Kein Tag vergeht, an dem der Islam nicht auf der Tagesordnung steht und Muslime zumeist zur Zielscheibe werden. Dieser Umstand verursacht bei vielen Muslimen reaktionäre Verstimmung. Das ist sicherlich nur ein Aspekt.
Ein anderer Aspekt ist, dass Muslime selbst ständig mit dem Islam geprüft werden. Vielen wird das vielleicht bis dato nicht bewusst gewesen sein, aber dem ist tatsächlich so.
Ein Blick auf die islamische Welt lässt diese harte Prüfung erkennen. Während ein Teil der Muslime einen politisierten Islam, also den Islamismus verteidigen; bekräftigt ein anderer Teil mit dem Salafismus die Vorurteile des Westens, wiederum gibt es da noch die selbstgefälligen Kulturmuslime, die vor sich her leben. Neben diesen Gruppierungen erkennt man in letzter Zeit auch jene, die ihren Glauben ernst nehmen und ihn Quellen getreu reflektieren. Verständlicherweise sind Salafisten und Islamisten lautstark und daher werden sie auch eher gehört werden, als der stille, aber nachhaltige Weg der letzteren.
Es könnte jemanden in den Sinn kommen, dass es doch normal ist, wenn Muslime unterschiedlich denken. Das ist sicherlich richtig. Der Islam versteht sich auch als eine pluralistische Religion. Denn direkt Gott gibt im Koran kund, dass er Menschen in Stämme und in unterschiedliche Charaktere erschaffen hat. Zugleich bedeutet dies aber, dass Menschen sich respektvoll begegnen und menschlichen und islamischen Prinzipien nicht zuwiderhandeln sollten, indem sie beispielsweise, üble Nachrede, Verleumdung, Lüge, Zwietracht, Hass etc. praktizieren.
Wie in der Geschichte, so gibt es auch heute unterschiedliche Auffassungen vom Islam. Aber diese Unterschiede hätten Muslime eher zu einem universellen und pluralistischen Verständnis des Islams führen sollen statt zur Konfrontation. Doch ein solches Verständnis entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern bedarf solides Basiswissen, rationales Denken, ganzheitliche Betrachtung, Prinzipientreue und zuletzt noch einen reflektierten Glauben.
Wie es aber scheint, haben Muslime einen fragmentierten und trüben Blick auf den Islam. Ihr Sprach- und Gedächtniswelt ist verworren und gibt einer gesunden Denkkonstruktion keine Gelegenheit. Viele Muslime bleiben dabei auf der Strecke ohne es je zu bemerken. Was ich damit meine, will ich an einem kurzen Beispiel erläutern: Wenn jemand gerade erst mit dem Pflichtgebet anfängt, erwartet man von ihm, dass er sich dem Gebet widmet, darin eine Orientierung findet und sich vertieft. Stattdessen disputieren einige mit anderen in der Moschee in einer unmanierlichen Art und Weise über die exakte mathematische Abmessung der Gebetsrichtung, die gemessen am Gebet eher eine Nebensächlichkeit darstellt. Spricht man sie auf diesen Umgang an, versuchen viele sich rein zu waschen, stellen sich aber dabei egozentrisch in den Mittelpunkt. Somit erschwert man sich lediglich die eigene Prüfung.
Das hat mit der Frage zu tun: Wie wir den Islam verstehen und was wir wonach bestimmen und praktizieren? Es geht also um das Verständnis vom Muslimsein. Muslimsein ist ein Werdungsprozess. Selbsterklärend ist, dass es beim Prozess um eine lang anhaltende Entwicklung der Selbstreflexion und inneren Reifung handelt und Probleme vorprogrammiert sind, wenn man beispielsweise irgendwo in der Mitte der Entwicklung einzusteigen versucht.
Denn dann werden wir Zeuge von Menschen, die jedes Mal daran scheitern ihr Verhalten mit dem beanspruchten Glauben in Einklang zu bringen. Viele sagen, sie glauben, aber können nicht einmal von den einfachsten Gewohnheiten wie Verschwendung oder Lästern ablassen. Viele sagen, sie glauben, aber sind nicht mal in der Lage die Welt durch die Brille der Namen Gottes oder Jenseitsbezogen zu betrachten. Viele sagen, sie glauben, aber sie machen sich weder die Mühe etwas hinzuzulernen, noch ihr Bewusstsein zu entwickeln. Viele sagen, sie glauben, aber warum der Glaube nicht in gute Werke mündet, darüber verlieren sie keine Gedanken.
So entsteht in der Tat der Eindruck Islam und Muslime harmonieren nicht miteinander. Inwieweit diese Disharmonie wirklich stimmt, soll erst wieder gegen Schluss diskutiert werden. Fakt ist aber; wenn Muslime ihr Glauben authentisch leben würden, wäre ihr Ansehen sicherlich ein besseres gewesen.
