Ibn Rushd (Averroes), mit vollständigem Namen Abu al-Walid Muḥammad ibn Ahmad Ibn Rushd, wurde 1126 n. Chr. in Cordoba in einer politisch einflussreichen Juristenfamilie geboren. Sein gleichnamiger Großvater war ein bedeutender Jurist in al-Andalus und als Oberrichter (Qadi) und Imam der großen Moschee von Cordoba tätig. Seine Zugehörigkeit zu einer einflussreichen Familie beeinflusste seine weitere Laufbahn maßgeblich. So erhielt der junge Ibn Rushd in Cordoba eine grundlegende Ausbildung in der Rechtswissenschaft und wurde in der malikitischen Rechtsschule eingeweiht.[1]
Zu dieser Zeit herrschten die Almoraviden, eine Erneuerungsbewegung in al-Andalus, die eine grundlegend malikitische Ausrichtung hatten. Ihr Bestreben war es, die rationalistische Theologie zurückzudrängen, die sich besonders in Bagdad und im Iran durch al-Ghazalis Leistungen verfestigte, um anstatt dessen einen antirationalistischen Kurs zu fahren, indem sie strikt an das malikitische Recht festhielten. Die malikitische Rechtsschule war gerade zu Beginn weitgehend antirationalistisch, da sie ihren Fokus strikt auf die medinensische Rechtspraxis legte und sich auf das Studium von dem bereits praktizierten Recht (furūʿ al-fiqh) konzentrierte.[2] Dieser Ausrichtung zum Trotz beschäftigte Ibn Rushd sich nicht nur mit dem malikitischen Recht, sondern auch mit den Meinungen anderer Rechtsschulen.[3]
Außerdem studierte er usul al-fiqh und kalam (systematische Theologie). Er hatte ascharitische Werke studiert. Mutazilitische Werke dagegen waren in Al-Andalus höchstwahrscheinlich nicht vorhanden. Anzunehmen ist aber, dass er ihre Positionen gut kannte.[4] In diesem Sinn war Ibn Rušd selbst zu dieser Zeit ein unorthodoxer moderner malikitischer Rechtsgelehrter. Neben seiner Rechtsausbildung studierte er die arabischen Wissenschaften, u.a. Grammatik und arabische Dichtung, und die Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten (Hadith).[5]
Gegen Ende der Ausbildung von Ibn Rushd kam es zum Sturz der Almoraviden durch eine Erneuerungsbewegung, die Almohaden, die das malikitische Recht und die Theologie im Allgemeinen zu systematisieren und rationalisieren versuchten.[6] Mit dem Beginn der Almohadenherrschaft 1151 in Cordoba schloss sich Ibn Rushd ihrer intellektuellen Richtung an und löste sich damit von der traditionalistischen Ausrichtung seiner Familie. Er hielt sich in Cordoba und Sevilla auf und beschäftigte sich dort zunehmend mit der Theologie, Philosophie, Naturwissenschaft und Medizin.[7] Sein medizinisches Werk „Kulliyat fit-tibb“ (Allgemeine Grundlagen der Medizin) beeinflusste u.a. die Medizin des Mittelalters und der Renaissance maßgeblich.
