Der Prophet Muhammad zeigte beim Thema Versöhnung und Dialog große Opferbereitschaft und war bereit, Kompromisse einzugehen, die niemand außer ihm akzeptiert hätte. Als Beispiel hierfür sei das berühmte historische Abkommen von Hudaibiya angeführt. Der Koran sagt dazu in der Fath-Sure:
Wahrlich, Gott hat Seinem Gesandten das Traumgesicht zu Wirklichkeit gemacht. (48:27)
Der Prophet Muhammad hatte in seinem Traum gesehen, dass ihm und seinen Gefährten die Haare abgeschnitten wurden – wie es das traditionelle Gesetz zur Pilgerfahrt vorschrieb – und sie Mekka im Frieden erreichten. Von dem Traum, den später auch der eben genannte Koranvers bestätigte, erzählte er sodann seinen Gefährten. Daraufhin machte sich der Prophet mit ihnen auf den Weg nach Mekka, das damals in der Hand von Götzenanbetern war, um das Ritual der Umschreitung der Kaaba durchzuführen. Die Mekkaner stellten sich ihnen jedoch in der Ortschaft Hudaibiya entgegen und verhinderten ihre Weiterreise. Der Prophet Muhammad wollte verhandeln, aber die Götzenanbeter stellten kaum annehmbare Bedingungen. Im Abkommen, das schließlich getroffen werden sollte, fand sich folgender Satz: “Dies sind die Bedingungen des Abkommens zwischen dem Propheten Gottes Muhammad und den Mekkanern”. Dem widersprachen die Mekkaner und sagten: “Wenn wir dich als Propheten Gottes anerkennen würden, könnten wir sowieso nicht verhindern, dass du nach Mekka gelangst. Wir fordern deshalb, dass der Ausdruck ‘Prophet Gottes Muhammad’ durch den Namen Muhammad ibn Abdullah ersetzt wird.” Diese Bedingung war für den Propheten nahezu inakzeptabel, denn der Islam beruht auf der Basis der Formel: Es gibt keine Gottheit außer Gott, und Muhammad ist der Gesandte Gottes.
Ausschließlich um des Dialogs und der Versöhnung willen gab der Prophet Muhammad dem Drängen der Mekkaner auf eine Umformulierung dieses Satzes nach, obwohl doch Ali und alle anderen Gefährten entschieden dagegen waren. Darüber hinaus befahlen ihnen die Mekkaner weiter: “Kehrt nun nach Hause zurück! Die Pilgerfahrt nach Mekka dürft ihr erst im nächsten Jahr unternehmen. Auch dieser Punkt soll im Abkommen festgehalten werden.” Diese Bedingung war ebenfalls unerträglich, denn sie hatten Mekka schon fast erreicht. Außerdem spielte hier der Traum Muhammads eine wichtige Rolle. Insbesondere Umar, einer seiner engsten Gefährten, fühlte sich dadurch verletzt, dass der Traum nicht Wirklichkeit werden sollte. Doch Muhammad akzeptierte, um Frieden und Versöhnung zu schaffen, auch diese zweite Forderung der Mekkaner. Der Abgesandte aus Mekka, Suhayl, stellte daraufhin noch eine weitere Bedingung für die Unterzeichnung des Abkommens: “Wenn jemand von uns zu dir kommt, musst du ihn auch dann zu uns zurück schicken, wenn er deine Religion angenommen hat.” Auch in diesem Punkt fügte sich der Prophet.
Abu Dschandal, der Sohn von Suhayl, hatte sich schon zuvor zum Islam bekehrt und war deshalb in Mekka angekettet worden. Er konnte sich jedoch befreien, kam mit Ketten an den Füßen während der Verhandlungen in Hudaibiya an und warf sich auf die Seite der Muslime.
Sein Vater Suhayl sagte starrsinnig:
“O Muhammad, als Erstes möchte ich, dass du mir meinen Sohn zurückgibst!”
Der Prophet bat Suhayl daraufhin:
“Lass ihn bei uns, er hat für sich selbst entschieden.”
Suhayl willigte trotzdem nicht ein. Der Prophet beharrte auf seinem Wunsch, Suhayl aber änderte seine Meinung nicht. Abu Dschandal flehte:
“Ihr Muslime, wenn ich als Muslim zu euch komme, werde ich also den Götzenanbetern ausgeliefert. Seht ihr denn nicht, in welcher Lage ich mich befinde?”
Auf dem Weg zu Gott hatte man ihm viel Leid angetan. Nun platzte Umar der Kragen. Er ging zum Propheten und fragte ihn:
“Sind wir nicht im Recht?”
Der Prophet Muhammad bejahte das. Umar insistierte weiter:
“Warum lassen wir uns also so erniedrigen?”
Der Prophet entgegnete: “Ich bin der Gesandte Gottes. Ich darf mich nicht gegen Gott auflehnen. Er ist mein Helfer.”
Umar fragte: “Hattest du uns aber denn nicht gesagt, dass wir die Kaaba, das Haus Gottes, erreichen und sie umschreiten werden?”
Der Prophet antwortete: “Das stimmt, aber habe ich auch gesagt, dass wir das in diesem Jahr tun?”
Umar verneinte. Der Prophet weiter: “Du wirst noch einmal dorthin gehen und die Kaaba umschreiten. (Bukhari, Muslim)
Unter den gegebenen unerträglichen Bedingungen bemühte sich der Prophet Muhammad, sich über alle, auch seine eigenen, Bedenken hinwegzusetzen. Warum dieses Nachgeben? Um für zehn Jahre (die Gültigkeitsdauer dieses Abkommens) Frieden zu schaffen; denn zuvor hatten sich die Muslime in den Kriegen mit den Mekkanern in den Ortschaften Badr, Uhud und Handaq im Kampf gegenüber gestanden, und auf beiden Seiten waren viele Menschen getötet worden. Durch einen Friedensschluss sollten die Anstrengungen des Kampfes, die Spannungen der Feindschaft und der Druck abgebaut werden. Die Menschen, die von einer solch angespannten Atmosphäre entlastet würden, würden in Ruhe nachdenken und sich bemühen können, einander näher kennen zu lernen. Um vorhandene Spannungen abzubauen, sollten sich alle Parteien der Kriegspsychologie entziehen können. Die Zeit für einen Frieden war reif.
Trotz aller Bedenken nahm der Prophet Muhammad die Bedingungen an. Seine Entscheidung, um des Friedens willen auch Kompromisse zu schließen, ist ein ausgezeichnetes Vorbild für die Muslime. Auch in der Welt von heute, über 1.400 Jahre nach dem Tod des Propheten, braucht die Menschheit – vielleicht sogar dringlicher denn je – von Toleranz geprägtes Handeln.