In seinem Buch Zihniyet ve Din1 analysiert Prof. Dr. Sabri Ülgener in aller Ausführlichkeit Max Webers Islamverständnis und Islamkonzept. Er schreibt: „Webers Sicht auf den Islam ist einseitig. In diesem Punkt unterscheidet er sich kaum von vielen anderen westlichen Historikern und Forschern. Weber setzt sich mit dem Islam und den fernöstlichen Religionen nicht auseinander, um sie kennenzulernen, sondern um den Westen im Kontrast zu ihnen in ein besseres Licht zu rücken. Die eine Seite (der Westen) hat die Dinge hervorgebracht, die andere Seite (der Orient) hatte daran keinen Anteil und hat sich sogar noch davon distanziert. Rationales Leben, rationale Wissenschaft, rationale Musik, disziplinierte Arbeits- und Berufsethik – all das sei einzig und allein der westlichen Welt zuzuschreiben. Noch seltsamer sind die angeblich führenden Repräsentanten dieses Vergleichs: Für den Westen sollen dies der Calvinismus und andere Sekten sein, während für den Osten kontrastierend ein unhistorisches Bild des Islams herangezogen wird.“

Wozu dieses lange Zitat? Weil der Westen sich selbst schon seit dem 14. Jahrhundert in einem dem Islam gänzlich entgegengesetzten geistigen Raum verortet. Die Distanz beider Räume wurde dann mit der Zeit immer größer und gelangte schließlich zu einem extremen Punkt: dem Orientalismus, der von einer höchst einseitigen, voreingenommenen Sichtweise geprägt ist. Dieser Orientalismus ist das Konstrukt eines imaginären Islams, eines Islams, der so in Wirklichkeit nie existiert hat. Doch halt, natürlich nicht nur das Konstrukt eines imaginären Islams! Durch die Institutionalisierung des Orientalismus hat der Westen dazu noch einen imaginären Orient konstruiert und ihn – genau wie den imaginären Islam – als Realität zu präsentieren versucht.

Hatte bis zum 14. Jahrhundert noch ein geistiger Austausch zwischen den beiden Zivilisationen stattgefunden, wenngleich auf niedrigem Niveau, kam es nun zu einem radikalen und endgültigen Bruch. Ich denke, dass dieser Punkt enorm wichtig ist. Denn nach diesem geistigen Bruch zwischen den beiden Zivilisationen durch die Institutionalisierung des Orientalismus konnte zwar der Orient noch mit dem Westen Dialog führen, nicht jedoch mehr der Westen mit dem Orient. Der orientalistische Diskurs hat den realen Islam bzw. Orient durch einen völlig verfälschten, einseitigen und ‚imaginären‘ Islam bzw. Orient ersetzt. In diesem Sinne ist der Orientalismus so etwas wie ein typischer Don Quichotte. Denn geradeso wie Don Quichotte Welt und Wirklichkeit interpretierte, indem er sich einzig und allein auf Bücher (fiktive Ritterromane) stützte, hat auch der Orientalismus die eigenen Vorstellungen und Fantasien immer der Realität vorgezogen. Der Orientalismus ist ein Monolog, ein Monolog der Europäer über den imaginären Islam und Orient.

Für diese institutionalisierten Konstrukte eines imaginären Islams bzw. Orients durch die orientalistische Lehre gibt es historische Gründe. Die Herrschaft des Islams über die größten Territorien der damals bekannten Welt hat, wie Edward Said es formulierte, den Europäern ein anhaltendes Trauma zugefügt. Der geistige Bruch zwischen diesen beiden Zivilisationen ist das Resultat genau dieses Traumas […] Mohammed Sharafuddin betont in seinem Werk Islam and Romantic Orientalism,2 dass eigentlich schon seit den Kreuzzügen von einer wirklichen Kommunikation zwischen den beiden Zivilisationen nicht mehr die Rede sein konnte und die Übersetzungen islamischer Schriften seitdem zurückgingen. Demnach existierte der imaginäre Islam also noch viel früher. Der Islam ist für den Europäer gleichzusetzen mit Terror, Zerstörung und Barbarei. Im 19. Jahrhundert auf seinem Feldzug nach Ägypten sagte zum Beispiel Napoleon, er wolle Ägypten aus den Händen der Barbaren befreien.

Eine Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen den Zivilisationen, die seit dem 14. Jahrhundert durch den Orientalismus beschnitten wurden, ist möglich. Zuvor müssen aber die katastrophalen Konstrukte des imaginären Orients und Islams aus dem Gedächtnis der Menschen gelöscht werden. Ein wahrer Dialog zwischen dem Westen und dem Orient kann zwischen Christentum und Islam geführt werden, die die Essenz dieser Zivilisationen bilden. Und eines sollte dabei nicht vergessen werden: Aus dem Osten kommt das Licht (Ex oriente lux)!

Hilmi Yavuz

27. Februar 2010

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