Viele zentrale Begriffe der islamischen Denktradition sind in ihrem historischen Kontext entstanden und trugen ursprünglich dynamische Bedeutungen, die das Leben der ersten Adressaten prägten. Im Koran und in den Hadithen des Propheten Muhammad wurden sie lebendig und funktional gebraucht. In der frühen islamischen Gemeinschaft stärkten sie nicht nur die individuelle Religiosität, sondern spielten auch eine zentrale Rolle bei der Ordnung des gesellschaftlichen Lebens.
Mit der Ausbreitung des Islams in unterschiedliche Regionen setzten jedoch neue politische und soziale Entwicklungen ein. Damit verband sich eine Umgestaltung der Bedeutungswelt vieler Begriffe durch Machthaber und ihnen nahestehende Gelehrte. Begriffe wie ümmî (analphabetisch), Dschahiliyya, ulü’l-amr (die Obrigkeit), Dschihad, fitna (Zwietracht), himar (Kopfbedeckung), huri (Paradiesjungfrau), iman (Glaube), taqwa (Frömmigkeit), Schura, Islam, Sunna, bid’a (Neuerung), dhikr (Gedenken) u. v. m. erfuhren dabei Bedeutungsverengungen, -erweiterungen oder sogar völlige Umdeutungen. Begriffe wurden somit nicht nur religiöse Ausdrucksmittel, sondern auch Spiegelungen von Machtverhältnissen, politischen Strategien und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen.
Von diesem Befund ausgehend nimmt der Aufsatz den Begriff ümmî in den Blick: Zunächst seine Bedeutung zur Zeit des Propheten, anschließend seine Umformungen in späteren Epochen unter dem Einfluss von politischer Autorität und Gelehrten. So lässt sich zeigen, wie sich an der begriffsgeschichtlichen Entwicklung des ümmî nicht nur religiöses Denken, sondern auch gesellschaftliche und politische Prozesse ablesen lassen.
Bedeutungsveränderung des Wortes ümmî
Das Wort ümmî teilt lexikalisch die Wurzel mit umma (Gemeinschaft) und bedeutet u. a. „ein Mensch ohne schulische Bildung“, „ein Angehöriger der arabischen Umma“, „ein Nicht-Zugehöriger zum Volk der Schrift“ oder „ein Mekkaner“. (Raġib al-Iṣfahânî, Mufradāt alfāẓ al-Qurʾān, 85–88).
Die Erklärung, ümmî gehe auf umm (Mutter, Ursprung, Grundlage) zurück und bezeichne „jemanden, der so ist, wie er von der Mutter geboren wurde, also ohne Schriftkenntnis“, wurde erst nachträglich eingeführt. Die Deutung „des Lesens und Schreibens unkundig“ (analphabetisch) findet sich erstmals bei az-Zaccac (gest. 922). Spätere Lexikographen, darunter Ibn Manẓur (gest. 1311), übernahmen diese Lesart in ihre Wörterbücher. (Muhammad ʿÂbid al-Dschâbirî, Einführung in den Koran, S. 137).
Obwohl diese Interpretation nicht mit den koranischen Verwendungen übereinstimmt, versuchten spätere Gelehrte, sie zu stützen, indem sie Verse wie 6:92 oder 43:4 etymologisch auf umm zurückführten. Schon ein Jahrhundert zuvor hatte jedoch al-Farrâʾ (gest. 822) das Wort von umma abgeleitet und es als „eine Person oder Gemeinschaft, der keine Heilige Schrift gegeben wurde“ erklärt. (al-Dschâbirî, Einführung in den Koran, S. 141). Auch Ibn Abbas deutete es entsprechend. (Fahraddîn ar-Râzî, at-Tafsîr al-kabîr, 10/538; aṭ-Ṭabarî, Tafsîr, 1/374).
