Die Lektüre des Buches „Wirbeltanz im Wartesaal der Ewigkeit – Im Dialog mit Rumi und der Sufi-Mystik“ von Michael Gmelch (echter 2024) erinnerte mich an das Denkmal mit zwei leeren Stühlen in Weimar. Ein Stuhl ist Goethe gewidmet, der andere Hafis, dem großen persischen Poeten. Denn Goethe, der fasziniert von orientalischer Dichtung war, führte mit Hafis, der etwa 400 Jahre vor ihm lebte, einen geistigen Dialog. Und nun sehe ich auf einem Stuhl Michael Gmelch sitzen und auf dem gegenüberstehenden Mevlana Rumi. Denn Gmelch zeigt sich in ähnlicher Weise mit Rumi verbunden und führt mit ihm einen mystischen Dialog in vielerlei Hinsicht.
Mit Sprüchen von Rumi wie „Zeige dich, wie du bist, oder sei, wie du dich zeigst“, „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ oder „Komm, komm, wer immer du bist.“ macht Gmelch Rumis Intentionen deutlich.
Der Autor begegnet den Sufis zum ersten Mal in Nürnberg. Dort hat er die ersten 20 Jahre seines Lebens verbracht und später als Seelsorger gearbeitet. Damals wusste er nach zwölf Jahren Studium an vier Universitäten im In- und Ausland zwar sehr viel von katholischer Theologie, aber von Rumi und dem Sufismus recht wenig.
Im Buch berichtet er über die Begegnungen und Erfahrungen mit dem Sufismus in Deutschland, Indien, Türkei, Usbekistan und Bulgarien. Dabei erklärt er, wie man gewohnte Grenzen zwischen Überzeugungen und Kulturen überschreiten und nach neuen Wegen auch im Sinne des Dialogs mit anderen Religionen sowie Weltanschauungen in diesem Jahrhundert suchen kann. Ihm zufolge ist Dialog ein Prozess, in dem man bereit sein soll, vom Gewohnten Abschied zu nehmen und in Neuland aufzubrechen. Denn man hat die Chance, dass „das Fremde eine Dynamik entfaltet, die einem etwas sagen, möglicherweise verändern und innerlich weiterbringen kann.” Denn „aus dem großen Schatz der Poesie christlicher und islamischer Mystik ergeben sich viele Parallelen in den Symbolen, Metaphern, Bildern und allegorischen Darstellungen. Das Bewusstsein für eine Verbundenheit der Mystiker über dogmatische Grenzen hinweg wächst und eröffnet Chancen für weiterführende Gesprächsmöglichkeiten.“ so Gmelch.
Der Begriff „Anders-Ort“ von Michel Foucault ist für Gmelch eine Schlüsselperspektive: „Eine Theologie, die sich am „Anders-Ort“ weiterentwickelt, braucht das Fremde und das unbekannte Gegenüber, um etwas Neues über ihre eigene, sich je und je neu konstituierende Identität zu erfahren. Das Fremde begegnet uns u.a. in einer anderen Kultur, Mentalität oder Religion oder auch an unserer „Peripherie“. Daher macht er die Zukunft der Theologie davon abhängig, ob sie eine kontextsensible, offene und selbstkritische Reflexion betreibt, die den Diskus prinzipiell nach außen hin offenhält.
Sufi-Bewegungen entwickelten sich im achten und neunten Jahrhundert im südwestlichen Zweistromland und bereiteten sich später schnell über den heutigen Irak, Iran, Arabien und Ägypten aus. Seither sind sie aus der gesamten islamischen Welt nicht mehr weg zu denken. In dieser Frühzeit des Islams konzentrieren sich die Mystiker auf die Askese, das Gebet und die Ethik. Sie verstanden sich als kritische Gegenbewegung zum steigenden Reichtum der Kalifen und der zunehmenden Diesseits-Bezogenheit, die mit der Ausdehnung des Reiches einhergingen.
Der Autor fast diese Entwicklung prägnant zusammen: „Die islamische Mystik etablierte sich, weil zahlreiche bedeutende Sufi-Theologen die theoretischen Grundlagen legten. Großartige literarische, vor allem poetische Werke auf Arabisch, Persisch, Türkisch und in verschiedenen südasiatischen Sprachen entstanden, die den gesamten Orient prägten. Anleihen und Einflüsse aus dem Gedankengut der spätantiken Philosophie, von Gnosis, Christentum, Manichäismus, Zoroastrismus, Neuplatonismus und Buddhismus sind offenbar.“
Das 13. Jahrhundert und grausame Machtkämpfe
Dem Autor ist es gelungen, die Entwicklungen multidimensional in theoretischer, praktischer, aber auch interreligiös und historisch vergleichender Hinsicht zu analysieren. So informiert das Buch zum Beispiel eingehend darüber, was in bestimmten christlichen und islamischen Kontexten im 13. Jahrhundert, einer Epoche mit grausamen Machtkämpfen, geschah. Dabei geht es dem Autor um eine ganzheitliche historische Betrachtung: Mongolensturm und Kreuzzüge mit ihren verheerenden Folgen in Anatolien und Bagdad auf der einen Seite, Reconquista in Andalusien und Inquisition auf der anderen.
