Was ich im Buch „Demokratie gestalten – Eine Aufforderung zum Handeln“ (Frankfurter Allgemeine Buch, 2024) gelesen habe, mir eine andere Welt eröffnet. Viele Anregungen kann sich jemand wie ich, der sich in seiner Jugendzeit in der Türkei sozialisiert hat und als 16-Jähriger den Militärputsch am 12. September 1980 miterleben musste, nur in Träumen vorstellen und als Luxusgedanken wahrnehmen.
So war mir zum Beispiel die in der Erklärung des Netzwerks Paulskirche veranschaulichte Perspektive fremd: „Demokratie ist keine Regierungsweise oder Staatsform, sondern etwas, das vor Ort und im Alltag der Menschen praktiziert und erfahren wird.“ Denn eine funktionierende Demokratie als ein multidimensionales Phänomen lässt neue, offene, gesellschaftliche Räume zu. In so einer Gesellschaft kann man andere Stimmen hörbar machen und informierter auf die Vergangenheit und Zukunft blicken.
„Die plurale und freiheitliche Demokratie bietet die größte Chance auf ein friedliches Zusammenleben und soziale Gerechtigkeit. Von allen Staatsformen war und ist jedoch ausgerechnet sie vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Warum ist das so? Und was können wir dagegen tun?
(…) Um auch in Zukunft von einer vielfältigen, offenen und freien Gesellschaft zu profitieren, heißt es für uns alle: Demokratie aktiv mitgestalten!“
Mit diesen prägnant formulierten Sätzen auf der Rückseite des Buches wird das Wesentliche eigentlich treffend dargestellt. Freiheit und Demokratie, auf deren Fundament erfolgreiche Gesellschaften aufgebaut sind, sind also keine Selbstverständlichkeiten. Sie brauchen offene und ehrliche Positionierung, Unterstützung und Zivilcourage.
Im Buch zeigen 30 Essays von bekannten Autorinnen und Autoren durch konkrete Anregungen und Antworten, wie Demokratie auch in einer zunehmend komplexeren Welt erfolgreich agieren kann.
Beschrieben werden schon im Vorwort einige der unzähligen Vorteile und die unverzichtbare Bedeutung der Demokratie für die Sicherung der Vielfalt, die Sicherung der Handlungsfähigkeit der Gesellschaft und die Gewährleistung unterschiedlichster Ideen. Die Demokratie wird als kulturelle Identität und als Teil des politischen Bewusstseins, das durch die Aufklärung geprägt ist, erfahrbar. Demokratie gibt Orientierung und Freiheit, nach der der Mensch sich am meisten sehnt. Leider ist sie nun in Gefahr und braucht praktische Unterstützung in jeder Hinsicht.
Der Sammelband bezieht sich auf einen historischen Ort, die Paulskirche in Frankfurt am Main, wo im Jahr 1848 die Nationalversammlung stattfand, die ein Jahr später die erste demokratische Verfassung in Deutschland verkündete. Daher gilt die Paulskirche als „Wiege der deutschen Demokratie“. Dies sagte John F. Kennedy 1963 bei seinem Besuch dieser Stadt. Dadurch war auch der deutsche Parlamentarismus geboren. Einige der Verfassungsartikel wie die Meinungs- und Pressefreiheit oder die Gleichheit vor dem Gesetz gingen nahezu wörtlich in die Verfassungen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik ein. Und durch diese demokratische Bewegung ist „ein neues Ethos des Politischen hervorgegangen: die Repräsentanten des Volks sollten sagen, was sie machen, und machen, was sie sagen.“ so Dr. Ina Hartwig, Dezernentin für Kultur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt.
Was geschah eigentlich damals in Paulskirche? Die Revolution wurde vom Preußens König Wilhelm IV. gewaltsam niedergeschlagen. Er lehnte den Vorschlag einer konstitutionellen Monarchie ab. „Viele Revolutionäre flohen ins Ausland und trugen dort zum Blühen der Demokratie bei, wie in den Vereinigten Staaten, oder sie machten als zersprengte, vereinzelte Bewegung tapfer weiter. Preußens Plan ging auf, es konnte die nationale Karte später ganz für die eigene Sache ausspielen. Die Einigung der meisten deutschen Staaten wurde 1871 unter deutlich anderen politischen Vorzeichen vollzogen. Die dabei verabschiedete Reichsverfassung billigte zwar trotz der weitgehenden Befugnisse für das nun „Deutscher Kaiser“ genannte Staatsoberhaupt dem Deutschen Reichstag einige Kompetenzen zu, einen Grundrechtekatalog suchte man dagegen vergeblich.“ Es dauerte fast drei Generationen bis Deutschland wieder eine Demokratie mit der Weimarer Republik wagte, die nicht zuletzt infolge der wirtschaftlichen und soziopolitischen Umstände scheiterte.
