Im Türkischen gibt es ein Sprichwort: Wer die Wahrheit spricht, wird aus neun Dörfern vertrieben. Es wird verwendet, um zu beschreiben, dass Menschen sich unbeliebt machen, wenn sie die Wahrheit sagen, also auch berechtigte Kritik üben. Kritik ist nun mal so eine Sache. Sie ist unbequem und stört die Menschen in ihrer Komfortzone. Bei Ereignissen, die hinterfragt oder kritisiert werden müssen, kann es allerdings auch passieren, dass Menschen ignorieren, was vor sich geht, indem sie sich der vorherrschenden Meinung des sozialen Umfelds anpassen, oder dass sie schweigen und sich aus Naivität selbst betrügen. Man kann hier auf bessere Zeiten warten, indem man Konflikte vermeidet und sich an den Rand des sozialen Umfelds zurückzieht, oder man wählt die schwierige Variante und kritisiert mutig Missstände im Sinne der kollektiven und gewissenhaften Verantwortung.
Ich möchte vorausschicken, dass es mir in diesem Artikel darum geht, eine weit verbreitete, aber ziemlich verzerrte Wahrnehmung von Kritik in religiös-konservativen muslimischen Communities zu untersuchen. Es gibt bei vielen dieser Gruppen fest in der jeweiligen Mentalität verankerte Mechanismen, wodurch z.B. Kritik von innen auf die ein oder andere Weise unterdrückt wird. In einem Umfeld, in dem Kritik und freies Denken unerwünscht sind, muss man jedoch damit rechnen, dass dies die Kritikübenden ebenso trifft. Doch wenn man neugierig ist, sich informieren will, aufgeschlossen ist, nach Gründen u.a. für gesellschaftspolitische Fehlentwicklungen sucht und dazu neigt, sich durch das Überprüfen verschiedener Standpunkte eine eigene Meinung zu bilden, kann man bedenkenlos zurecht Kritik üben können, was in diesem Milieu generell nicht selbstverständlich ist.
Doch was soll in diesem Fall die Kritik und Hinterfragung bezwecken? Zusammengefasst dienen sie dazu, bestimmte Themen besser zu verstehen, sie an ihren richtigen Platz zu verorten, einen Beitrag zum islamischen Denken zu leisten und das Bewusstsein für die Probleme der Muslime in Bezug auf Bildung, Ethik und Ästhetik sowie kulturelles, soziales und politisches Bewusstsein zu schärfen. Dazu gehören etwa Themen wie Rassismus, Ausgrenzung, Versagen in der Bildung, Verrohung der Gesellschaft, politische Verzerrungen, einseitige Haltung der Medien oder kulturelle Unterschiede, die den Islam und die Muslime betreffen. Der Versuch, Vorurteilen und potenziellen Problemen entgegenzusteuern, ist eine Frage der kollektiven Verantwortung. Kann ein richtiges „Verstehen“ oder ein richtiger „Verständnishorizont“ (Gadamer) entstehen, ohne Ereignisse und Phänomene kritisch zu betrachten und zu hinterfragen? Ist es möglich, ein Problem zu lösen, ohne seine Ursachen zu hinterfragen und zu analysieren?
Meine innermuslimischen Beobachtungen
Kritisches Denken wird als eine der wichtigsten Tugenden und Fähigkeiten angesehen, die Schüler in den Bildungssystemen der entwickelten Länder erwerben sollten. Ohne kritisches Denken können weder Mündigkeit, geistige Bildung noch die Fähigkeit zur Selbstreflexion und eigenständigen Urteilsbildung entwickelt werden. Während „Kritik“ in konservativen Kreisen z.B. als Aufwiegelung oder Unruhe/Aufruhr (arab. fitna) immer noch negativ konnotiert ist, ist „kritisches Denken“ in den entwickelten Gesellschaften ein lebenswichtiger Wert für den Einzelnen.
Bezüglich muslimischer Communities gibt es im täglichen Leben, in der sozialen und politischen Arena, bei religiösen und historischen Anschauungen eklatante Widersprüche und verzerrte Haltungen ebenso wie Diskurse, die den ethischen und universellen Werten widersprechen, oder opportunistische und manipulative Verhaltensweisen. Es ist gewiss keine Tugend, zu schweigen, wenn man Zeuge dieser Dinge wird. Je mehr wir eine kritische Haltung einnehmen, desto gesünder und solidarischer können sich die Beziehungen in der Gesellschaft entwickeln, und desto friedlicher und versöhnlicher kann das Zusammenleben mit Menschen von anderen Kulturen und Überzeugungen werden.