In diesem Jahrhundert erlebten Europa und Zentralasien bis nach China eine Phase der beschleunigten Veränderung, die alle Lebensbereiche betraf. Die vielschichtigen Umbrüche und Destabilisierungen bestehender Ordnungen und die damit zusammenhängenden langfristigen Transformationsprozesse erzeugten große Identitäts- und Integrationskrisen. Durch unerträglich belastende Erfahrungen und traumatisierende Ereignisse entstanden Wunden und Risse im Leben. Unter diesen Umständen boten die sufistisch-mystischen Strukturen Zufluchtsorte oder „Anders-Orte“ für leidende Menschen.
Rumi ist es offensichtlich gelungen, eine starke Resilienz aufzubauen, die ihn aus vielen schlimmen Situationen gestärkt hervorgehen ließ. Im Buch wird von sechs Rissen erzählt, die er in seinem Leben erleben musste.
Die Sufi-Mystik: Dschelaleddin Rumi und Ibn Arabi
Die Sufi-Mystik und Mevlana Dschelaleddin Rumi (1207-1273), ihre Rituale und ihre Musik sind von besonderer Bedeutung.
Zunächst bietet der Autor eine tiefe Analyse zum Lebenslauf und zur Mystik von Rumi. Dabei geht er nach der Methode einer „soziopsychischen Tiefenanalyse“ vor. Zunächst berichtet der Autor detailliert über die damaligen gesellschaftlichen und historischen Zustände. Der 13jährige junge Mevlana musste mit seiner Familie vor dem Mongolen-Sturm in Khorasan nach Konya flüchten (1220), wo 30 Jahre zuvor ein Kreuzzug stattfand. Im Jahr 1243 wird die ganze Region von Mongolen geplündert und zerstört. Rumi erlebte in dieser Zeit mit seinen Zeitgenossen unfassbares Leiden und hob daher die Liebe zu Mensch und Gott hervor.
Gmelch sieht die sufistische Ausprägung des Islams mit ihren spezifischen spirituellen, künstlerischen, ästhetischen und sozialen Dimensionen in besonderer Weise dazu in der Lage, mit den Gläubigen anderer Religionen und der gegenwärtigen Gesellschaft in den Dialog zu gehen.
Die inhaltliche Nähe zwischen christlichen und sufistischen Musikern kann nach Gmelch dazu beitragen, Berührungsängste auf beiden Seiten zu reduzieren und zu dialogischen Begegnungen zu ermutigen. Zudem bedeutet Dialog für ihn „in gegenseitiger Verschränkung Argumente und Gegenargumente einzubringen und am Ende die gewonnenen Erkenntnisse weiterführend auf das Eigene zurückspielen. Es muss einen konstruktiven Output geben.“
In Andalusien konnte der Sufismus Aufklärung und Mystik miteinander verbinden. Grundlegende Erkenntnisquellen wie die traditionelle Lehre, die wissenschaftliche Vernunft und die mystische Eingebung fanden zusammen. Die berühmtesten Poeten in Andalusien waren zugleich große Sufimeister, wie zum Beispiel Ibn Arabi, der im andalusischen Murcia geboren wurde. Um das Jahr 1200 verließ er seine Heimat für immer und lebte in mehreren muslimischen Ortschaften. Rumi wurde ab dem Jahr 1233 sieben Jahre (für einige Historiker 4 Jahre) in Damaskus sein Schüler, wo er mit dem vergleichbar freien Geist von al-Andalus und dessen kulturellen Anleihen aus dem Christentum und Judentum konfrontiert wurde. Aus der Erfahrung einer da und dort praktizierten friedlichen Koexistenz der Religionen und Ethnien schrieb Ibn Arabi folgendes Gedicht: „Mein Herz hat angenommen jegliche Gestalt: für die Gazellen Weideplatz, für Mönche Kloster, den Götzen Tempelbau, dem Pilgerkreis die Kaaba, Schriftrollen für die Thora, Seiten für den Koran. Wo die Karawane auch hinziehen mag, ist Liebe meine Religion.“
Sufismus: Suche nach Gotteserkenntnis und Liebe
Die einzige Motivation der Sufis ist die Essenz der göttlichen Wahrheit zu entdecken. Rumi bringt zusammenfassend auf den Punkt, worum es der Sufi-Mystik geht: um eine innere Gotteserkenntnis, die die Grenzen der rationalen Vernunft hinter sich lässt.
