Ich bin vielen türkischen Akademikern und Intellektuellen aus konservativen muslimischen Kreisen begegnet, die in verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen gut ausgebildet sind. Aus irgendeinem Grund leiten viele von ihnen in der Regel Begriffe, die sich auf Religion und Heldentum konzentrieren, durch den im ersten Teil dieses Artikels beschriebenen Denkfilter. Ihre entscheidende Bezugsgröße ist die Religion. Wie eine derartig enge und ideologische, von der Realität abgekoppelte Wahrnehmung der Religion kontinuierlich aus einer solchen Fülle von Wissen herausgefiltert werden kann, ist ein eigener Forschungsgegenstand. Eine solche Untersuchung könnte auch die Tatsache offenbaren, dass sie eine Sozialisation durchlaufen haben, die von einem Minderwertigkeitskomplex und einer tiefen Psychose des Mangels geprägt ist. Hier sind die Gründe für die Skepsis gegenüber der Demokratie, dem kritischen und pluralistischen Denken sowie für die ständige Betonung des Heiligen und des Jenseitigen zu suchen. Die Wurzeln eines tiefen moralischen Problems kann man auch hier sehen.
Viele Meinungsmacher aus dem konservativen Umfeld, vor allem Theologen, träumen davon, komplexe Probleme in der Religion mit einem einzigen Handstreich zu lösen. Sie können ihre Gedanken kaum ausdrücken, ohne sich auf islamische Quellen zu berufen. Wenn eine solche surreale, romantische, utopische, weit von der Wahrheit entfernte, sogar die Entwicklungen und Erfahrungen in allen wissenschaftlichen Bereichen außerhalb der Religion beiseite schiebende Denkweise nicht in Frage gestellt werden soll, muss man dann die Hölle nicht in der Ferne suchen und auf das Jenseits warten?
Was ist das für eine Mentalität, die nicht erkennt, dass die Kosten für die Unterdrückung anderer Ideen und konstruktiver Kritik, sobald sie auftauchen, im Laufe der Geschichte sehr hoch waren und die Gesellschaften enorm viel gekostet haben? Manchmal ist es gut, Traditionen zu schützen. Es ist auch für die Kontinuität der Kultur von Vorteil. Aber die traditionalistische Haltung, die heute ideologisch geworden ist und sich um den Personenkult dreht, bringt ständig geistige Verwahrlosung und Bigotterie hervor. Islamistische Traditionalisten sehen, aus welchen Gründen auch immer, innovative, reformorientierte oder auf wissenschaftlicher Forschung basierende Ideen als Angriff auf sich selbst und den Islam. Sie haben ein starkes Bedrohungsempfinden, als ob es die Welt ständig auf sie abgesehen hätte. Aufgrund dieser verzerrten Wahrnehmung zeigen sie häufig einen Ausgrenzungsreflex gegenüber Andersdenkenden, der sich in Stigmatisierung, Diskriminierung, Mobbing und Isolierung ihrer Gesprächspartner äußert.
Darüber hinaus ist die Rhetorik fast die einzige Methode, die in islamistischen Kreisen unermüdlich eingesetzt wird. Der Einsatz rhetorischer Winkelzüge führt in der Diskussion fast jeder Frage zur Illusion von Überlegenheit. Mit einer solchen Geisteshaltung wiederum sind islamistische Traditionalisten zwar nicht in der Lage, viele ihrer eigenen Probleme zu lösen, sehen aber dennoch nur sich selbst als die Rettung der Welt. Es gibt sogar Leute, die glauben, dass die Welt (d.h. acht Milliarden Menschen!) sie und ihre Ideen braucht, um alle Arten von Depressionen loszuwerden, ähnlich wie die Missionsbewegungen einiger anderer Religionen. Müssen solche utopischen Ansätze nun nicht in Frage gestellt werden?
Es gibt fragwürdige Zeitgenossen unter uns, die ihre Diskurse je nach Situation, Interesse und Konjunktur anpassen, die
- ihren Islamismus nicht kompromittieren, wenn es nötig ist;
- die in einem totalen Religionsverständnis verhaftet sind, das das Leben und das Universum mit einer einzigen Sache erklärt, wenn es nötig ist;
- die nach diversen theologischen Denkschulen handeln und versuchen, alles mit islamischer Normlehre zu erklären, wenn es nötig ist;
- die Vernunft und Denken schätzen, die von Liberalismus, Demokratie, Recht, Pluralismus und Menschenrechten sprechen, wenn es nötig ist; und
- die ihre muslimische Identität über alles andere stellen, wenn es nötig ist.
