Vor genau 60 Jahren kamen die ersten Türken nach Deutschland. Sie sind inzwischen zur größten Einwanderungsgruppe geworden. Mehr als 3 Millionen türkischstämmige MitbürgerInnen haben heute ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Wie fühlen sie sich? Worin bestehen ihre Wertvorstellungen? Was macht sie aus? Was haben sie zum Aufbau des Landes beigetragen und was tragen sie heute bei? Unter welchen Umständen leben sie gegenwärtig? Es gibt eine lange Liste von Fragen, die nicht eindeutig zu beantworten sind. Dennoch möchte ich den Versuch unternehmen, einige wesentliche Entwicklungen und Tendenzen aufzuzeigen.
„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Wenn dieser Spruch, den Max Frisch genau vor 45 Jahren zurecht und kritisch formuliert hat, immer noch aktuell ist, dann müssen wir uns darüber ernsthafte Gedanken machen.
Ob es um Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten geht, wir haben es immer mit Menschen zu tun. Mit Menschen, die von einer anderen Kultur- oder Religionszugehörigkeit geprägt sind. Trotz der andauernden Zunahme von Flüchtlingen aus muslimischen Ländern ab dem Jahr 2015 stellen die Türkeistämmigen immer noch die größte Zuwanderungsgruppe dar (16,7 % der Personen mit Migrationshintergrund). Als ich 1964 geboren wurde, lebten in Deutschland nur 1,2 Millionen Ausländer. Jetzt ist die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt auf 17,1 Millionen angewachsen, davon sind über drei Millionen türkischer bzw. fünf Millionen muslimischer Herkunft. Es geht hier allerdings nicht um eine homogene Gruppe. Dies wird ersichtlich, wenn wir einen kurzen Blick auf die Migrationsgründe werfen.
Es begann, wie gesagt, vor 60 Jahren mit den türkischen Gastarbeitern. Von 1961 bis 1973 (also bis zum Anwerbestopp) kamen etwa 700 Tausend Menschen. Ab dem Beschluss des Familienzusammenführungsgesetzes im Jahr 1974 kamen dann die Familienangehörigen nach. So holte auch mein Vater, der 1970 als „Gastarbeiter“ einreiste, seine Familie im Jahr 1980 nach Deutschland.
Im Jahr 1980 betrug die Anzahl der asylbedingten Zuwanderer etwa 100 Tausend Menschen. Eine wichtige Ursache dafür war der Militärputsch in der Türkei. Diese Einwanderer, die bis zum Militärputsch ideologisch gegeneinander gekämpft und sich auch Straßenschlachten geliefert hatten (wobei insgesamt 5000 Menschen starben), gehörten unterschiedlichen politischen Lagern an (entweder links- oder rechtsorientiert).
Darüber hinaus hatte der sich verschärfende Konflikt in den Kurdengebieten in der Türkei bedeutende Auswirkungen auf die asylbedingte Zuwanderung. Insgesamt wurden im Jahr 1992 ca. 438.000 Asylanträge in Deutschland gestellt.
Und jetzt erleben wir nach dem Putschversuch im Juli 2016 die vierte große Zuwanderung aus der Türkei, die auch politisch bedingt ist. Schon etwa 50 Tausend Menschen flüchteten nur nach Deutschland. Im Unterschied zu anderen Zuwanderungen gehört die Mehrheit dieser politisch Verfolgten zu einem akademischen Kreis, der muslimisch geprägt ist. Die Zuwanderung aus der Türkei nach Deutschland hat also einen ideologischen, ethnischen und religiösen Ursprung. Somit existiert in Deutschland ein kleines Anatolien mit fast all seinen Farben bzw. Facetten.
Wenn man überlegt, wie schwierig die Begriffe „Religion, Nationalismus, Macht, Identität und Diaspora“ sind, die ja auch von Philosophen und Denkern kontrovers diskutiert werden, kann man sich das Ausmaß der gesellschaftlichen Problematik vorstellen.
