Ist Gott uns Menschen nahe? Und wenn ja: Wie nahe ist Er uns? Oder sind wir Menschen nicht dazu in der Lage, Gottes Nähe zur Schöpfung genau zu bemessen? Vielleicht sollten wir eher unsere eigene Entfernung von Gott zum Ausgangspunkt nehmen und fragen: Sind wir Menschen Gott nahe? Der spirituellen Tradition des Islams zufolge ist Gott uns immerzu nahe, während wir Menschen immerzu darum bemüht sind, Barrieren zwischen Ihm und uns zu errichten.
Gottes Namen und Attribute manifestieren sich im ganzen Universum. Im Lächeln eines Babys und in der Liebe der Mutter zu ihrem Kind spiegelt sich Gottes Barmherzigkeit wider. Die Bewegungen der Himmelskörper reflektieren Gottes Macht. Und in der Speisung eines hungrigen Lebewesens stellt Gott Seinen Namen Der Versorger zur Schau. Jeder Teil der Schöpfung ist ein Spiegel, der die unterschiedlichen Namen und Attribute Gottes in individuellen Kombinationen und Intensitäten präsentiert. Und der Mensch ist der geschliffenste all dieser Spiegel. Er weist sogar noch anmutiger auf die Namen und die Schönheit Gottes hin als alles andere im Universum. Was uns aber von Gott trennt, sind unser Verstand, unser Herz und unser Ego – jedenfalls solange diese für sich beanspruchen, eine eigenständige Existenz zu besitzen. Menschen, die in allem, was existiert, Hinweise auf Gott entdecken, können hingegen gar nicht fern von Ihm sein. Sie warten nicht darauf, dass Er vom Himmel herabsteigt, um eine liebende Verbindung mit Seiner Schöpfung einzugehen, weil sie davon ausgehen, dass Er Seiner Schöpfung ohnehin in jedem Augenblick nahe ist. Spüren können wir diese Nähe jedoch nur dann, wenn wir unsere Existenz als einzelner Teil im großen Ganzen auflösen. Wenn das Ego in Gottes allumspannender Gegenwart aufgeht, verliert alles Sein neben Gott schnell jede Bedeutung.
Die etablierten theologischen Schulen des Islams unterscheiden zwei Kategorien des Seins. Erstens das notwendigerweise existierende Sein (Wadschib al-Wudschud), das die Existenz Gottes, des Allmächtigen, definiert. Gott existiert unabhängig von allem anderen aus Sich Selbst heraus, und Seine Existenz ist für die Existenz alles anderen unentbehrlich. Nichts in Seiner Schöpfung besitzt eine Teilhabe an Seiner Existenz. Zweitens das abhängige Sein (Mumkin al-Wudschud). Dieser Kategorie zuzuordnen ist die Existenz all dessen, was erschaffen wurde und also existieren kann oder auch nicht. Alles Erschaffene existiert weder gänzlich unabhängig noch ist seine Existenz unbedingt erforderlich. Vielmehr hat Gott, der Allmächtige, es durch Seinen Willen, Seine Macht und Sein Wissen hervorgebracht. Hätte Er dies nicht gewollt, so besäße es keine Existenz. Die Schöpfung existiert nur deshalb, weil Er sie ins Leben ruft. In diesem Sinne existiert sie durch Ihn, ohne dass sie jedoch in irgendeiner Weise eine Teilhabe an Seiner unabhängigen notwendigen Existenz besäße.