Für Rumi ist Gott in allen Dingen gegenwärtig. Umgekehrt befinden sich alle Dinge in ihrer Gesamtheit in Gott. Es gibt keine Zustände, die nicht miteinander korrelieren. Alles steht mit allem in Beziehung. Rumi vertritt daher eine holistische Weltsicht, ein metaphysisches Einheitskonzept: „Mein Raum ist raumlos, mein Zeichen die Zeichenlosigkeit, ist weder Körper noch Seele, ich bin nur ein Teil von Seinem Licht. Die Zweiheit habe ich verworfen, ich sah in beiden Welten Eines. Einen such’ ich, Einen ruf ich, Einen kenn’ ich, Einen nenn’ ich. Wenn in meinem Leben nur ein Hauch ohne Dich vergeht. Ab diesem Tag und dieser Stunde, für dieses Leben schäm’ ich mich.“
Auf diesem Weg sollte die Liebe „die Herzen der Menschen im Sinne einer reflektierten Innerlichkeit erreichen und ihr Handeln transformieren“. Bei Rumi ist die Liebe ein zentrales Thema. Er sagt: „Bevor der Verstand sich entschließt, einen Schritt zu tun, hat die Liebe den siebten Himmel erreicht.“ und „Der Mensch findet nicht zu Gott, indem er nur über Gesagtes nachdenkt. Er muss dem Herzen den Vorzug geben vor dem Verstand.“ In dem Buch wird das Verhältnis zwischen Vernunft und Mystik ausführlich thematisiert.
Metapher und Humor im Sufismus
Die sufistischen Erfahrungen werden oft durch Metaphern wie u.a. Walnuss, Fisch, Ozean, und Vogel anschaulich und begreiflich gemacht. Bei der Metapher der Walnuss bezeichnet die Schale die äußeren Formen, Dogmen, Gesetze und Gebote, die das Innere der Nuss beschützen. Wer nur an der äußeren Schicht anhaftet und nicht zum Kern vordringt, verfehlt das Ziel. Also bei Rumi zählt die Essenz: „Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn.“ und „Du bist kein Tropfen im Ozean, du bist ein gesamter Ozean in einem Tropfen.“
Coleman Barks erläutert zwei Gründe für die Beliebtheit Rumis: „Der Sinn für Humor in Rumis Poesie inspiriert die Leute.“ und „Die Leute suchen nach etwas, das wahrhaft menschlich ist.“ Nach Gmelch kann Religion ohne Humor auch gefährlich werden:
„Rumi war ein Meister einer sowohl geerdeten wie gottbezogenen und zugleich humorvollen Mystik: hoch charismatisch, innerlich frei und nicht gebunden an eine rigide Tradition. Als wirkmächtiges Antidot gegen orthodoxen Rigorismus, Buchstaben-Dogmatik und fanatische Militanz wird er von dessen Vertretern vehement abgelehnt.
Die Sufi-Mystik und Musik
In seinem Buch berichtet Gmelch nicht nur von den technischen Anlagen von Musik, sondern auch ausführlich von spezifischen Klangstrukturen, Tonarten und Instrumenten.
Die perfekte Verschmelzung von Text, Rhythmus und Gesang ruft bei den Zuhörern ekstatische Zustände hervor. Dabei loben die Sänger Gott, den Propheten und die Liebe zu Gott. Und die Zuhörer empfinden tiefen Frieden, Trost und innere Erleichterung dabei.
Durch die Sufi-Musik könne man die Vorurteile und Grenzen der gesellschaftlichen Schichten überwinden und die Grenze zwischen Schöpfer und Schöpfung überschreiten. Dank ihrer klingenden Spiritualität findet sie selbst unter jenen westlichen Gästen begeisterte Zuhörer, die sich als säkulare Agnostiker betrachten.