Die türkische Arbeitsmigration ist der Ausgangspunkt der späteren Zuwanderungen aus der Türkei. Und zu dieser ersten Gruppe von türkischen Zuwanderern gehörten hauptsächlich Menschen, die aus ländlichen Gebieten stammten. Ihre Wertvorstellungen unterschieden sich natürlich fundamental von den hiesigen. Hat sich seither viel daran geändert, als im Zuge der weiteren Fluchtbewegungen auch Gebildete nach Deutschland kamen? Leider nein!
Wenn die vierte Generation, die hier geboren und aufgewachsen ist, sich zum Teil immer noch als „Ausländer“ wahrnimmt und sich nicht mit der deutschen Gesellschaft identifiziert, läuft alles irgendwie in eine ganz falsche Richtung. Diese fatale Entwicklung hat die türkische bzw. muslimische Community zu einem Gutteil selbst zu verantworten, auch wenn andere gesellschaftliche Faktoren sicherlich eine ebenso große Rolle spielen.
Denn wie lösen viele Deutsche, die ideologisch zu unterschiedlichen Lagern gehören, ihre soziopolitischen Probleme? Mit demokratisch-freiheitlichen Mitteln, beruhend auf dem deutschen Grundgesetz. Auch die türkischen MitbürgerInnen bzw. Muslime sollten versuchen, ihre Probleme auf die gleiche Weise zu lösen. Natürlich gibt es viele Spannungsfelder, wenn es um „Religion, Nationalität und Identität in der Diaspora“ geht. Leider gibt es bis jetzt keine nachhaltigen praktischen Lösungsansätze, die von Muslimen selbst erarbeitet wurden. Die Mehrheit der türkischen bzw. muslimischen Strukturen ist leider im großen Maße ideologisch geprägt, was ein großes Hindernis auf dem Weg zu einem internen Dialog und auch zu einem Wir-Gefühl nach außen darstellt.
Weitere Details zur Situation und Befindlichkeit der türkischen MitbürgerInnen bzw. der Muslime zeigt die Sinus-Studie aus dem Jahr 2019 auf. Die Studie veranschaulicht generell die Beziehung zwischen der sozialen Lage und der weltanschaulichen Orientierung. Die Muslime stellen laut der Studie anteilig 29% der gesamten Migranten in Deutschland.
Betrachtet man die Milieus der Muslime, lassen sie sich folgendermaßen den verschiedenen Milieus zuordnen:
- Religiös-verwurzeltes Milieu: 59%
(Vormodernes, sozial und kulturell isoliertes Milieu, verhaftet in den patriarchalischen und religiösen Traditionen der Herkunftsregion) - Traditionelles Arbeitermilieu: 18%
(Milieu der Arbeitsmigranten, das nach materieller Sicherheit für sich und seine Kinder strebt) - Das Prekäre Milieu: 35% (Das hat eine unterschichtige soziale Lage)
- Konsum-Hedonistisches Milieu: 43%
(Unangepasstes Jugendmilieu mit defizitärer Identität und Perspektive, das Spaß haben will und sich den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft verweigert)
Die Mehrheit der Muslime in Deutschland gehört zu diesen vier Milieus. Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass die gelebte Wirklichkeit viel komplexer ist als es hier in dieser Studie gezeigt wird. Denn es spielen darüber hinaus noch verschiedene biographische, sozioökonomische und soziokulturelle Faktoren eine Rolle, die ich oben kurz beschrieben habe.
Außerdem sind in Deutschland türkeistämmigen Menschen aus allen Regionen der Türkei vertreten, die sich im Hinblick auf ihre kulturelle, religiöse, ethnische oder weltanschauliche Prägung stark unterscheiden. Also, wenn wir von Türken sprechen, geht es um eine heterogene Gruppe.