Das Kernkonzept der spirituellen Tradition des Islams ist das Konzept des Ihsan – das Lebenwohnt im ständigen Bewusstsein der Gegenwart Gottes. Es wird in einen berühmten von Abu Dawud überlieferten authentischen Hadith des Propheten Muhammad beschrieben. Dortwo gibt sich der Erzengel Gabriel bei einem Treffen mit dem Propheten als Reisender aus und stellt ihm drei Fragen:
[Der Unbekannte] sagte: „Erzähl mir vom Iman (Glauben)!“ [Der Prophet] sagte: Er besteht darin, dass du Zeugnis von Gott, Seinen Engeln, Seinen Büchern, Seinen Gesandten und vom letzten Tag ablegst.“ [Der Unbekannte] sagte: „Muhammad, erzähl mir vom Islam (Ergebung an Gott)!“ Der Gesandte Gottes erwiderte: Er besteht darin, dass du bezeugst, dass es neben Gott kein anderes Objekt der Anbetung gibt und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist; dass du das rituelle Gebet verrichtest; dass du die Sozialabgabe entrichtest; dass du im Monat Ramadan fastest; und dass du die Pilgerfahrt zu dem Haus vollziehst, sofern es dir irgendwie möglich ist. Schließlich sagte er: „Erzähl mir vom Ihsan!“ [Der Prophet] sagte: Er besteht darin, […] dass du Gott anbetest, als sähest du Ihn vor dir; denn obwohl du Ihn nicht siehst, sieht Er dich doch sehr wohl.
Das höchste Ziel einiger Sufischulen besteht darin, einen Zustand zu erreichenStaat, in dem man derart tief in die Gegenwart Gottes eintaucht, dass man die Schöpfung betrachtet, als sei sie eine einzige Sammlung von Fingerzeigen auf Ihn. Wo auch immer ein solchermaßen Suchender hinschaut, entdeckt er nichts anderes als Reflexionen derSpiegelungen Namen Gottes. In gewisser Hinsicht löscht er sein Selbst in der Gegenwart Gottes auf.
Die Transzendenz Gottes
Vergleicht man das Ganze mit einem Ozean und den Teil mit einem Tropfen, so geht der Sufi davon aus, dass das Auge eines Tropfens den ganzen Ozean nicht zu schauen vermag. Taucht der Tropfen aber in den Ozean ein, so schaut er den Ozean mit dem Auge des Ozeans. Es ist wahr, dass Gott transzendent und Seine Essenz für uns ein Mysterium ist. Er existiert auf Seine ureigene einmalige Art und Weise, die kein menschlicher Geist je begreifen kann. Doch hat Gott uns Menschen, die ruhmreichsten Mitglieder der Schöpfung (Aschraf al-Makhluq), auserwählt, Ihn kennenzulernen. Es entsprach Seinem Willen, dass wir Ihn kennenlernen, und so schenkte Er uns eine Instanz, mit der wir Seine Namen und Attribute erfassen können. Diese Instanz ist das menschliche Ego. Es gibt uns die Möglichkeit, die Herrschaft Gottes zu begreifen und unsere Einheit mit Gott zu spüren. Ironischerweise jedoch missbrauchen wir diese Instanz, um uns immer weiter von Gott zu entfernen, und stellen Seine Nähe zu uns in Frage.
Das Ego: Segen und Fluch zugleich
Nur mit Hilfe des Egos kann der Mensch Gott kennenlernenkennen. Es dient uns als eine hypothetische Begrenzungslinie (Wahid-i Qiyasi) für die Unermesslichkeit Gottes. Es ist der Schlüssel zu den geheimengeheimen Schatzkammern der Namen Gottes und zur Bedeutung des Universums. Wie das funktioniert? Der bedeutende islamische Gelehrte Said Nursi erklärt es folgendermaßen:
Eine Einheit, die absolut und allumfassend ist, kennt weder Grenzen noch Beschränkungen. Sie lässt sich nicht planen oder formen und kann nicht in einer Art und Weise ‚bestimmt‘ werden, die es erlauben würde, dass man ihr essenzielles Wesen begriffe. So ist es zum Beispiel unmöglich, ein Licht zu erkennen oder wahrzunehmen, das nicht von Dunkelheit umgeben ist. Begrenzt man dieses Licht jedoch mit einer real oder hypothetisch gezogenen dunklen Linie, dann zeichnet es sich im Kontrast dazu ab. Auch Wissen, Macht, Weisheit, Mitgefühl und andere Attribute und Namen Gottes lassen sich, da sie allumfassend, schrankenlos und einzigartig sind, nicht ‚bestimmen‘. Ihre Essenz ist weder erkennbar noch wahrnehmbar. Um ihnen dennoch auf die Spur zu kommen, brauchen wir eine hypothetische Begrenzung – das Ego. Es erblickt in sich selbst eine fiktive Autorität, Macht und Kenntnis, mit der es eine Trennungslinie zieht. Es schränkt die allumfassenden Attribute hypothetisch ein, indem es sagt: „Dies gehört mir, der Rest Ihm.“ Es nimmt also eine Zweiteilung vor. Durch das Miniaturmaß, welches ihm innewohnt, lernt das Ego allmählich, die wahre Natur der Attribute und Namen Gottes zu verstehen. Mit Hilfe der angenommenen Autorität über die eigene Sphäre gelingt es dem Ego, auch die Autorität des Schöpfers des gesamten Universums zu verstehen. Sein eigenes vermeintliches Eigentum hilft ihm, auch das reale Eigentum seines Schöpfers zu begreifen und zu sagen: „So wie ich Eigentümer dieses Hauses bin, ist der Schöpfer Eigentümer dieser Schöpfung.“ Das Teilwissen des Egos ermöglicht ein Begreifen des absoluten Wissens Gottes. Dadurch, dass es selbst über eine gewisse, wenngleich geringfügige Kunstfertigkeit verfügt, kann es intuitiv die gewaltige originäre Kunstfertigkeit des Erhabenen Künstlers erahnen.
