Im Leben braucht der Mensch bestimmte Kompetenzen, die nicht leicht zu erlangen sind. Eine der wertvollsten unter ihnen ist das selbstbestimmte und reflektierte Denken und Handeln. Doch wie gelingt der reflektierte Umgang mit Normen und Werten, insbesondere jenen, die traditionell vorgegeben sind und in die man hineinwächst?
Mein Anliegen ist es, auf ein Phänomen aufmerksam zu machen, das sich im muslimischen Kontext beobachten lässt: Einige Muslime betonen zwar ihre religiöse Identität und treten nach außen hin als fromm auf, können jedoch gleichzeitig in ethischer Hinsicht ein fragwürdiges oder widersprüchliches Verhalten an den Tag legen, das im Gegensatz zu den Werten steht, die sie oft apologetisch hervorheben. Natürlich ist ein solches Verhalten nicht ausschließlich auf Muslime beschränkt – ähnliche Tendenzen lassen sich gewiss auch in anderen gesellschaftlichen Gruppen oder religiösen Gemeinschaften finden. Aber da ich es im islamischen Kontext immer wieder beobachte, möchte ich mich in diesem Beitrag speziell auf dieses Umfeld konzentrieren und es u.a. anhand konkreter Beispiele und Begriffe näher beleuchten.Seit geraumer Zeit habe ich mich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, was ein kritisch reflektiertes Handeln bedeutet und ermöglicht. Mein Wunsch ist es zu zeigen, wie durch Selbstbestimmung ein Weg zu Selbstwertgefühl sowie zu reflektiertem Denken und Handeln gefunden werden kann.
Gläubig sein und Diebstahl begehen können?
Als erstes Beispiel möchte ich das Verhalten im Geschäftsleben anführen. Hier ist zu beobachten, dass manche Muslime, die großen Wert auf religiöse Rituale legen, sich zugleich in ihrem Geschäftsgebaren nicht immer ehrlich verhalten, d.h. zum Teil betrügen und täuschen. Für manche gilt: der Zweck heiligt die Mittel. Das Sprichwort erinnert mich an eine Begegnung mit einem Freund, der mir von einem Professor erzählte. Dieser war ein anerkannter Akademiker und Schriftsteller. Zudem war er ein gläubiger Muslim mit großem missionarischem Eifer in seiner Arbeit. Jahrelang war er Chefredakteur einer türkischen Zeitschrift, die sich mit Wissenschaft, Religion und Kultur befasste. Das zentrale Merkmal dieser Zeitschrift war es, den Schöpfer und alles als heilig Angesehene durch verschiedene Botschaften in den Vordergrund zu rücken. Der Professor vertrat die Ansicht, dass es im Universum keinen Platz für Zufall gibt und dass hinter allem und jedem Ereignis eine tiefere Weisheit steckt. Sein Hauptziel war es, dass Muslime diese Weisheiten erkennen, ihren islamischen Glauben stärken und ihre Gottesverehrung vertiefen.
Vor vielen Jahren besuchte mein Freund mit diesem Professor die Frankfurter Buchmesse und erlebte dort einen Vorfall, der für ihn bis dahin unvorstellbar war. Der Professor, der sein Leben der Erforschung der göttlichen Weisheiten im Universum gewidmet hatte und über tiefes Wissen verfügte, stand mit ihm an der Registrierungsstelle um Eintrittskarten zu erhalten. Der Professor und sein Freund zeigten ihre Presseausweise, um kostenlosen Zugang zu erhalten. Die Mitarbeiterin drehte sich um und ging ein paar Schritte weg, um die erforderlichen Formalitäten zu erledigen. Genau in diesem Moment griff der Professor blitzschnell auf den Tisch vor sich und nahm im Bruchteil einer Sekunde ein ganzes Bündel Eintrittskarten – etwa 20 bis 25 Stück. Fassungslos fragte mein Freund: „Was hast du getan?“ Doch der Professor schien sich nicht weiter darum zu kümmern und antwortete gelassen: „Die geben wir unseren Freunden aus der Türkei!“ Mein Freund war sprachlos. Das war nichts anderes als Diebstahl. Doch was ihn noch mehr beschäftigte, war die folgende Frage: Wie konnte ein Mensch, der sich jahrzehntelang mit allen Werten des Islams, mit den weisen Worten des Korans und des Propheten Muhammad auseinandergesetzt hatte, keine ethische Haltung entwickeln, die ihn von diesem Diebstahl abhielt? War entgegen der propagierten Werte etwa jedes Mittel erlaubt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen? Warum hatte hier die „Gottesfurcht“ keine Rolle gespielt? Und noch erstaunlicher: Wie konnte ein Professor mit wissenschaftlichem Hintergrund überhaupt eine solche Tat begehen?