Über seine philosophische Ausbildung gibt es kaum Informationen. Die meisten Biografen erwähnen keinen Philosophielehrer, obwohl die Nennung eines Lehrers stets Bestandteil einer Biografie zur Nachverfolgung der Traditionskette war. Deshalb liegt die Annahme nahe, dass es einen solchen Lehrer gar nicht gab und das Studium der Philosophie eher ein Selbststudium war, das gerade in der Almoravidenzeit geheim gehalten werden musste. Selbst der Besitz von philosophischen Büchern war zu dieser Zeit nicht rechtmäßig.[8] Nach einem Biografen wird allerdings ein Name eines Philosophielehrers erwähnt, nämlich sein Lehrer für Medizin, Abu-Jafar ibn Harun al Turjali, der in der Philosophie besonders belesen war.[9]
Ein einschneidender Moment für die wissenschaftliche und politische Karriere Ibn Rushds war folgendes Ereignis: Als 1169 der almohadische Fürst von Sevilla und spätere Kalif Abu Yaqub Yusuf sich über die unklaren arabischen Übersetzungen der Texte von Aristoteles beschwerte und deshalb nach einem Kommentator suchte, der Abhilfe leisten und Aristoteles’ Philosophie verständlich machen sollte, beauftragte er Ibn Tufail, der als Hofarzt tätig war. Dieser lehnte den Auftrag aufgrund seines fortgeschrittenen Alters ab. Dafür stellte er dem Fürsten Ibn Rushd vor, welcher ihm in einem Gespräch über die berühmt-berüchtigte Frage nach der Zeitlichkeit oder Ewigkeit der Welt stellte. Von der Frage eingeschüchtert, hielt sich Ibn Rushd zurück und leugnete, dass er sich mit Philosophie beschäftige. Das anfängliche Zögern Ibn Rushds zeigt deutlich, dass die Furcht vor der Öffentlichmachung des Interesses an Philosophie, die besonders in der Almoravidenzeit groß war, anhielt und das Interesse des Kalifen und seiner Vertreter selbst in gebildeten Kreisen nicht bekannt war. Nachdem der Kalif mit Ibn Tufail ins Gespräch gekommen war, sah Ibn Rushd das offensichtliche Interesse des Kalifen an der Philosophie und seine Kenntnisse, sodass er sich auch beteiligte und sodann seine wahre Meinung äußerte. Schließlich beauftragte ihn der Kalif, die Werke von Aristoteles zu kommentieren, um einen Zugang für Studierende zu erleichtern.[10] Während er zunächst kurze Kommentare, die als einführende und zusammenfassende Lehrbücher über die aristotelischen Wissenschaften dienen sollten, befasste er sich später noch intensiver mit den Werken von Aristoteles und kommentierte diese ausführlich. Er verfasste mittlere und große Kommentare: Die mittleren Kommentare waren Kommentare, in denen er den Text von Aristoteles selbstständig durch eigene Gedanken und auf dem Islam gründende Beispiele erläutert. Bei den großen Kommentaren handelt es sich um strenge, ausführliche Kommentare ohne Zusätze.[11] Durch seine Beschäftigung mit Aristoteles entfernte er sich zunehmend von den Positionen der islamischen Philosophen wie al-Farabi, Ibn Sina und Ibn Baddscha und vertrat durch sein Festhalten am aristotelischen Text einen reinen Aristotelismus. Diese Kommentare waren augenfällig Teil der Bildungspolitik von Abu Yaqub Yusuf, um die bisher recht konservativen Gelehrten in die rationalen Wissenschaften einzuführen.[12] Der Kalif förderte die Wissenschaften der Astronomie, Medizin und Naturwissenschaften nicht nur innerhalb des Hofmilieus, sondern war auch im Besonderen bestrebt, dieses Wissen zu verbreiten. Ibn Rushd spielte hierbei eine immense Rolle in seiner Bildungspolitik. Die christlichen und jüdischen Scholastiker lernten Aristoteles über Ibn Rushd und damit auch ihn selbst kennen, sodass sich unter dem starken Einfluss die philosophische Richtung des Averroismus herauskristallisierte. In der islamischen Welt wurde Ibn Rushd im Vergleich jedoch kaum rezipiert.