In der Sprache der Musik sei die Welt wie ein gewaltiges, kosmisches Konzert, das vielstimmig komponiert ist. Die Bedeutung der Musik bei Derwischen wird vom Autor so zusammengefast: „Der Einsatz von Musik als Therapie war den islamischen Ärzten des Mittelalters vertraut. Rumi beschreibt die Liebe als ein Haus, in dem stets die Stimme von Harfe und Laute ertönt und dessen Fenster und Dach ganz aus Liedern und Gesang bestehen. Musik ist nicht nur ein kulturell ästhetisches Produkt der Kunst, sondern sie findet sich für die Mystiker überall: im eigenen Körper, in den Sphären des Weltalls und auch in der Natur. Im Fließen des Wassers, im Rauschen des Windes, im Zwitschern der Vögel, in den Wellen des Ozeans oder im Klopfen von Regentropfen. Musik durchdringt die gesamte Schöpfung Gottes. Sie drückt große Gefühle der Menschen aus wie Freude und Trauer, Schmerzen, Verlust und Glück.“
Rumi preist die Ney-Flöte, weil sie die menschliche Seele zum göttlichen Prinzip der Liebe erhebt. Sufismus ist ohne sie undenkbar. Sie klingt gefühlvoll, erzeugt eine meditative Stimmung und eine respektvolle religiöse Haltung.
Gmelch stellt die Ney-Philosophie von Rumi sehr detailliert dar: “Hör auf der Flöte Rohr, was es verkündet, hör wie es klagt, von Sehnsuchtsschmerz entzündet.“ Es erzählt die Geschichte einer Trennung. So wie die Ney aus dem Schilf geschnitten wurde, so wurde auch der Mensch aus seiner ursprünglichen Einheit mit Gott ins irdische Leben, gleichsam wie in ein Exil gerissen, in ein verlorenes Paradies. Jenseits von Eden geht es seither um Liebe und Sehnsucht, Klage und Traum, Verlust und Tröstung. Dafür steht wie kein anderes Instrument die Flöte. Schon im klassischen Altertum war das Klagen der phrygischen Flöte berühmt. Ihre Wurzeln reichen zurück bis zum antiken Mythos des Hirtengottes Pan.“
Sufi-Gemeinden und die politische Autorität
Der Autor behauptet zu Recht, dass Sufis seit Jahren ins Visier salafistisch-dschihadistischer Organisationen geraten. „Dies geschieht besonders in Pakistan, Iran, in Ägypten, Mali und Somalia sowie im wahabitisch geprägten Saudi-Arabien. Dort wird die Unterwerfung unter die Obrigkeit gefordert und die Religion zum politischen Machterhalt instrumentalisiert.“ Wenn aber eine Sufi-Gemeinde in den jeweiligen Ländern ihre Loyalität gegenüber den Machthabern zeigt, entsteht eine Win-win-Situation wie in der Türkei.
„Religiöse, militärstrategische, ökonomische und politische Interessen verschränkten sich ineinander mit dem Ziel, den eigenen Einflussbereich zu vergrößern oder zu festigen. Zur Legitimierung beanspruchten die weltlichen wie religiösen Akteure die Autorität Gottes. Damit wurde das jeweilige Handeln als etwas Sakrales deklariert, das sich grundsätzlich gegen Kritik Andersdenkender oder Andersgläubiger immunisierte. „Gott will es.“ So lautete nicht nur das Motto des ersten Kreuzzuges. Später kam „Christus befiehlt! Christus siegt!“ dazu und für die Muslime “In scha a’llah”, so Gmelch.
Fazit
Durch Dialog kann man die Last der Geschichte und die Grenzen zwischen den Religionen überwinden. Der Autor unterstreicht dies anhand mehrerer Beispiele in verständlicher Sprache. Er hat sich selbst an vielen „Anders-Orte“ begeben und seine Leserinnen und Leser auf eine literarische Reise mit vielen Reflexionen und Hintergrundinformationen mitgenommen. Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Weltanschauungen können voneinander viel lernen. Aber wie? Ohne ein Grenzgänger zu sein, wäre es nicht möglich. Wenn man sich bereichern und verändern möchte, muss man sich aus der eigenen Komfortzone heraus trauen und etwaige psychische Schwellenängste überwinden.
Als Perspektive ergibt sich für Gmelch im Anschluß an eine zentrale Signatur der Postmoderne das Motto: „Spirituell, aber nicht religiös und nicht säkular“. Er führt die Spiritualität der Mystik als ein chancenreiches Begegnungsfeld vor Augen, um Menschen einer anderen Religion tiefer zu verstehen und einen Ausgang aus der Sackgasse zu finden, in der sich Religionen gerade befinden.
Aber der erste Schritt in diese Richtung besteht darin, dass man Lust und Mut hat, sich auf einen der gegenüberstehenden Stühle zu setzen und aufrichtige Gespräche mit dem Gegenüber zu führen. Es muss doch auch heute für jeden von uns möglich sein, wenn es Goethe mit Hafis und Gmelch mit Rumi trotz der großen Zeitspanne von Jahrhunderten geschafft haben.
Muhammet Mertek