Von islamischen Traditionalisten wird der Koran meistens unmittelbar als „Wort Gottes“ verstanden. Dieses fundamentalistische Verständnis befördert eine problematische Gottesvorstellung, Radikalisierung, Ausgrenzung und anderes. Daher brauchen wir ein neues Verständnis des Korans und – in Verbindung damit – des Islams insgesamt. Demzufolge sollte der Koran nicht als unmittelbare Offenbarung Gottes angesehen werden, sondern als eine Offenbarung, die dem Propheten sinngemäß ins Herz gegeben wurde. So wird es auch möglich, den Koran hermeneutisch-kritisch zu betrachten. Es ist auch für den interreligiösen Dialog sehr wichtig, so dass die „Leute der Schrift“ nicht ausgegrenzt werden können.
Das fundamentalistische Verständnis des Korans als heilige Schrift, das seit Jahrhunderten diskutiert wird, stellt weiterhin ein Handicap bei der Integration der Muslime in modernen Gesellschaften dar. Eine genauere Betrachtung einzelner Koranverse kann verdeutlichen, dass diese nicht unbedingt als unmittelbare göttliche Offenbarungen durch Muhammed verstanden werden können und müssen.
Zunächst fällt im Koran ein sprachlicher Stil auf, der an vielen Stellen beinahe menschlich wirkt und an einigen Stellen seine Kontrahenten sogar bedroht. Zum Beispiel wird dort Nadr bin Haris, einem der Führer des Quraisch-Stammes, der den Koran als „Märchen der Altvorderen“ bezeichnet, gedroht:
„Wenn ihm Unsere Offenbarungen vorgetragen werden, sagt er: „Nichts weiter als Fabeln der Alten.“ Bald schon werden Wir ihm die Nase brandmarken.“ (68:15-16)
Der Koran zögert auch nicht, sich über Andersdenkende zu ärgern und abwertende Ausdrücke für sie zu verwenden:
„Das Gleichnis derjenigen, die sich weigern, zu glauben, ist wie das Gleichnis desjenigen, der etwas anschreit, das auf nichts hört außer auf Laute und Zurufe. Taub, stumm und blind sind sie, darum begreifen sie nicht (was zu ihnen gesagt wird).“ (2:171)
„Wahrlich, unter den Dschinn und Menschen sind viele, die Wir geschaffen (und bestimmt) haben für die Hölle (weil Wir wissen, dass sie dies verdienen). Sie haben Herzen, mit denen sie nicht versuchen, die innere Bedeutung der Dinge zu erfassen, um die Wahrheit zu begreifen, und sie haben Augen, mit denen sie nicht sehen, und sie haben Ohren, mit denen sie nicht hören. Sie sind wie Herdenvieh – nein, sie sind noch weiter abgeirrt (vom rechten Weg und benötigen dringend Rechtleitung). Sie sind es, die unachtsam und gedankenlos sind“. (7:179)
„Glaubst du denn, dass die meisten von ihnen (wirklich) zuhören oder nachdenken und begreifen? Sie sind nicht anders als das Vieh. Nein, sie achten sogar noch weniger auf den rechten Weg.“ (25:44)
Es ist auch interessant zu bemerken, dass der Koran Nicht-Muslime als „Unreine“ bezeichnet und sie aus der Nähe der Heiligen Moschee in Mekka ausschließt:
„O ihr, die ihr glaubt! Jene, die Gott Teilhaber zur Seite stellen, sind (nichts anderes als) unreine Menschen. Wenn also dieses Jahr ausgelaufen ist, sollen sie der Heiligen Moschee nicht mehr nahekommen.“ (9:28)
Inwiefern ist es berechtigt, diese Worte mit dem allmächtigen und barmherzigen Gott zu verknüpfen? Weitere Verse bringen dies in ähnlicher Weise zum Ausdruck (Siehe 2:65; 5:60; 62:5; 7:176; 111:1-5).
Darüber hinaus sind in vielen Prophetengeschichten im Koran Elemente aus alten Mythen und Volkssagen leicht erkennbar, einschließlich Parallelen zur sumerischen Erzählung des Gilgamesch-Epos und anderen alten Quellen aus Sumer, Ägypten, dem Judentum und dem Christentum.
