Vielleicht wird es manchen verwundern, dass die als Al-Qaida bekannte Terrororganisation plötzlich auch andere Namen zu haben scheint, ISIS etwa oder An-Nusra. Beide Organisationen gehörten ursprünglich zur Al-Qaida. Auch wenn sie sich inzwischen getrennt haben und einander bekämpfen, sollte das nicht über ihre gemeinsamen Wurzeln hinwegtäuschen.
Es gibt Vordenker, die Al-Qaida entworfen haben. Nachdem US-Geheimdienste lange ihre Gründungsdoktrin analysiert und ausgewertet haben, wurden ihre Vordenker und Kommandanten schrittweise eliminiert. Was aber ihre Doktrin angeht, ist sie ein Produkt postmoderner Zeiten: Sie ist eine unstrukturierte Organisation. Gemäß dieser Doktrin braucht es keine planende, wachende Kommandozentrale. Dennoch lässt sich vermuten, dass sie in ihrem Kern durchaus von nationalen und internationalen Geheimdiensten kontrolliert wird, wie auch immer dies geschehen mag. Vielleicht lässt sich das mit einem Vergleich veranschaulichen: Wenn man im Freien gegessen hat und den Tisch anschließend unaufgeräumt hinterlässt, kommen kurz darauf die Ameisen. Analog dazu kommen, sobald irgendwo in der islamischen Welt ein Problem aufkeimt, die Al-Qaida Anhänger und machen sich ans Werk, ohne dies zuvor mit der Zentrale absprechen zu müssen. Wie Ameisen visieren die entsprechenden Organisationen ihr Ziel an und fallen darüber her.
Im Zuge der Angriffe des 11. Septembers erklärte Bin Laden, dass Muslime 1918 ihre Unabhängigkeit verloren hätten und dass arabische Länder besetzt seien und immer wieder vom Westen erniedrigt werden. Daher werde man Widerstand leisten, bis der letzte fremde Soldat islamischen Boden verlässt und man die Unabhängigkeit zurückerlangt und islamische Gesetze einführen kann.
Wie hat man diese Doktrin der Al-Qaida zu verstehen, wie lässt sie sich verorten? Die islamische Geschichte hat auf das Verhältnis zwischen einem (despotischen) Staat und seiner Bevölkerung vier Antworten gegeben, denen vier Strömungen zugrunde liegen: 1) Murcie, 2) Schiiten, 3) Sunniten und 4) Kharidschiten.
- Die Murcie (auch Dschabriyya genannt) empfehlen dem Volk, sich ohne Wenn und Aber dem Sultan zu unterwerfen, da der Herrscher den Willen und Befehl Gottes repräsentiere.
- Die Schiiten empfehlen dem Volk, sich innerlich in Geduld zu üben und sich äußerlich zu verstellen, bis der Mahdi (Erretter) komme.
- Die Sunniten empfehlen dem Volk, solange vorsichtig zu sein, bis man über die nötige Kraft und das Potenzial verfüge, sich gegen despotische Herrscher zu stellen; solange dies nicht der Fall ist, sei Gehorsam angebracht.
- Die Kharidschiten empfehlen, unabhängig von den zugrunde liegenden Bedingungen, den bewaffneten Aufstand und Widerstand als einzig legitimen Weg.
Alle vier Strömungen leben auch in modernen Zeiten fort, wenn auch in unterschiedlichen Formierungen und Gewändern. Die Murcie trifft man beispielsweise in der Populärkultur (Volksglaube) an. Schiiten haben ihr Denken mit dem Idschtihad von Ajatollah Chomeini im höchsten schiitischen Amt institutionalisiert. Sunniten erleben gerade ein Hin und Her zwischen den historisch gewachsenen Kalifat-Sultanat Regierungen und der Demokratie. Kharidschiten bringen als Aufstands- und Wutideologie radikale Organisationen hervor.
Die Organisationsstruktur und Doktrin der Al-Qaida lässt sich auf die Kharidschiten zurückführen, ideologisch ist sie im Salafismus und Wahhabismus beheimatet. Allerdings sind beim Salafismus zwei Bereiche zu unterscheiden:
- Glaubens- und epistomologischer Salafismus
- Kharidschitisch-politischer Salafismus
Ursprünglich ging der Salafismus von dem legitimen Ansatz aus, den Islam von historischen Verzerrungen, unzulässigen Neuerungen und Aberglaube sowie von auch von paganischen und anderen Religionseinflüssen reinigen zu wollen. Folglich brachte er verschiedene Bewegungen hervor, die bewaffnete Aufstände, Gewalt und Terror ablehnten und verurteilten. Ahmed bin Hanbal starb im Gefängnis, gab aber nie eine Fatwa heraus, die einen bewaffneten Aufstand gebilligt hätte. Und Ibn Taymiyya und seine Anhänger haben das Töten unschuldiger Zivilisten nie für zulässig erklärt. Auch die Muslimbrüder sind eine salafistische Bewegung, haben sich bekanntlich aber vom Terror distanziert.
Heute sehen wir uns mit verschiedenen Versionen von Al-Qaida konfrontiert, die Krieg, Aufstand und Umsturz verteidigen. Ihr wahhabitischer Charakter macht sie zu Feinden der Schiiten und der Alewiten. Diese modernen Kharidschiten widersetzten sich in erster Linie der militärischen und politischen Herrschaft und der kulturellen Hegemonie des Westens in der islamischen Welt. Häufig sind ihre Angriffsziele Diktaturen des Nahen Ostens, die als verlängerter Arm des Westens gelten, wie auch autoritäre Regime und Herrschaftssysteme, die mit dem Westen zusammenarbeiten. Militärische, soziopolitische und kulturelle Eingriffe des Westens nähren in der gesamten islamischen Welt eine große Frustration, die immer wieder ausbrechen kann wie ein Hassvulkan. Die eigentliche Heimat Al-Qaidas ist die Arabische Halbinsel, doch weist sie Ähnlichkeiten auch zu den Taliban in Afghanistan, den Schabab in Somalia und den Boko Haram in Nigeria auf.
Anzumerken ist, dass ihre Theoretiker und Vordenker keine ungebildeten Beduinen sind, sondern hochgebildete Menschen, die sich mit Technologie, Elektronik und der digitalen Welt bestens auskennen. Viele von ihnen waren als arabische Nationalisten, laizistische Liberalere oder Marxisten in der Politik tätig, bevor sie irgendwann zum Islam und zur Al-Qaida fanden. Sie sind weder arm noch bedürftig, vielmehr schöpfen sie aus schier unendlich großen Finanzquellen. Sie rezipieren und praktizieren den Koran und die Hadithe oberflächlich und literalistisch. Wie schon Ibn Khaldun es auf den Punkt brachte, wurde bei ihnen die Energie der „Erregbarkeit der Beduinen“ freigesetzt. Nun bekriegen und zerstören sie Regime und die verrohten Lebensweisen von (zivilisierten) Städtern, die sich ihnen in den Weg stellen.
Ali Bulac
01-07-14