Ich frage mich, welche Entsprechung die folgende utopische und romantische Behauptung, die als eines der markantesten Beispiele für Anachronismus gelten kann, in den heutigen Gesellschaften haben kann: „In diesem Jahrhundert (‚in der Zeit der Glückseligkeit‘, in der der Prophet Muhammad lebte) haben der Gesandte Gottes und seine Gefährten ein so reiches Leben geführt, das es möglich machte, sowohl die Wege zu finden, die die Menschen in jeder Frage an den Gipfel der Glückseligkeit bringen werden, als auch die Antworten auf alle Probleme, die bis zum Tag des Jüngsten Gerichts wahrscheinlich auftreten werden.“ Natürlich mögen einige Islamisten glauben, dass die Welt durch die Phantasie der „Zeit der Glückseligkeit“, die im letzten Jahrhundert besonders unter den Türken verbreitet wurde, die Krisen überwinden und Frieden und Ruhe erlangen wird! Das liegt daran, dass diejenigen, die die Grundannahmen ihres eigenen Denkens von vornherein für unanfechtbar halten – indem sie sich auf Gott stützen – annehmen, dass sie alle Wahrheiten kennen. Das ist auch der Grund, warum diejenigen, denen es an kritischem Denken mangelt, dazu neigen, solche Menschen der Apostasie zu bezichtigen, die ihrem eigenen Verständnis widersprechende Meinungen äußern. Sie konzentrieren sich gewöhnlich darauf, ihre eigenen Dogmen zu verteidigen, anstatt anderslautende, kritische Ideen zu erwägen. Sie beabsichtigen nicht, die Wahrheit zu suchen oder aufzudecken. Anstatt die vorgebrachte Kritik unvoreingenommen zu überprüfen, beschuldigen sie den Kritiker aus Gründen wie „Korrumpierung der Religion, Aufwiegelung und Apostasie“ und versuchen dadurch, kritisches Denken zu verhindern. Warum beharrt man auf dieser überholten Haltung, wenn selbst die Inquisition im Mittelalter die Spaltung der Kirche nicht verhindern konnte?
Wenn man einige Medienplattformen der konservativen Milieus genau beobachtet, fällt manchmal auf, dass der oben beschriebene Filter strategisch mit sympathischen Begriffen wie Toleranz, Dialog, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Pluralismus, Demokratie, Wissenschaft und Freiheit gefüllt wird. Auf der einen Seite wird behauptet, alle möglichen Probleme der Welt zu lösen, auf der anderen Seite ist es offensichtlich, dass bizarre Perspektiven, die mit diesen Begriffen nicht vereinbar sind, durch das andere Ende des Filters gelangen.
Der Begriff des „Doppeldenks“ erklärt sehr gut den Zustand, diametral unterschiedliche und gegensätzliche Äußerungen gleichzeitig als real anzusehen. Es ist so, als würde man die absolute Wahrheit allein in sich selbst sehen und gleichzeitig ein pluralistisches Denken an den Tag legen. Dieser Begriff, der in George Orwells Roman „1984“ auftaucht, spiegelt auch den Charakter derjenigen wider, die doppelmoralisch handeln.
In der gleichen Community stellt der „Anachronismus“ eine Lesart dar, die bei der Bewertung von Ereignissen Anwendung findet. Insbesondere historische Ereignisse und heilige Quellen werden der Gesellschaft mit einer extrem anachronistischen Lesart aufgezwungen. Die selektive Übertragung des historischen Geschehens auf die Gegenwart schafft jedoch eine solche Wissenslücke, dass es fast unmöglich wird, eine Verbindung zwischen den Ereignissen jenseits der narrativen Indoktrination herzustellen. Sowohl durch einen anachronistischen Ansatz als auch durch die Verhinderung kritischen Denkens werden die Wissenslücken und Zusammenhänge erfolgreich überdeckt. Relative und fragwürdige Begriffe wie Heiligkeit, Mirakel und Träume werden als Instrumente der Verschleierung und Verdunkelung der Wirklichkeit eingesetzt. Aber: „Das Unerwartete entdeckt die Geheimnisse der Tiefe, / Meinst du, alle sind blind und die Welt ist stumm?“ (Ziya Pascha)
Nun kann ich dies alles abschließend mit einigen Zitaten aus Artikeln auf dem offiziellen Internetportal einer islamischen Gemeinschaft veranschaulichen und kommentieren:
- „Heutzutage sind die Probleme, die Rückständigkeit, die Verletzung von Rechten und Gesetzen in den muslimischen Ländern, nicht darauf zurückzuführen, dass sie Muslime sind, sondern im Gegenteil darauf, dass sie den Islam nicht genug leben.“
In diesem Absatz wird die Ursache vieler Probleme darin gesehen, dass der Islam nicht nach den Vorstellungen der Autoren gelebt wird. Diese Perspektive vergisst jedoch, dass Faktoren wie Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Soziologie, Bildung und Kultur zentrale Faktoren sind, die zur Entstehung dieser Probleme beitragen. Es ist utopisch zu erwarten, dass jeder Mensch in einer heterogenen Gesellschaft den Islam lebt. Außerdem gab es jahrhundertelang kein Hindernis für Muslime, ihre Religion zu praktizieren!