Hier lässt sich noch festhalten, dass der Eindruck über Muslime hauptsächlich durch zwei Faktoren bestimmt wird: Erstens durch die meist einseitigen und negativen Berichterstattungen der Medien. Zweitens durch das, was Muslime im gesellschaftlichen Leben präsentieren.
Wenn genau diese beiden Bereiche Kritik an Muslimen bedeuten, dann führt kein Weg daran vorbei, als aufrichtig zu sich zu kehren und den eigenen Glauben zu reflektieren. Wie eine Reflexion des Glaubens und der Werdungsprozess zum Muslimsein erfolgen kann, zeigt der islamische Gelehrte Bediuzzaman Said Nursi mit seinem kognitiven Entwicklungsmodell des Glaubens auf einer wunderbaren verständlichen Weise. Nach diesem Modell könnte man beispielsweise die Entwicklungsstufe des eigenen Wissens beurteilen.
Nach Bediuzzaman besteht das Gedächtnis aus sieben Stufen des Wissens (Ilm), die wir als das 4T+3I Modell bezeichnen möchten: Tahayyul, Tasavvur, Taakkul, Tasdik, Iz’ân, Iltizam und Itikat.
Das Gedächtnis stellt sich etwas vor (Tahayyul). Dies wird unter Fokussierung zur Perspektive umrissen (Tasavvur). Damit wird dem Verstand ein Türspalt zum rationalen Denken geöffnet (Taakkul). Sobald das Durchdachte verifiziert (Tasdik) wird, endet die Stufe der Wissensaneignung und die Stufen der Erkenntnis mit den 3I fangen an.
Überspringt man aber eine dieser Entwicklungsstufe ohne an deren Herausforderungen zu wachsen, erwachsen hieraus Probleme, die die Entwicklung und somit die Prüfung erschweren.
Zunächst möchte ich hier aber die einzelnen Stufen erläutern und im Anschluss daran exemplarisch auf bestimmte Entwicklungsstörungen eingehen, um damit Phänomene wie Fanatismus, Islamismus und Salafismus zu erklären.
Das 4T + 3I Modell:
Tahayyul bedeutet vorstellen können. Das Gedächtnis stellt sich zunächst etwas vor. Wenn wir beispielsweise Sauberkeit sagen, entstehen in unserer Vorstellungswelt unbewusst und willkürlich viele Szenen, die mit der Begrifflichkeit Sauberkeit in den Sinn kommen und aktiviert werden.
Tasavvur bedeutet, dass die vorher unbewusste Vorstellung zu einer Perspektive wird. Die Konturen des Vorgestellten werden sichtbarer. Dabei kann man die Konzentration auf einen Aspekt der Vorstellungen fokussieren, beispielsweise auf die Sauberkeit in der Religion.
Taakkul bedeutet der vorangegangen Perspektive wird das Tor zum rationalen Nachdenken geöffnet und das Gedächtnis fängt an bewusst wahrzunehmen. In dieser Stufe setzt die Vernunft ein und das Gedächtnis fängt an rational zu denken. Dabei fokussieren wir unsere gesamte kognitive Konzentration beispielsweise auf die Sauberkeit und versuchen weitere Querverbindungen und Assoziationen her- und klarzustellen.
Tasdik ist die Stufe der Verifizierung der rational erlangten Kenntnisse. Das, was durch die Vernunft bestimmt wurde, wird überprüft. Mit dieser Stufe ist die Wissensaneignung beendet und das Wissen erreicht die Ebene der Erkenntnis (Marifa). Die in der vorangegangen Verbindungen werden nach ihrer Richtigkeit überprüft und beurteilt. Mit der Verifizierung beispielsweise der Sauberkeit fangen wir an Urteile zu fällen, wie, dass Sauberkeit Gesundheit bedeutet usw..
Iz’an bedeutet die Fähigkeit etwas zu verstehen. Sie wird auch die Stufe des gewissenhaften Verstehens und der moralischen Verifizierung genannt. In dieser Stufe fängt der Glaube an auf das Verhalten Einfluss zu nehmen und ihre Früchte als gute Werke zu tragen. Die Beurteilungen der Vorstufe (Tasdik) werden in dieser Stufe im Alltag praktiziert, beispielsweise wird man besonders auf die Mundsauberkeit und Zahnpflege achten.
Iltizam bedeutet etwas für wichtig halten, an etwas klammern, Partei ergreifen. Ein Mensch, der diese Stufe erreicht hat, handelt mit intrinsischer Motivation ungezwungen und frei. Was er für erhaltenswert und wichtig erhält oder praktiziert lässt er auch andere wissen und daran teilhaben.
Itikat bedeutet standfeste Überzeugung. Eine solche Überzeugung zu erreichen, ohne das Wissen zu verinnerlichen, den Horizont der Weisheit und des reflektierten Nachdenkens zu erlangen scheint schier unmöglich zu sein. Ein Mensch glaubt in dieser Stufe beispielsweise unerschütterlich fest an die Grundsätze der Sauberkeit, die er verinnerlicht, praktiziert und anderen weiterempfiehlt.