Eine wichtige Herausforderung besteht dabei darin, sich von einer Stammeskultur hin zu einer städtischen Kultur, von der Arbeiterklasse zur Mittelschicht, von einer traditionellen hin zu einer modernen Orientierung zu entwickeln. Aber leider geht das zu langsam, nur im Schildkrötentempo.
Eine wichtige Schlüsselrolle spielt dabei aber die Tatsache, dass das Spannungsverhältnis zwischen (dem Drang zur) Veränderung und (dem Wunsch nach) Bewahrung für die Diaspora charakteristisch war und ist. Das trifft auch für die türkische bzw. muslimische Migration in Deutschland zu. Denn die Haltung „wenig Veränderung mehr Bewahrung“ stellt auch eine grundlegende Problematik bei der Eingliederung vieler türkischstämmiger MitbürgerInnen dar. Denn was tun, wenn die religiöse und ethnische Identität unnachgiebig bewahrt wird, so dass die Veränderung in der Mentalität oder im Bewusstsein keinen Platz findet? Es ist zweifellos so, dass die Migration zu religiöser Intensivierung führt, da die Religion als „Identitätsressource“ an Bedeutung gewinnt. Wichtig ist aber auch, wie man hier mit der Religion und der eigenen Religiosität umgeht.
Die kulturelle Begegnung ist ja an sich positiv. Aber wohin führt es, wenn die Begegnung nicht zu einer geistigen Transformation beiträgt, sondern zur Abschottung! Laut Studien reduziert die Abschottung gegen äußere Einflüsse auch die kognitive Dissonanz, d.h. die Fähigkeit, neue Erfahrungen zu machen und diese zum eigenen Lebensentwurf in Beziehung zu setzen. In abgeschotteten Milieus hat der nationalistisch und religiös geprägte Populismus einen immensen Zulauf. Hier müssen wir ansetzen, denke ich! Eine gelungene Balance zwischen Veränderung und Bewahrung, die durch eine ernsthafte Identitätspolitik gefördert werden kann, wäre optimal. Das Handicap, dass Angehörige einer Diaspora-Gemeinschaft aufgrund des geteilten kulturellen oder religiösen Hintergrundes und gemeinsamer Ausgrenzungserfahrungen in der Aufnahmegesellschaft eine starke Binnenorientierung und nach innen gerichtete Unterstützungsbeziehungen entwickeln, können wir nur so reduzieren.
Die Chancen zu Veränderung in der Diaspora müssen genutzt werden. Leider machen viele türkische bzw. muslimische Migranten davon keinen Gebrauch, außer einige Wenige, die mental und kulturell dazu in der Lage sind.
Einige negative Erfahrungen, die man eigentlich in jedem Land machen kann, fördern eine geistige Segregation. Solche negativen Erfahrungen werden gerne pauschalisiert, anstatt das eigene Handeln einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Auch mit Hilfe von Verschwörungsmythen behaupten viele Muslime, dass die Deutschen die Muslime nicht wollen und sie nicht akzeptieren, wie sie sind. Viele Muslime haben hohe Erwartungen an das Einwanderungsland, ohne an ihre Gegenleistung zu denken. Sie wollen anerkannt werden, ohne irgendeine kulturelle, literarische, künstlerische Errungenschaft und ohne eine identitätskonforme Partizipation an der Aufnahmegesellschaft zu schaffen. Diejenigen, die noch nicht mal hier richtig angekommen sind, wie können sie denn fortgehen? Der bekannte türkische Literat Peyami Safa sagte einmal: „Schuldzuweisung ist leichter als Verstehen. Denn wenn du verstehst, musst du dich verändern.“ Hierfür ist eine geistige Schulung lebensnotwendig, aber wie?
Natürlich ist die Problematik zweiseitig. Es ist auch wahr, dass man bei einigen deutschen Mitbürgern immer wieder die Botschaft heraushört: „Du bist fremd! Du gehörst nicht zu uns!“ durch bewusst oder unbewusst formulierte Ausdrücke wie „Ihre Landsleute“ oder „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ oder abwertend „Sind Sie Hausmeister?“, womit ich mehrmals selbst konfrontiert wurde.
