Die größte Herausforderung der islamischen Welt in den letzten drei Jahrhunderten1 lag und liegt auch weiterhin im Glauben der einzelnen Individuen. Leider wurde dieser Punkt weder von den Muslimen allgemein noch von den muslimischen Intellektuellen verstanden.
Der Glaube ist nämlich untrennbar mit dem größeren Dschihad verknüpft, das heißt, mit der Überwindung des eigenen Selbst bzw. Egos. Dass des Muslims größter Feind sein eigenes Selbst/Ego ist, wird auch im Koran (4:141; 13:11) betont. Sobald er sein Selbst besiegt und den islamischen Glauben verinnerlicht hat, wird er von keiner Macht mehr in die Knie gezwungen werden können. Weil es die Muslime nun aber seit dem 18. Jahrhundert versäumt haben, sich ihrem eigenen Selbst zu stellen, sind sie auch ohnmächtig gegenüber anderen geworden. Sogar die bedeutendsten Gesandten Gottes haben in Bittgebeten um Vergebung für „Vergehen“ in Bezug auf die eigene Person gebetet: „Ohne Zweifel, keiner außer mir selbst hat mir Unrecht getan.“
Said Nursi antwortete einmal auf die Frage, weshalb er nicht müde werde, den Glauben begreifbar zu machen, wo doch schon der weit verbreitete auf Nachahmung beruhende Glaube (Taqlid) ausreiche: „Der Glaube ist keine Sache einer einfachen Akzeptanz. Genauso wie es bei den Widerspiegelungen der Sonne verschiedene Abstufungen gibt, angefangen mit den Widerspiegelungen auf den kleinsten Glasscherben oder Wassertropfen bis hin zu den Widerspiegelungen auf großen Seen und schließlich der Sonne selbst, kennt auch der Glaube verschiedene Abstufungen. Ein Mensch mit einem wahren Glauben vermag der ganzen Welt die Stirn zu bieten.“2 Der Glaube ist sozusagen der Kern des Islams. Den Islam zu studieren bedeutet somit, den Glauben zu studieren. Letzten Endes vereinigen sich Islam und Glaube und werden eins. Wenn z.B. in der muslimischen Alltagssprache die Rede davon ist, „als Muslim zu sterben“, ist das gleichzusetzen mit „als Gläubiger zu sterben“.
Genauso wenig wie der Mensch allein aus einem Körper, aus einem Verstand oder aus einer Seele besteht, besteht auch der Glaube nicht allein aus intellektueller Akzeptanz, aus bloßer emotionaler Ergebenheit oder aus körperlicher Aktivität. Der Glaube ist all das zusammengenommen. Er ist die Summe der vier Fakultäten der Seele: Verstand, Wille, Herz und Emotionen.3 Mit dem Verstand kann der Mensch Wissen um Gott erlangen, mit dem Willen Gott gefällige Taten verrichten, mit dem Herzen Zeugnis für Gott ablegen und mit den Emotionen Gott lieben.
Der Glaube eröffnet dem Menschen eine völlig neue Welt, in der diese vier Fakultäten als Ganzes und in ihren Einzelteilen vollkommen miteinander harmonieren. Der Glaube ‚konstruiert‘ den Menschen von Grund auf neu, er sorgt dafür, dass sowohl die Seele samt all ihrer inneren Sinne und Fähigkeiten als auch die fünf äußeren Sinne eine Erneuerung erfahren. Der Glaube harmonisiert den Menschen mit Gott und seiner Umwelt. Wer einen wahren Glauben besitzt, bewertet und nähert sich dieser vergänglichen diesseitigen Welt durch die Brille der unvergänglichen jenseitigen Welt, sodass in seiner Seele schon ein Hauch vom Paradies das Diesseits durchströmt. Vielleicht verspürt er dabei aufgrund seiner Trennung von seiner wahren jenseitigen Heimat eine ähnliche Sehnsucht wie die Flöte Ney,4 die Mewlana Dschelaleddin Rumi in einem seiner berühmten Gedichte beschreibt. Und vielleicht betrübt es ihn, dass andere sich dieser Trennung gar nicht bewusst sind. Zugleich vermittelt ihm sein Glaube aber auch Glücksgefühle, die noch über das Leben im Paradies hinaus reichen. Die Ehrfurcht vor Gott und die Liebe zu Ihm werden im Glauben eins und bilden dort eine unerschöpfliche Quelle der Glückseligkeit. Der Glaube schenkt dem Menschen wahre Freiheit; ein Gläubiger verbeugt sich vor niemandem mehr außer vor Gott, verspürt vor niemandem außer Ihm Ehrfurcht und liebt im Grunde genommen nur Ihn, während er seine Mitgeschöpfe um Seinetwillen liebt. Der Glaube verbindet den Menschen so sehr mit seinen Mitmenschen, dass ihn alle Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren, so schmerzen, als seien sie ihm selbst widerfahren. Solange er es anders empfindet, hat er die Bedeutung des Glaubens nicht verstanden.
Der Glaube eines Gläubigen bzw. eines Muslims umspannt sein ganzes Leben. Alle Dimensionen seines Lebens, seien es gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische, sind Projektionen seines Verhältnisses zum Glauben.
08. März 2010
1 Muslime betrachten die Zeit ab dem 18. Jahrhundert als die Epoche des Niedergangs der islamischen Welt. [Anmerkung des Übersetzers] 2 Bediuzzaman Said Nursi; Risale-i Nur Sammlung. Kastamonu Lahikasi – Taklidi ve Tahkiki Iman.
3 Dem Sufismus (der islamischen Mystik) zufolge wird das Seelenleben des Menschen von vier Fakultäten geprägt, die zu schulen und zu vervollkommnen die Aufgabe eines jeden Muslims ist. Erst die Vervollkommnung dieser seelischen Fakultäten macht aus einem Muslim einen guten Menschen, weil nur sie gewährleistet, dass er in seinen Entscheidungen und Handlungen das Wohlgefallen Gottes anstrebt.
4 Die Ney ist eine Längsflöte. In der islamischen Mystik symbolisiert sie mit ihrem Kummer und Schmerz angesichts der Trennung vom Schilf, aus dem sie geschnitzt ist, die Trennung des Menschen von seiner ewigen Heimat im Jenseits.