Unser Schöpfer weiß, dass wir einen Gott brauchen, der uns nahe ist. Er weiß,weiß dass wir uns nicht damit zufriedengeben würden, zuwenn spüren,spüren dass Er uns nicht nahe ist. Aus diesem Grunde hat Er uns auserwählt und uns mit den notwendigen Instrumenten ausgestattet, um Ihn zu erkennen. Er hat uns einen wunderbaren Schlüssel anvertraut, der uns die MysterienMysterien Seiner Essenz und Seiner Schöpfung aufschließt. Dieser Schlüssel ist ein SegenAbhilfe, doch kann er sich auch in einen Fluch verwandeln, der unser Bewusstsein blendet und uns von der Essenz Gottes trennt. Eine eingebildete Individualisierung, eine trügerische Weisheit und Erkenntnis versperren uns den Blick und verhüllen die Wahrheit, dass nichts existiert außer Ihm.
Was steckt dahinter, wenn der Islam von den Gläubigen verlangt, dass sie nach Gottes Wohlgefallen streben, indem sie Seinem Willen entsprechen?
Und Ich habe die Dschinn und die Menschen erschaffen, damit sie Mir dienen sollen. (51:56)
…sondern Mir allein zu dienen? Das ist der gerade Weg. (36:61)
Dem Islam zufolge gehört es zu den grundlegenden Pflichten des Menschen, Gott zu dienen, Seinem Willen zu entsprechen und Ihn anzubeten. Allerdings liegt der Zweck dieser Anbetung darin, den Glauben, das Wissen und die Liebe zu Gott zu mehren und Seine Nähe zu spüren. Das Wohlgefallen Gottes in Anbetung und Lebensführung zu suchen, wird als das zwangsläufige Resultat einer wachsenden Gottesliebe betrachtet. Demgegenüber gilt die Anbetung Gottes mit dem Ziel, von Ihm belohnt zu werden und Seiner Bestrafung zu entgehen, als eine niedere Form des Glaubens. Wenn wir akzeptieren, dass das primäre Ziel der Anbetung Gottes darin besteht, Ihm näher zu kommen (oder genauer gesagt: uns unserer Nähe zu Ihm bewusst zu werden), dann liegt die Hauptaufgabe von uns Menschen im Diesseits darin, die Barrieren zu beseitigen, die wir selbst zwischen uns und Gott errichtet haben, und uns Seiner Zustimmung dazu zu versichern. Jedes Handeln, das diesem Näherheranrücken an Gott – der Seinerseits uns immer nahe ist – zugute kommt, wird als lobenswert und als eine Form der Anbetung erachtet. Ein Hilfsmittel auf unserer Reise zu Gott ist uns das Wissen. Ein Ausspruch des Propheten bestätigt, dass auch das Streben nachgewinnendes Erkenntnis eine Form der Anbetung ist:
Mit Hilfe des Wissens kann Gott angebetet und gedient werden. Wissen beschert Glückseligkeit in dieser Welt und in der kommenden; und in der Unwissenheit liegt Unheil in dieser Welt und in der kommenden.