Für mich ist dieser Diebstahl ein Beispiel dafür, dass fremdbestimmte Normen allein nicht ausreichen, um allgemeingültige Werte in konkretes Handeln zu überführen. Zu wissen, dass Diebstahl unethisch ist, und den Drang zur Ehrlichkeit zu verspüren, genügt nicht, um tatsächlich moralisch handeln zu können. Werte und Normen können nur dann wirklich verinnerlicht und ins Leben integriert werden, wenn die Person sie in einem bewussten, reflektierenden Prozess selbst erarbeitet hat. Hätte der Professor die ethischen Prinzipien durch selbstkritische Reflexion geprüft und anschließend internalisiert, würde er sich möglicherweise nicht zu einer solchen Handlung hinreißen lassen. Andernfalls predigt man Wasser und trinkt selbst Wein.
Einerseits verwenden einige Muslime ständig religiöse Argumente in allen Bereichen und bringen jede Angelegenheit mit dem Islam in Verbindung oder versuchen ständig, sie mit religiösen Interpretationen zu erklären. Andererseits verteidigen dieselben Personen die demokratischen Grundwerte nicht aus innerer Überzeugung. Zudem gehen sie mit Begriffen wie Rechtsstaat, Menschenrechte, pluralistisches Denken, humanistische Ethik allenfalls strategisch, in Form reiner Lippenbekenntnisse, um. Wie kommt es dazu?
Viele Muslime handeln fremdbestimmt und übernehmen so Normen und Werte, die von den Quellen wie dem Koran, den Hadithen oder Autoritäten wie berühmten Gelehrten vorgegeben werden. In diesem Zustand fehlt es jedoch an eigenständigem Denken und man verharrt in einer passiven Haltung, ohne seine Überzeugungen zu hinterfragen. Dabei handelt es sich um einen normativen Konformismus. Es gibt darin nur einen beschränkten Rahmen an Freiheit, der eine eigenständige Reflexion über das Verhalten und die Entscheidungen nicht ermöglicht. Durch die Fremdbestimmung wird der Glaube an Gott zwar immer fester, jedoch bleibt die eigene Vernunft weniger frei und autonom. Zudem fehlt es auch an einem Bewusstsein für Selbstverantwortung.
Für viele Muslime -wahrscheinlich für Gläubige im Allgemeinen- sind Regeln und Werte leichter anzunehmen, wenn sie mit heiligen Quellen begründet werden. In einer Art moralischer und theologischer Komfortzone stellen sie für die Gläubigen einen sinnstiftenden Charakter dar. Das führt aber nicht dazu, dass gegebene Normen und Werte stets reflektiert wahrgenommen und praktiziert werden. Die fehlende Reflexion über die Werte des eigenen Glaubens kann eine Hürde zur Entfaltung einer inneren Weisheit sein. Es fehlt dann die Fähigkeit zu einer tieferen Reflexion über den eigenen Glauben und das eigene Sein.
Von Fremdbestimmung und Fremdwertgefühl zu Selbstbestimmung
Es ist unabdingbar, dass auch Muslime ein selbstbestimmtes, reflektiertes Denken in ihrem Kontext entwickeln, das dann auch zu einem bewussten, selbstbestimmten und schließlich reflektierten Handeln führen kann. Dieser Prozess ist eine geistige Reise, die durch verschiedene Hindernisse – insbesondere durch das Überwinden der Schwelle von Fremdbestimmung und Fremdwertgefühl – geprägt ist. Ich betrachte diesen Weg als einen Pfad zu geistiger Reife und tiefer Erkenntnis. Im islamischen Kontext wird dieses Ziel auch als „insan-ı kamil“ genannt – der gereifte Mensch.