Mike Josef beschreibt die Demokratie als „der Schlüssel für ein würdiges und erfülltes Leben in Freiheit und Selbstbestimmung.“ Einige Biografien der Autoren sind auch sehr interessant. Josef wurde z.B. in Kamischli (Syrien) geboren und musste 1987 sein Land als Vierjähriger verlassen. Er ist jetzt der neue Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt/Main und setzt sich für die Demokratie hierzulande ein.
In einem Essay wird über institutionelle, elementare Gefüge wie Partei, Parlament und Wahllokal hinaus auf die Praxis eingegangen, so dass man von der Demokratie in der Verbform sprechen müsse, dass Menschen sie eher praktizieren. Demokratie hat daher keinen bestimmten Ort, sondern sehr viele.
Der Schriftsteller Helmut Ortner fasst die Lage der Demokratie hinsichtlich der sozialen Medien zusammen: „In den sozialen Medien, die einmal für die Verwirklichung des demokratischen Traums standen, jeder und jede könne überall über alles reden, werden komplexe Themen gerne auf 280 Zeichen heruntergekürzt, was jede Differenzierung verhindert, dafür aber Polarisierung maximal beschleunigt. Da bleibt wenig Raum für Kompliziertes, Uneindeutiges, Widersprüchliches. Statt Empathie erleben wir Empörung, statt Fakten dominiert Bauchgefühl, Geschrei statt Gespräch. Demokratie gerät da in eine prekäre Schieflage.“
Prof. Dr. Frank Dievernich beschäftigt sich mit dem Thema „Jugend und Demokratie“ und hebt diesbezüglich politische Bildung und Medienkompetenz hervor.
Prof. Elmar Fulda hält es für einen Fehler, dass in seiner Schulzeit nicht thematisiert wurde, wie unsere demokratische Gesellschaft funktioniert. Er setzt sich mit dem Verhältnis zwischen Demokratie und Bildung auseinander.
Die affektiven Überzeugungen beeinflussen auf signifikante Art und Weise, wie wir unsere Welt wahrnehmen und mit wem wir uns identifizieren. Sie wirken auf unsere Gedankenwelt.
Ich finde eine Perspektive zwischen Medizin und Demokratie im Interview mit der Virologin Prof. Dr. Sandra Ciesek sehr interessant: „In der Medizin gehen wir nicht davon aus, dass Patientinnen und Patienten einfach so, ohne aktives Zutun genesen. Stattdessen bilden wir über Jahre kluge und engagierte Köpfe aus, die sich über Jahrzehnte weiter fortbilden und spezialisieren, um sich so gut wie möglich um ihre Patienten und Patientinnen zu kümmern. So sollten wir uns auch um die Gesundheit unserer Demokratie kümmern.“
Dies sind nur einige wenige der Anregungen in diesem Buch. So kann es auf jeden Fall für sich beanspruchen, ein wichtiges Handbuch über die Demokratie und ihre jüngere Geschichte in Deutschland mit all ihren Facetten zu sein. Nur was mir aufgefallen ist, sind die Wiederholungen über Paulskirche, da sich viele Essays von unterschiedlichen Autoren wegen historischer Entwicklung auf diesen Ort beziehen.
Als ein Land der Dichter und Denker zählt Deutschland zu den wenigen Staaten der Welt, das viele historische Erfahrungen mit der Monarchie, der Diktatur und der Demokratie gemacht hat. Und der freiheitlich-demokratische deutsche Rechtsstaat mit seinem Grundgesetz, auf dessen Fundament er nach dem 2. Weltkrieg existieren konnte, ist das höchste Gut, das unbedingt bewahrt werden und funktionsfähig bleiben soll. Was ich in meinem Leben hierzulande erfahren habe, sind die diesbezüglichen Werte und die freiheitlich-liberale Demokratie, die nicht nur im politischen Sinne, sondern auch als eine praktische Lebensform wahrgenommen wird. Unter den Umständen in der Türkei hätte ich niemals so eine Chance gehabt und höchstwahrscheinlich weiter träumen müssen. Daher ist das Buch sehr empfehlenswert für alle, die die Demokratie zu schätzen wissen und nach einer überzeugenden Antwort auf die Frage der Überschrift suchen.
Muhammet Mertek