch in islamischen Quellen genügend Materialien. Etwa folgende Verse aus dem Koran: „Euch euer Glaube und mir der meine.“ (109:6), „Es gibt keinen Zwang im Glauben.“ (2:256), „Wir haben zu jedem Volk einen Gesandten entsandt.“ (16:36). Ergänzt durch Hadithe wie: „Keiner von euch ist wahrhaft gläubig, solange er nicht auch für andere das wünscht, was er für sich selbst wünscht.“ (Bukhari, Muslim)
Auch weil die Beziehung zwischen Mensch und Schöpfer direkt und individuell ist, lassen sich im Glauben viele verschiedene Wahrheiten feststellen. Doch wenn – wie oft bei Islamisten – ein Wahrheitsmonopol propagiert wird und der Eindruck entsteht, der Koran oder der Islam müssten genau so verstanden werden, wie eine bestimmte Gruppe es vorgibt, dann wird der universelle Anspruch fraglich. In vielen Bereichen ist es nicht einmal innerhalb einer einzigen Gesellschaft möglich, sich auf eine „Wahrheit“ zu einigen – wie sollte das dann global funktionieren? Wenn es doch möglich wäre: Wie sollen dann ethnische, kulturelle, sprachliche und geografische Unterschiede erklärt werden, die gemäß islamischer Quellen ernst genommen werden sollten?
Zudem wird in den religiösen Quellen das Denken und die Würde des Menschen als hoher Wert beschrieben. Daraus lässt sich ein Islambild ableiten, das Frieden, Gerechtigkeit und Schönheit anstrebt. Dieses Bild könnte in einer heterogenen, diversen, multikulturellen Gesellschaft pluralistisches und positives Denken fördern. Schließlich war doch der von Yunus Emre, Mevlana Rumi und Hacı Bektasch Veli vertretene Sufismus durch Pluralismus und Humanismus geprägt, oder?
Pluralistisches Denken im Islam?
Selbst die Lesart und Vieldeutigkeit des Korans führen uns zum Pluralismus. Es existieren beispielsweise für den vierten Vers der ersten Sure verschiedene Textvarianten, die mit unterschiedlicher Häufigkeit verwendet werden. Hier geht es um das Wort mâliki“ (dem Herrn), das mit unterschiedlichen Lesarten diverse Bedeutungen haben kann: wie z.B. „mâliku“ (Er ist Herr), „mâlika“ (O Herr), „malika“ (O Fürst), maliki“ (dem Fürsten).
Daher beschreibt Thomas Bauer zu Recht den Koran so, dass er an vielen Stellen als „pluraler, nichtabgeschlossener, hypertextuell strukturierter nichtlinearer Text, dessen Bedeutungsgehalt nie ganz ausgeschöpft werden kann, sondern der von seinen Hörern und Lesern immer neue Textarbeit fordert […]“ gelte. Hypertextuell strukturiert ist hier auch die Texte wie Verse bzw. Suren, deren Auslegung ohne die vorhergehenden Suren nicht denkbar wäre. In nichtlinearen Texten wird die Information nicht in einem fortlaufenden Text vermittelt, während der lineare Text in der Regel „von oben nach unten“ zu lesen ist. Die Ambiguität des Korans, etwas bei den Begriffen wie „Dschihad“ oder „Fitna“, ist ein starker Ansatz gegen die islamistische Ideologie.
Schon diese wenigen Beispiele können erste Impulse für pluralistisches Denken liefern und fanatischen oder radikalen Tendenzen entgegenwirken. Nur mit einer produktiven, hoffnungsvollen und lösungsorientierten Haltung lassen sich destruktive, angstschürende Stimmen übertönen. Dabei entwickelt sich auch die Fähigkeit, unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen zu respektieren. Muslime brauchen heute mehr denn je eine solche Haltung, statt sich reflexartig und apologetisch zu verteidigen.
Trotz negativer historischer Erfahrungen lässt sich sagen, dass islamische Grundquellen in sich pluralistische, freiheitliche und liberale Ansätze für das „Andere“ enthalten. Doch die Umsetzung von Pluralismus in die Praxis liegt nicht im Interesse vieler muslimischer Gruppen. Denn Wahrheitsmonopole, Personenkult, das Selbstbild als einzigartig und elitär sowie der Zusammenhalt innerhalb von Gemeinden, Orden, Gruppen oder politischen Macht liefern strategischen Komfort. Dabei kann pluralistisches Denken nicht nur ein Gegengewicht zu Islamgegnern und islamistischem Radikalismus bilden, sondern auch ein entscheidender und friedlicher Beitrag der Muslime zum gesellschaftlichen Leben sein.
Die Fähigkeit zum pluralistischen Denken kann auch eine bedeutende Rolle dabei spielen, die endlosen Debatten über den Islam auf eine produktivere Ebene zu heben.