Kategorisierungen wie „türkischstämmige Kinder“, „Kinder mit Migrationshintergrund“ oder „Migranten-Kinder“ führen oft nur dazu, dass auf der anderen Seite auch von den „deutschstämmigen Kindern“ die Rede ist. Obwohl diese Kategorisierung teilweise notwendig ist, wenn es um spezielle Fördermaßnahmen und Anpassungsprojekte geht. Förderlich ist es auch nicht, wenn von der „Mehrheitsgesellschaft“ die Rede ist. Diese Begriffe suggerieren häufig eine gesellschaftlich-ethnische Ausgrenzung. Eine solche Herangehensweise bringt uns nicht voran, im Gegenteil. Letztendlich geht es immer um Menschen, die unbestreitbar Teil der deutschen Gesellschaft sind und dauerhaft hier leben werden. Dies kommt nicht zuletzt in der Tatsache zum Ausdruck, dass viele von ihnen ja auch einen deutschen Pass besitzen.
Denn meistens werden einfach alle türkischen Kinder mit all ihren vermeintlich ‚türkischen’ Problemen in einen Topf geworfen. Die gesamtgesellschaftlichen Gründe für ihr Verhalten bleiben allzu oft unberücksichtigt. Dazu müssen alle Themenkomplexe in den Schulen, die dafür die geeigneten Orte sind, offen diskutiert und untersucht werden. Mehr Engagement und Raum für Diskussionsmöglichkeiten und -anlässe sind notwendig.
Es geht also nicht um den Begriff „Integration“, den ich inzwischen für sehr schwammig halte, sondern um die Anerkennung und Wertschätzung des Menschen als Mensch. Wir haben viele Jahrzehnte mit unnötigen Diskussionen verbracht. Soziologisch gesehen gibt es in jeder Gesellschaft Randgruppen und unterschiedliche Schichten. Habermas zufolge ist die Gesellschaft von Natur aus heterogen. Wer im Sinne von Platons Gleichnis in „Höhlen“ leben möchte, darf ja da leben. Die gibt es in jeder Gesellschaft. Wer jedoch zivilisatorisch, bildungskonform mit progressivem und pluralistischem Denken leben möchte, kann es auch tun. Es ist seine freie Entscheidung. Die türkisch-muslimische Community muss verstärkt eine Mittelschicht mit einer demokratisch-liberalen und pluralistischen Gesinnung hervorbringen, Das ist mein Wunsch und Appell an diesem 60. Jahrestag der türkischen Migration!
Wenn die breite Mehrheit der Gesellschaft – ganz gleich, aus welchem Kulturkreis ihre Mitglieder stammen – in puncto pluralistische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Menschenrechte eine klare Position einnimmt und für die universellen menschlichen Werte eintritt, erst dann können alle in gegenseitigem Respekt und in einem konstruktiven Miteinander zusammenleben. Das sind diejenigen, die angekommen und dann zugleich auch willkommen sind. Wie schon vor sieben Jahrhunderten der große Dichter und Philosoph Mevlana Rumi sagte:
Auf der Welt gibt es viele Sprachen,
Aber alles hat die gleiche Bedeutung.
Brichst du die Karaffe, den Krug,
Wie fließt dann das Wasser und findet seinen Weg…
Nun hin zur Einheit, lass den Streit, den Krieg!
Wie schlägt dann das Herz, und wie führt es zu anderen Herzen.
* Ein Statement von Muhammet Mertek zur türkischen Migration am 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens bei der Veranstaltung „Fortgehen und Ankommen – Austausch zu 60 Jahren türkischer Migration nach Hamm“ am 23.10.2021 im Heinrich-von-Kleist-Forum in Hamm