Diesen Weg und seine Komponenten möchte ich anhand der folgenden Grafik veranschaulichen:
Die Bewusstseinsschwelle trennt den Bereich der Fremdbestimmung von der Selbstbestimmung und muss überwunden werden, um einen Bewusstseinswandel zu erreichen (s. die rote Linie). Dieser innere Sprung entsteht durch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit theologischen und normativen Inhalten, die aus einer neuen distanzierten und reflektierten Perspektive geschieht (s. den gebogenen Pfeil). Erst dieser qualitative Wandel im Denken ermöglicht es, sich differenziert mit der überkommenen Tradition auseinanderzusetzen und eine eigenständige Haltung zu entwickeln.
Jeder Mensch befindet sich in seiner individuellen Position innerhalb dieses Entwicklungsprozesses. Einige Menschen verharren in der Fremdbestimmung, andere haben bereits begonnen, sich der Selbstbestimmung zu nähern. Erst wer den Bewusstseinssprung vollzieht, kann einen wirklichen Perspektivenwechsel vollziehen und über die Fremdbestimmung hinaus nachdenken. Eine solche Person erkennt die ethischen Anforderungen nicht bloß von außen, sondern beginnt, sie aus innerer Überzeugung heraus zu leben. Die Reflexion über Werte wird zum Bestandteil des eigenen Selbst (s. den gestrichelten Pfeil). Viele Muslime, die dies nicht verwirklichen, begnügen sich damit, nur im Bereich der Fremdbestimmung zu bleiben.
Wer diese Schwelle der Fremdbestimmung überwindet, wird fähig selbstbestimmt zu denken und zu handeln. In diesem Prozess dominieren Achtsamkeit, Reflexion, Selbstbewusstsein und ein starkes Selbstwertgefühl. Achtsamkeit ist eine essenzielle Voraussetzung für die geistige Reife, da sie eine klare und mitfühlende Sicht auf die Welt und die eigenen Emotionen und Gedankenmuster ermöglicht. Denn das Geistige umfasst die Gesamtheit der mentalen Fähigkeiten. Dabei ist der Verstand der Teilbereich des Geistes, der in der Lage ist, rational und logisch zu denken sowie bewusst zu verstehen. Reflexion ist ein Denkprozess, bei dem man über eigene Gedanken, Handlungen oder Konzepte reflektiert. So kann man seine Gedanken und Gefühle hinterfragen und ein tieferes Verständnis seiner selbst erlangen. Das Individuum übernimmt Verantwortung für seine Urteile und sein Handeln. Es beginnt, Normen und Werte im Lichte eigener Erkenntnisse zu bewerten. Wer diesen Weg weitergeht, nähert sich dem reflektierten Denken und Handeln, das höchste Ideal im Zentrum der Grafik. Dank Achtsamkeit und Reflexion entsteht ein Selbstwertgefühl, das aus der Abhängigkeit vom Fremdwertgefühl befreit.
Zusammenhang zwischen Fremdwertgefühl und Minderwertigkeitsgefühl
Wenn jemand dauerhaft fremdbestimmt lebt, dann verlernt er, auf die eigene innere Stimme zu hören. Er legt lieber Wert auf die äußeren Autoritäten oder einfache Phrasen aus dem Koran und den Hadithen. Er definiert seinen Selbstwert danach, wie gut er den Normen und Werten nacheifert. Fremdbestimmt zu leben schafft also eine Abhängigkeit von äußeren Bewertungen. Dies führt zu einem Fremdwertgefühl, das besonders von der Außenwelt bestimmt wird und das Selbstwertgefühl schwächt.