Ich lebe seit vierzig Jahren in Deutschland und beobachte türkische und muslimische Gemeinschaften mit ihren kulturell-religiös geprägten Werten. Gleichzeitig habe ich stets die Möglichkeit, sie mit der deutschen Gesellschaft zu vergleichen. Zudem kann ich den Blick in die muslimischen Länder werfen, von denen man aus persönlicher Erfahrung weiß, was vor sich geht. Hinzu kommt auf institutioneller Ebene, dass ich seit über dreißig Jahren im Rahmen von Sprach- und Religionsunterricht mit Tausenden von Schülern aus verschiedenen muslimischen Herkunftsländern in Kontakt gewesen bin. In diesem langen Zeitraum konnte ich bei meinen Schülern unschwer vielfach eine unzureichende familiäre Erziehung, Verhaltensauffälligkeiten oder Lücken und Defizite in ihrem Religionsverständnis beobachten. Über die Zeit begann ich, die vielen Faktoren zu hinterfragen, die eine Rolle bei der Entstehung verzerrter Sichtweisen spielen, wie Persönlichkeits-/Identitätsentwicklung, Familienstruktur, Geschlechterwahrnehmung, ethisch-moralische Erziehung, politisches Bewusstsein und soziokulturelles Umfeld. Die Ursachen für die Schieflagen von muslimischen Schülern liegen zum einen in der historischen Entwicklung dieser Diasporasituation, zum anderen im tradierten religiös-intellektuellen Selbstverständnis.
Man muss sich erstmal grundlegend fragen, welche religiösen Reformen, welche geistige Erleuchtung und welchen inneren Mentalitätswandel die muslimische Welt über Jahrhunderte hinweg erreicht hat, um den Mut aufzubringen, die „westlich“-zivilisatorischen Errungenschaften abzutun und sich „antiwestlich“ zu positionieren. In vielen europäischen Gesellschaften werden partizipative Demokratien, Rechtsstaatlichkeit auf der Grundlage der Gewaltenteilung, Menschenrechte und Freiheiten auf höchstem Niveau umgesetzt. Sie sind weit fortgeschritten im Index der menschlichen Entwicklung, in Indexen wie Glück/Einkommensverteilung und in der Produktion von Wissenschaft, Kunst, Kultur und Technologie. Wären sonst die Menschen, die aus verschiedenen Gründen aus muslimischen Ländern fliehen, in den westlichen Ländern gelandet? Wird man sich jetzt nicht fragen, warum die muslimischen Gemeinschaften in den genannten Aspekten zurückbleiben, während all dies geschieht? Wird man, wenn man die europäischen Errungenschaften und Werte hervorhebt, dadurch automatisch zu Westlern oder Bewunderern des Westens, oder ist die Motivation, Zuneigung von Europäern zu gewinnen?
Inzwischen könnte man auch die koloniale Vergangenheit einiger europäischer Länder und die negativen Aspekte der Aufklärungsbewegung kritisieren. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Diese Kritik wird sowohl akademisch als auch politisch bereits von Europäern selbst geübt. Die seit der Aufklärung durchgeführten Reformen in der Religion und der Bildung sowie eine Transformation der Mentalität haben eine hohe Selbstreflexionskompetenz ausgebildet, die staatlich weitertradiert wird.
Auf die Essenz kommt es an
Ich versuche nun, die Situation der muslimischen Akademiker mit der Analogie eines Filters zu illustrieren: Die in den Filter hineingegebene Substanz sind die tiefgründige Literatur und Erkenntnisse von Akademikern und Intellektuellen aus der türkisch-konservativen Community. Wichtig sind jedoch nicht das tiefe Wissen und die reichhaltigen Konzepte, die in den Filtern hineingegeben werden, sondern die Essenz, die durch den Filter selbst filtriert wird. Der Filter wiederum ist die Überzeugung der Person, die sich aus ihrer sehr stark betonten, bewusst in Abgrenzung zu Anderen konstruierte muslimischen Identität oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinde, die eine bestimmte exklusive religiöse Richtung vertritt, ergibt. Die so gefilterte „Essenz“ stellt den perspektivischen Ausgangspunkt für die Betrachtung von kritikwürdigen Ereignissen dar, von denen ich zu Beginn gesprochen habe. Denn das ist das Wesentliche der Sache: Tragen die reichhaltige Literatur, das Wissen und die Kultur der türkisch-konservativen Community zur Betrachtung des Lebens in einem sozialen Sinn bei? Welche moralischen, universellen Werte werden hervorgehoben und verteidigt? Obwohl der Füllbereich des Filters voller Wissen und Erkenntnissen zu sein scheint, tropfen unten ein absoluter Wahrheitsanspruch und ein islamistisches, salafistisches oder fanatisches Religionsverständnis als ideologische „Soße“ heraus.