Damit verschob sich die Bedeutungsentwicklung: Ausgehend von der Rolle der Adressaten der Offenbarung rückte zunehmend die Frage individueller Schriftkundigkeit in den Vordergrund. Besonders nach az-Zaccac wurde diese Deutung auch theologisch aufgeladen: Die Darstellung Muhammads als „analphabetisch“ sollte die Göttlichkeit des Korans unterstreichen. In der klassischen Literatur setzte sich diese Auffassung durch und prägte Exegese, Biographik und Theologie. So wurde ümmî schließlich zu einer Kategorie, die die Persönlichkeit des Propheten über ein vermeintliches Defizit definierte.
Was bedeutete ümmî in der vorislamischen Zeit?
Die arabischen Polytheisten bezeichneten sich selbst im Unterschied zu Juden und Christen als „wir sind ein ümmî-Volk“, womit gemeint war: eine Gemeinschaft ohne Offenbarungsschrift, die nach eigenen Überlieferungen lebte. Gemeint war also eine religiöse Klassifizierung, nicht individuelle Alphabetisierung.
Auch Ibn Abbas erklärt ümmî mit „Araber, die nicht zum Volk der Schrift gehören“. Diese Deutung wird durch vorislamische Poesie gestützt. So sagt Zuhayr b. Abî Sullmâ: „Wa-mâ shahida-t-tawrâta minnâ ümmî“ (Kein ümmî von uns hat die Thora gesehen) – gemeint ist: sie hatten keine Schrift. Ebenso Umayya b. Abi ṣ-Ṣalt: „Naḥnu ümmiyyûna, lâ kitâba lanâ“ (Wir sind ümmî, wir haben keine Schrift). (vgl. Abû l-Faradsch al-Iṣfahânî, Kitâb al-Aġânî, S. 176; E. Power, Umayya Ibn Abî Ṣalt, S. 212).
In einer Kultur, die vor allem mündlich geprägt war, spielte Alphabetisierung keine identitätsstiftende Rolle. Ümmîbedeutete daher „gemeinschaftlich ohne Schrift“, ein Ausdruck für Zugehörigkeit, kulturelle Abgrenzung und religiöse Differenz. Die spätere Deutung als „analphabetisch“ ist somit eine theologische Neuprojektion – weniger historische Realität als Konstruktion im Dienst der Glaubenssystematik.
Gründe für die Bedeutungsverschiebung
Dass ümmî in der klassischen Literatur mit „analphabetisch“ gleichgesetzt wurde, entsprang weniger dem ursprünglichen Kontext, sondern apologetischen Bedürfnissen. Ursprünglich meinte der Begriff – auch in jüdisch-christlicher Tradition – „nicht zum Volk der Schrift gehörend“.
Die wichtigsten Gründe für die Umdeutung:
- Absicherung der Eigenständigkeit des Korans gegenüber anderen Offenbarungsschriften.
- Abwehr des Vorwurfs, Muhammad habe jüdische oder christliche Schriften als Quelle genutzt.
- Symbolische Aufwertung: Ein Prophet aus einem „schriftfernen Volk“, der selbst nicht lesen konnte, erschien glaubwürdiger und näher am Volk.
- Autoritätsglaube: Die Deutung az-Zaccacs wurde von späteren Gelehrten vielfach unkritisch übernommen.
Diese Bedeutungsverschiebung war somit weniger Ausdruck historischer Wahrheit, sondern Ergebnis von Glaubensverteidigung und Legitimationsstrategien.
Die Entwicklung des Begriffs ümmî zeigt, wie stark sprachliche Bedeutungen durch historische, politische und theologische Kontexte geprägt sind. Aus einer kollektiven Selbstbezeichnung (gemeinschaftlich ohne Schrift) wurde eine individuelle Zuschreibung (analphabetisch), die vor allem apologetischen Zwecken diente. Damit wird sichtbar, wie sich Begriffe im Laufe der islamischen Geistesgeschichte nicht nur veränderten, sondern häufig weit von ihrem ursprünglichen Sinn entfernt wurden.