Man fragt sich unweigerlich, ob der Prophet Muhammad uns diese Geschichten erzählt haben könnte.
Die Quellen über das Prophetenleben (Sira) geben an, dass der Prophet Muhammad vor seiner Prophetenschaft in Mekka häufig mit einem christlichen Sklaven namens Yaisch in Kontakt stand, der im Handel tätig war. (Tabari, Dschami`ul-Bayan, 14/119)
Ebenso berichten diese Quellen von Begegnungen des Propheten mit zwei jungen Schwertschmieden namens Dschabra und Yassar, die die Thora und das Evangelium sehr gut kannten. Es ist allgemein bekannt, dass der Prophet Muhammad als junger Mann in den Zwanzigern Handelskarawanen nach Damaskus begleitete und dabei den christlichen Priester Bahira traf. Darüber hinaus wird berichtet, dass er in Mekka häufig Gedankenaustausch mit dem christlichen Gelehrten Waraka bin Nawfal hatte. (Tabari, Dschami`ul-Bayan, 14/119; Razi, Koranexegese 24/50)
Widersprüchliche Aussagen im Koran?
Ein weiteres Thema sind die scheinbar widersprüchlichen Aussagen im Koran. Wie sollen wir mit diesen Widersprüchen in einem Buch umgehen, das als Gottes Wort angesehen wird?
Hier sind einige Beispiele:
„Und so wird derjenige, der Gutes im Gewicht eines Stäubchens tut, es sehen; Und derjenige, der Böses im Gewicht eines Stäubchens getan hat, wird es sehen.“ (99:7-8).
Aber in anderen Versen wird im Gegenteil behauptet, dass die Taten von Nicht-Muslimen, selbst wenn sie Gutes tun, nutzlos sind:
„Wer immer den (wahren) Glauben verleugnet (und es ablehnt, den Weg Gottes, wie vom Glauben gefordert, zu befolgen), dessen gesamte Werke werden wertlos sein, und im Jenseits wird er zu den Verlierern gehören.“ (5:5)
„Jene, die Unsere Offenbarungen und das Zusammentreffen im Jenseits als Lüge verwerfen – ihre Handlungen werden umsonst sein.“ (7:147)
„Doch diejenigen, die ungläubig sind: Untergang und Verderben sind ihnen beschieden, und Er wird all ihre Taten vergeblich sein lassen.“ (47:8)
Zudem sagt der Koran einerseits: „In der Religion gibt es keinen Zwang.“ (2:256), aber andererseits wird in anderen Versen zum Kämpfen gegen diejenigen aufgerufen, die sich nicht dem Islam unterwerfen:
„Und kämpft gegen sie, bis es keine Unordnung und keine Unterdrückung mehr gibt, die aus der Auflehnung gegen Gott hervorgeht, und die Religion in ihrer Gesamtheit (die ausschließliche Verfügungsgewalt über die Lebensweise) als von Gott allein ausgehend (anerkannt wird).“ (8:39)
Ähnlich verkündet der Koran, dass gläubige Juden, Christen und Sabier, die Gutes tun, ins Paradies kommen werden:
„Wahrlich, diejenigen, die glauben (das heißt, die erklären, Muslime zu sein) oder die sich zum Judentum bekennen oder die Christen oder die Sabäer (oder die Anhänger irgendeiner anderen Religion) – wer auch immer an Gott und den Jüngsten Tag glaubt und Gutes, Rechtschaffenes tut, die haben gewiss ihren Lohn bei ihrem Herrn, und sie brauchen keine Angst zu haben, noch müssen sie traurig sein.“ (2:62)
Aber in anderen Versen wird im Koran eine andere Sprache verwendet:
„Die Leute der Schrift und die Heiden, die ungläubig sind, werden ewig in der Hölle sein, dort werden sie verweilen. Das sind die schlimmsten der Geschöpfe.“ (98:6)
„Gewiss, die (wahre) Religion vor Gott ist der Islam. Und diejenigen, denen das Buch gegeben worden war, wurden erst aus missgünstigem Wettstreit untereinander und Anmaßung uneins, nachdem das Wissen (um die Wahrheit) zu ihnen gekommen war. Doch wer nicht an die Offenbarungen Gottes glaubt, (der sollte wissen) dass Gott wahrlich schnell ist im Berechnen.“ (3:19)
„Und wer immer eine andere Religion will als den Islam, so wird sie von ihm nicht angenommen, und er wird im Jenseits unter den Verlierern sein.“ (3:85)
Wurden solche Widersprüche in der Vergangenheit nicht thematisiert?