Ibn Rushd zog sich jedoch nicht als Privatgelehrter oder Aristotelesforscher zurück, sondern im Jahre 1169 begann auch seine politische Laufbahn. Er besetzte das Richteramt in Cordoba und Sevilla und wurde später im Jahr 1180 als Leibarzt von dem Kalifen Abu Yaqub Yusuf ernannt.[13] Sein Nachfolger und Sohn Abu Yusuf Yaqub al-Mansur (1184-1199) setzte dies fort, bis er ihm 1197 alle seine Ämter entzog und ihn nach Lucena, in eine von Cordoba südlich gelegenen Kleinstadt, verbannte. Die Ursache für den Sinneswandel lag vermutlich darin, dass al-Mansur nach militärischen Rückschlägen angesichts der Reconquista auf die Unterstützung konservativer, einflussreicher Gelehrten angewiesen war und deshalb aus opportunistischen Gründen zuungunsten der Philosophen handelte.[14] Mit der Verfolgung Ibn Rushds war das Verbot des Philosophiestudiums verbunden, das sogar gemäß einer Quelle in Bücherverbrennungen kulminierte.[15] Nach einem Jahr und dem Sieg über das christliche Kastilien, begab sich al-Mansur nach Marrakesch, wo Ibn Rushd vermutlich durch die Unterstützung von einer Gruppe von Honoratioren aus Sevilla wieder zum Hof zurückkehren durfte. Der Kalif entschuldigte sich bei Ibn Rushd und studierte daraufhin selbst Philosophie. Im Jahr 1198 verstarb er in Marrakesch, wo er zunächst begraben wurde, jedoch wurde sein Leichnam später nach Cordoba zum Familiengrab überführt.[16]
Das Leben von Ibn Rushd lehrt uns, dass die Suche nach dem Wissen nicht allein im Religiösen begrenzt ist, sondern vielmehr unbegrenzt und allgegenwärtig sein sollte. Ibn Rushd begnügte sich trotz seiner fundierten, religiösen Ausbildung nicht nur mit dem religiösen Wissen, da vielmehr sein Durst nach Wissen religiös war. Darüber hinaus zeigt uns sein Werdegang, dass die freie, vernunftgemäße Entfaltung der Persönlichkeit und der eigenen Kräfte besonders gefördert werden muss, um moralischen, sozialen und wissenschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen. Für das Vorhandensein von originellen Menschen oder Genies, die dem Erstarren in der Tradition entgegenwirken, braucht es allerdings eine Atmosphäre von Freiheit. (J. Stuart Mill) Sowohl den Wissensdurst als auch die Ermöglichung einer freien, dialogischen Atmosphäre müssen die muslimischen Gemeinschaften und Länder sich jedoch noch zu Herzen nehmen.
Fußnoten
[1] Vgl. Griffel, Frank (Übers.): Muḥammad ibn Aḥmad ibn Rushd: Maßgebliche Abhandlung Faṣl al-Maqāl, S. 71.
[2] Vgl. ebd., S. 73.
[3] Vgl. Schupp, Franz (Übers.): Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie. Hamburg 2010, S. 17.
[4] Vgl. Hourani, George (Übers.): Averroës: On the Harmony of Religion and Philosophy, London 1961. S. 14.
[5] Vgl. ebd., S. 18.
[6] Vgl. Griffel, Frank (übers.): Muḥammad ibn Aḥmad ibn Rushd: Maßgebliche Abhandlung Faṣl al-Maqāl. S. 73.
[7] Vgl. ebd., S. 75.
[8] Vgl. Schupp, Franz (Übers.): Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie S. 26.
[9] Vgl. Hourani, George (Übers.): Averroës: On the Harmony of Religion and Philosophy, S. 15.
[10] Vgl. Schupp, Franz (Übers.): Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, S. 31.
[11] Vgl. ebd., S. 33.
[12] Vgl. Griffel, Frank (Übers.): Muḥammad ibn Aḥmad ibn Rushd: Maßgebliche Abhandlung Faṣl al-Maqāl, S. 80.
[13] Vgl. ebd., S. 79.
[14] Vgl. Schupp, Franz (Übers.): Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, S. 47.
[15] Vgl. Griffel, Frank (Übers.): Muḥammad ibn Aḥmad ibn Rushd: Maßgebliche Abhandlung Faṣl al-Maqāl, S. 87.
[16] Vgl. Griffel, Frank (Übers.): Muḥammad ibn Aḥmad ibn Rushd: Maßgebliche Abhandlung Faṣl al-Maqāl, S. 87.