Eine muslimische Schülerin wächst z.B. in einer frommen Familie auf. Ihre Eltern bestehen darauf, dass sie das Kopftuch trägt, regelmäßig betet und bestimmte soziale Kontakte meidet. Diese Erwartungen erfüllt sie nicht aus freier Entscheidung, sondern aus Pflichtgefühl gegenüber der Familie und Angst vor sozialer Ächtung. Obwohl sie selbst gläubig ist, fühlt sie sich nicht frei. Sie praktiziert vieles nur aus Druck und Angst vor familiärer und gemeinschaftlicher Ablehnung.
Wenn religiöse Gebote fremdbestimmt auferlegt werden, ohne Raum für Reflexion, Achtsamkeit und persönliche Annahme, dann verlieren Gebote und Normen ihren inneren Wert. Es entsteht ein Fremdwertgefühl, weil der persönliche „Wert vor Gott“ nicht mehr erfahrbar ist, sondern die eigene Identität durch Urteile und Werte der Familie oder Gemeinschaft bestimmt wird.
Zwischen Selbstwertgefühl und Minderwertigkeitsgefühl gibt es einen engen Zusammenhang. Oft entsteht ein Minderwertigkeitsgefühl durch ein zu ausgeprägtes Fremdwertgefühl. Wenn Menschen ihren Wert hauptsächlich durch die Meinung und Anerkennung anderer bestimmen, schwächt dies das Selbstwertgefühl und macht die Betreffenden anfällig für Kritik und Ablehnung. Das ständige Bedürfnis nach äußerer Bestätigung und Anerkennung verhindert die eigene Meinungsbildung, deren Fehlen zu einer inneren Unsicherheit führt. Und ist auch somit das Tor zur Heuchelei. Um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, ist es wichtig, die Balance zwischen innerer Selbstakzeptanz und dem Bedürfnis nach äußerer Anerkennung zu finden. Dies trägt entscheidend dazu bei, die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen und sich auf die eigenen Werte und Stärken zu konzentrieren. So tritt auch ein Zustand geistiger Reife und Mündigkeit ein.
Letztlich wird reflektiertes Denken und Handeln nicht allein durch Bildung oder Alter erreicht. Vielmehr handelt es sich um ein bewusstes, inneres Wachstum. Dies kann durch unterschiedliche spirituelle Methoden gefördert werden, die zu innerer Klarheit und Erkenntnis führen. Durch diese Erkenntnisse und Erfahrungen wird ein reflektiertes Denken und Handeln ermöglicht. Dadurch wird auch der Unterschied zwischen fremdbestimmtem Denken und eigenen Positionen erkennbar. Doch dieser Weg erfordert Mut, Selbstreflexion und die Bereitschaft, gewohnte Denkmuster hinter sich zu lassen.
Erst dann können Muslime viele Probleme in theologisch-ethischer, philosophischer und politisch-gesellschaftlicher Hinsicht lösen. Sie können ihren Blick verstärkt nach innen richten und so ihren inneren, spirituellen Wandel vorantreiben. Besonders im Bereich der Kindererziehung kann eine reflektierte Auffassung bahnbrechend sein. Denn Muslime würden sich nicht nur auf die äußere Identität, sondern auch auf die Charakterschulung und Werteerziehung ihrer Kinder fokussieren. So können sich Muslime über ihre Religion hinaus z.B. intensiver mit wissenschaftlicher Forschung, Kunst, Philosophie und Pädagogik beschäftigen, um sich geistig und kulturell breiter entfalten zu können. (Unabdingbar ist zudem eine Auseinandersetzung mit islamischer Geschichte und islamischen Hauptquellen, da man sie bis jetzt oft sehr anachronistisch und einseitig ausgelegt hat.)
Erst ein solcher geistiger Reifungs- und Befreiungsprozess führt zu einem erfüllteren Leben. Denn er ermöglicht dem Menschen, kluge Entscheidungen zu treffen und aus seinen Erfahrungen zu lernen. Für einen reflektierten Umgang mit sich selbst, dem eigenen Leben, fremdbestimmten Normen und Werten sowie mit Mitmenschen und der Natur braucht es die Fähigkeit zu selbstkritischer Reflexion und die Entwicklung eines autonomes Selbstbewusstsein.
Dieser Weg ist ein lebenslanger Prozess – und jeder Schritt zählt!