Gottes Gebote und all die Anbetungspflichten veranlassen uns, nach Nähe (Qurb) zu Gott zu streben. Und allein der Barmherzigkeit Gottes verdanken wir es, dass Er uns einen Weg weist, der zu Ihm führt. Durch Gebet, innere Einkehr, Fasten und Läuterung der Seele (durch die Bitte um Seine Vergebung) verlässt das Ego den Pfad der Sünden und des Hochmuts. Es erkennt die Wahrheit und wird sich seiner Nähe zu Gott gewahr, die zuvor durch seinen Anspruch auf eine unabhängige Existenz verhüllt war.
Die Grundlage des Strebens nach Nähe zu Gott bildet die Suche (Talab) nach Ihm, und diese Suche manifestiert sich in einem Handeln, das uns gestattet, die Intensität unserer Nähe zu Gott zu steigern. Als Gott uns in die Welt entsandt und uns in unsere körperlichen FormenFormen gekleidet hat, hat Er uns die Fähigkeit verliehen, auf eine Art und Weise zu handeln, die uns sämtliche Tore der unterschiedlichen Ebenen der Nähe zu Gott öffnet.
Es liegt an uns, uns unsere Nähe zu Gott zu vergegenwärtigen, denn was Ihn betrifft, so ist Er uns bereits unendlich nahe. Das entsprechende Bewusstsein und die damit einhergehende Wertschätzung machen uns zu einem Freund Gottes (Wali). Wenn wir unsere Position als Diener Gottes (Abd) akzeptieren, so ist dies ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings ist das Streben nach Nähe zu Gott eine Reise, die nie endet. Sie führt uns auf unterschiedliche Ebenen der Nähe, deren Übergänge fließend sind. Aus diesem Grunde wurde sogar der Prophet Muhammad, der Gott so unvorstellbar nahe war, wie es kein anderes Mitglied der Schöpfung jemals sein wird, dazu aufgefordert,nach Gott mit den Worten anzubeten: O Gott, mehre mein Wissen! Die VerbindungVerbindung zwischen Wissen und Nähe liegt also ganz eindeutig darin, dass ersteres letztere mehrt. Da dem Wissen jedoch keine Grenzen gesetzt sind, ist es auch unmöglich, an einen höchsten Punkt der Nähe zu Gott zu gelangen.
In einem authentischen Ausspruch des Propheten heißt es, dass Gott sagte:
Wenn sich der Diener Mir um die Spanne einer Hand zuwendet, werde Ich Mich ihm um eine Armlänge zuwenden. Wennwenn er sich Mir um eine Armlänge zuwendet, werde Ich Mich ihm um einen Klafter [altes Längenmaß: ca. 1,8 Meter] zuwenden. Und wenn er auf Mich zugeht, werde Ich ihm entgegenlaufen. (Bukhari, Muslim)
Gott, der Barmherzige, erklärt uns mit diesen Worten, dass Er von uns das Streben nach Nähe zu Ihm erwartet, und er eröffnet uns, dass wir uns schnell auf immer höhere Ebenen der Nähe emporschwingen können, wenn wir nur darum bemühen, diese Nähe auch tatsächlich zu spüren. Da Er uns ja bereits nahe ist, haben wir die Wahl, uns entweder zu gestatten, die Einheit allen Seins zu spüren, oder uns aufgrund von Pseudoweisheit und Hochmut von Ihm zu distanzieren.
Das spirituelle Leben im Islam beginnt mit dem im Innern ausgefochtenen Kampf gegen das Ego. Dieser Kampf ist die erste Station jener Reisebühne, die uns unsere Position im Angesicht GottesLage bewusst machen und uns lehren soll, Gott kennenzulernen, Ihn zu lieben und ein Tropfen im OzeanOzean der Einheit zu sein. Abgelenkt und verunreinigt von den Verführungen der Welt, neigt unser niederes Selbst dazu, in Größenwahn und Sündhaftigkeit zu verfallen. Eine Läuterung der Seele, die uns ermöglicht, ein vollständiges Bewusstsein um die Nähe Gottes zu erlangen, bedarf in jedem Fall einer gewaltigen Willensanstrengung.
Safiye Ünal-Yiğit
Yüksel A. Aslandoğan