Natürlich wurden sie bereits, sogar zur Zeit des Propheten Muhammad, aufgezeigt. Infolgedessen führte er die Konzepte der „nasikh“ (das Aufhebende oder die Abrogation) und „mansukh“ (das Aufgehobene) ein. Das bedeutet, dass die aufhebenden Verse die Bestimmungen der vorigen Verse ablösen.
Seltsam ist jedoch hier, dass der allwissende Gott nicht im Voraus wusste, welcher Vers gelten sollte, sondern anscheinend nach dem Prinzip von „Versuch und Irrtum“ vorging.
„Wir heben keinen Vers auf oder übergehen ihn, ohne dafür einen besseren als ihn oder einen gleichwertigen zu bringen.“ (2:106)
Hier wird es offensichtlich, dass der Prophet Muhammad eine Strategie verfolgte, damit seine Ideen in der Gesellschaft Zustimmung finden, indem er je nach Umständen Gottes Worte auf die Adressaten und die jeweilige Situation abstimmte. Tatsächlich unterstützt die folgende Aussage seiner Frau Aischa auch die Idee, dass der Koran in der Sprache des Propheten Muhammad und basierend auf den Bedürfnissen seiner Zeit verfasst wurde: „Ich fühle, dass dein Herr sich beeilt, deine Wünsche und Begierden zu erfüllen.“ Infolgedessen kann die Lehre, dass der Koran das unmittelbare und unanfechtbare Wort Gottes ist, in Frage gestellt werden.
Bei den früheren und heutigen muslimischen Gelehrten gab es keine Meinungsverschiedenheiten darüber, dass der Koran von seiner Bedeutung her göttlich ist. Es gibt jedoch zwei Ansichten darüber, wie dies genau zu verstehen ist:
- Unmittelbare Göttlichkeit: Nach dieser Ansicht sind dem Propheten sowohl die Worte als auch die Bedeutung des Korans unmittelbar offenbart worden. Der Engel Gabriel hat den Koran entweder aus der bewahrten Schreibtafel (Lawh-i Mahfuz) auswendig gelernt, oder er hat die Worte von Gott gehört, oder Gott hat sie ihm offenbart. Jeder Buchstabe des Korans ist auf der bewahrten Schreibtafel festgelegt. (Zarkasi, 1/229; Suyuti, al-Itkan, 1/126)
Diese erste Ansicht wird in der allgemeinen islamischen Denkweise bevorzugt, weil die meisten annehmen, dass der Koran bereits als Text in der bewahrten Schreibtafel existierte. Allerdings ist dies äußerst umstritten.
- Eingebung an den Propheten Muhammed: Nach dieser Ansicht hat Gott dem Propheten die Offenbarung eingegeben, und der Prophet hat deren Bedeutung gelernt und sie auf Arabisch ausgedrückt. Die Erwähnung des „Niederlegens im Herzen“ in der Sure Al-Baqara (2:97) wird als Referenz für diese Auslegung angeführt, was ein überzeugendes Argument ist. (Zarkesi, 1/229; Suyuti, al-Itkan, 1/126)
Außerdem bezeichnet der Koran selbst in einem anderen Vers seinen Inhalt als die „Worte eines ehrenwerten Gesandten“.(69:40).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Koran als Buch aus den sprachlichen Formen besteht, die die Offenbarung in das Herz des Propheten Muhammad gebracht hat. Die Offenbarung hat sich in der Sprache und den Worten des Propheten manifestiert. Mit anderen Worten besteht der Koran aus den Worten, die in dem Moment, als die Offenbarung in das Herz des Propheten Muhammad kam, entstanden sind.
Daher führt die Lehre, dass der Koran direkt, unmittelbar und unbestreitbar das Wort Gottes ist, zu unlösbaren Problemen in vielen historischen, sozialen und politischen Fragen. Angesichts der umstrittenen Aspekte der Offenbarung sollte der Koran nicht über alle anderen Quellen gestellt werden und unter Berücksichtigung menschlicher Erfahrungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse im Laufe der Zeit erneut betrachtet werden.