In der konservativen Community gibt es zahlreiche verzerrte und oberflächliche Ansichten und Positionen, die durch den Filter starrer Identitätskonzepte filtriert werden, sodass deren Analyse Bände füllen könnte. Islamistische, nationalistische, ausgrenzende, reaktionäre, utopische, von der Realität abgekoppelte und absurde Aussagen gibt es zuhauf. Es ist auch nicht besonders moralisch, solche Ansätze stillschweigend zu akzeptieren und zu schweigen, nur weil sie aus dem eigenen Umfeld stammen. Allerdings erfordert es auch Mut, das eigene Umfeld, in dem keine gesunde Kritik- und Diskussionskultur gewachsen ist, frei zu kritisieren. Hinter der Entscheidung, zu schweigen, liegt oft auch die Angst, aus dem eigenen Umfeld ausgeschlossen und diskreditiert zu werden. Selbst die als Freunde angesehenen Menschen können sich so langsam aufgrund des sozialen Drucks des Umfelds distanzieren.
Wertegeleitete Lesart des Islams
An dem Punkt, an dem ich angelangt bin, kann ich das, was ich bisher aus meiner Lektüre und Erfahrung im Füllbereich des Filters an sozialen und ethischen Aspekten gefunden habe, wie folgt zusammenfassen: Menschenwürde und -rechte, Freiheiten, Redlichkeit und Prinzipientreue, pluralistisches Denken, partizipatorische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit auf der Grundlage der Gewaltenteilung usw. Ich achte nun besonders auf die Ausformung der filtrierten Gedanken rund um diese Begriffe. Die Hauptquellen des Islams müssen von den Muslimen aus der Perspektive von Werten gelesen und interpretiert werden, nicht nur aus der Sicht der normativen Regeln. Denn die oben genannten Begriffe und Werte sind elementar und berühren jeden Menschen und jede Gesellschaft. Es ist offensichtlich, dass ohne sie ein solidarisches und friedliches Zusammenleben unmöglich ist. Und die islamische Religion? Meiner Meinung nach gehört sie mit ihren Glaubensvorstellungen und Ritualen weitgehend zur Privatsphäre der Menschen. Solange sie nicht im Widerspruch zu den oben genannten Werten steht und positive Impulse für die Suche nach Lebenssinn und geistigem Frieden liefert, ist sie jedem selbst überlassen. Die Zeit, in der der Prophet Muhammad lebte, darf aber nicht als Modell dienen, das sich unverändert in die Gegenwart übertragen lässt. Denn jede historische Periode hat das Potenzial, andere wissenschaftliche, wirtschaftliche, politische und juristische Maxime zu erreichen.
Wie dem auch sei, die Gleichgültigkeit gegenüber den Ereignissen und Entwicklungen in unserem Land oder unserer Gesellschaft und Umgebung ist, einfach ausgedrückt, verantwortungslos. Das Hinterfragen von Fehlern ist eine Notwendigkeit des freien und autonomen Denkens sowie des gewissenshaften, prinzipientreuen und ethischen Handelns. Indem wir aufhören, die von Religionen propagierte Auffassung als die einzig mögliche Sicht auf die Wirklichkeit zu betrachten, indem wir uns von der Krankheit einer anachronistischen Sichtweise auf die Geschichte und heiligen Quellen befreien, indem wir die religiöse Erziehung nicht auf der Basis von Identität, sondern auf (moralischen) Werten neu überdenken, indem wir rationale, kritische und wissenschaftliche Denkfähigkeit entwickeln, können wir neue Kapitel im Leben aufschlagen. Letztendlich ist es eine Tugend, sich nicht nur mit den eigenen Irrtümern auseinanderzusetzen, sondern auch verzerrte Sichtweisen anderer zu kritisieren.
Muhammet Mertek
Teil 2 folgt.