- „Feindschaft gegen die Freunde Gottes bedeutet, Krieg gegen Gott zu führen. Wer mit Gott Krieg führt, wird untergehen und mit einem schlechten Schicksal aus dieser Welt scheiden.“
Mit diesem Ansatz hat sich der Autor von Anfang an als Freund Gottes bezeichnet. Ist es aber richtig, dass der Beschützer der Freunde Gottes Gott selbst ist? Da viele bekannte Freunde Gottes in der Geschichte verschiedenen Arten von Verfolgung ausgesetzt waren, heißt es, dass Gott den Kampf gegen seine Feinde verloren hat?
- „Die Religion, die nur beschrieben, aber nicht dargestellt wird, ist Philosophie. Der Grund, warum die Philosophie in unserem Leben keine Bedeutung hat, ist, dass sie nicht die Dimension des Handelns, des Gottesdienstes und der Notwendigkeit hat.“
Die Philosophie ist sehr wertvoll, weil sie den Verstand zulässt. Kann es einen „wahren Glauben“ ohne Philosophie geben? Die europäischen Gesellschaften schätzten die Philosophie und trachteten danach, die Existenz und die Ereignisse zu verstehen, um das menschliche Denken in vielen Dimensionen zu entwickeln. Prozesse wie die Renaissance, die Reformbewegung und die Aufklärung wurden verwirklicht. Wenn eine zweite Renaissance im Islam erwartet wird, auch wenn sie in ihrer jetzigen Form noch weit entfernt ist, wie kann sie dann stattfinden, ohne der Philosophie den Weg zu bereiten? Somit ignorieren die Traditionalisten auch zugunsten ihrer äußerst selektiven Ideologie ihre eigene Tradition, die große philosophische Denkschulen hervorgebracht hat, die den Islam über die Geschichte hinweg entscheidend geprägt haben. So zeigen sie darin ihr beschränktes Verständnis der Geschichte ihrer eigenen Tradition.
- „In mehr als zehn Jahrhunderten ist das Gewissen der Menschheit durch den Rückgang des Einflusses islamischer Prinzipien, Gesetze und islamischer Praktiken im menschlichen Leben korrumpiert worden. Das Heilmittel dafür ist die wunderbare Medizin des Korans und des Glaubens.“
Mit anderen Worten: Bis vor zehn Jahrhunderten befand sich das Gewissen der Menschheit mit den Wundermitteln des Korans und des Glaubens in bester Ordnung? Gab es wirklich keine Probleme wie die Verwahrlosung des Gewissens, selbst wenn die islamischen Prinzipien und Normen während der Zeit der ersten Kalifen und der späteren Dynastien vollständig umgesetzt würden? Was ist denn mit den ersten Bürgerkriegen schon in der Zeit der ersten Kalifen?
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Die Reaktion „Sollen wir jetzt den Laden schließen?“ auf einige kritische Haltungen ist eine andere Art zu sagen: „Ohne die Ausnutzung der Religion haben wir keinen anderen Ausweg!“ Dies ist gleichzeitig ein Eingeständnis, dass man in seiner eigenen traditionalistischen Realitätssicht gefangen ist und sich der modernen Welt verschließt. Diejenigen, die im Sinne des Doppeldenks Wahrheitsmonopol, Islamismus und Bigotterie augenscheinlich sofort ablehnen und erklären, dass sie Demokratie und Wissenschaft respektieren – was auch immer das heißen mag –, sind sich eigentlich oft nicht bewusst, was für ein Verständnis von Religion und Gesellschaft sie vertreten.
Meine Erwartung ist jedoch, dass verzerrte, heuchlerische und für die heutige Zeit ungeeignete Ansichten offen und zivilisiert diskutiert werden! Denn angesichts des Erfahrungsniveaus der Welt brauchen wir ein neues Verständnis der Religion, eine neue Lesart von der Vorstellung des Schöpfers bis hin zu Koran und Hadithen.
Muhammet Mertek