Sobald einer der oben genannten sieben Stufen übersprungen wird, können individuelle und soziale Probleme entstehen. Z.B. können Begriffe, die in der Stufe Tasavvur nicht eindeutig bestimmt und umrissen werden, zum Begriffswirrwarr führen. Wenn in der Stufe Taakkul die Vernunft und das rationale Denken sträflich vernachlässigt werden, kann dies zu Denkfehlern führen. Wenn in der Stufe Tasdik die Verifizierung der rational erlangten Erkenntnisse ausbleibt, kann dies Fanatismus zufolge haben. Mängel in der Iz’an Stufe führen zur Oberflächlichkeit des Wissens. Die Prüfung der heutigen Muslime mit dem Islam resultiert zum größten Teil aus diesen Mängeln.
Entwicklungsstörungen und ihre Folgen
Wenn nun jemand, ohne die Stufen vorher erfolgreich durchlaufen zu haben, sofort in der Iz’an Stufe anfängt, wird er in Rituale verfangen bleiben, die ohne solides Basiswissen ablaufen. Denn, das, was er verifiziert, kann er nicht Handlungsprinzipien übersetzen, das moralische Verstehen bleibt dabei auf der Strecke. Zwangsläufig bleiben die Handlungen oberflächlich auf ein Niveau eines Kulturmuslims. Da Wissen und Handlung sich nicht gegenseitig bedingen und ergänzen, kann sich auch kognitiv kein Iz’an entwickeln.
Sobald jemand ohne die Vorstufen durchlaufen zu haben erst in der Stufe Iltizam einsteigt, wird dieser den Islam auf eine Ideologie reduzieren und sich wie ein Partisan verhalten. Viele Werte und Normen des Islams werden hierbei vernachlässigt und man verschreibt sich der Propaganda. Beispielsweise hört man unter türkischen Muslimen Aussagen zu Politikern in der Türkei, „Er stiehlt zwar, aber dafür leistet er auch viel“, das aber ist genau das Produkt einer solchen Fehlleitung.
Sobald jemand in die Entwicklungsstufe erst bei Itikat eintritt, wird er wie Salafisten viele Kenntnisse und Gedanken wie wahrhaften Glauben behandeln. Ein Glaube ohne Wissen verinnerlicht zu haben, ohne Weisheit erlangt zu haben, ohne sich auf die Reise zum guten Menschen begeben zu haben, wird in Fanatismus münden und verschiedenen Problemen Tür und Tor öffnen.
Wir können aus den bisherigen Erläuterungen entnehmen, dass eines der grundlegendsten Probleme der islamischen Welt die Unwissenheit oder spezieller die Halb- bzw. Unbildung ist. Wenn die Stufen der Wissensbasis 4 T nicht richtig durchlaufen werden, dann entsteht je nachdem ein Fanatismus, der sich in gewissem Maße im Islamismus und Salafismus widerspiegelt. Dann kann es nicht mehr von einem reflexiven Glauben die Rede sein. Man kann auch mit solchen Muslimen nicht mehr kriteriengeleitet auf der Ebene des Wissens diskutieren und austauschen. Denn andersdenkende Muslime werden dementsprechend sofort durch eine religiös oder politisch geprägte fanatische Anhängerschaft polarisiert und herabgewürdigt. Wie Imam Schafii sehr treffend zum Ausdruck bringt: „Es ist mir gelungen, 40 Gelehrten mit einem Argument zu überzeugen, aber es ist nicht gelungen, einem Unwissenden mit 40 Argumenten zu überzeugen.“ Dies ist auch ein wichtiger Grund, warum es in den muslimischen Gesellschaften meistens Uneinigkeit herrscht und auch oft gewaltsame Auseinandersetzungen vorkommen. Mit der Armut ist die Unwissenheit ein produktiver Nährboden für Terrorismus sowie wirtschaftliche, soziale und politische Probleme in der islamischen Welt.
Die islamische Welt von heute wird daher nicht von ungefähr Zeuge, dass Muslimsein auf bestimmte wenige Rituale eingeengt wird. Aber ohne tiefes Nachdenken, ohne Weisheit zu erlangen, ohne sich auf die Reise zum guten Menschen zu begeben, ohne die eigenen Gefühle und Gedanken Quellen- und Prinzipiengetreu erneut wiederzubeleben wird man vergebens darauf warten, den Islam richtig zu verstehen, geschweige denn den negativen Eindruck vom Islam zum positiven zu wenden. Wenn Muslime sich als Reisende verstehen, dann wäre ihnen ratsam, dass sie ihre Glaubensreise im Lichte dieser Stufen erneut durchleuchten.
Dieser Aspekt der gegenseitigen Bedingung von Glaube und Handlung bildet die innere Dimension, also das Herzstück des Islams und wird besonders als Moral (akhlaq) in Verbindung mit der Vervollkommnung des Menschen (insan al-kamil) behandelt.