„Türkisch-Islamische Synthese“, die eine ideologische These darstellt, hat seit dem Ende des Osmanischen Reiches einen erheblichen Einfluss auf die politische, gesellschaftliche und kulturelle Struktur der Republik Türkei ausgeübt. Diese religiös argumentierte Idee dient dem Zweck, soziale Solidarität und eine nationale Identität durch die Vereinigung des türkischen Nationalismus mit dem Islam zu schaffen. Tatsächlich handelt es sich bei dieser „Synthese“ um den Versuch, die zwei unterschiedlichen Konzepte von Religion und Nationalismus politisch – und manchmal auch erzwungen – miteinander zu verbinden. Aber sie kann sich in ihren philosophischen Grundideen kontrafaktisch zueinander verhalten, wie z.B. der einfachen Tatsache, dass ein gläubiger Muslim gar nicht nationalistisch sein.
Die These der Türkisch-Islamischen Synthese entwickelte sich als Ergebnis der Modernisierungs- und Identitätsdebatten, die in der Spätphase des Osmanischen Reiches aufkamen. Das Ringen und die Wechselwirkungen zwischen Strömungen wie Osmanismus, Islamismus und Panturkismus bereiteten in der Republikzeit den Boden für diese Synthese. Die in den Anfangsjahren der Republik dominierende säkulare Nationalstaatsstruktur wurde ab den 1950er Jahren – mit der zunehmenden Land-Stadt-Migration und der stärkeren Sichtbarkeit des Islams im gesellschaftlichen Leben – neu interpretiert. Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurde die Türkisch-Islamische Synthese von der Militärregierung offiziell angenommen, um gesellschaftliche Einheit zu fördern und eine konservative Ideologie gegen linkes Gedankengut zu etablieren.
In dieser Zeit nahmen die Spannungen zwischen Säkularisierung und traditionellen Werten, die mit der osmanisch-türkischen Modernisierung einhergingen, weiter zu. Die Türkisch-Islamische Synthese bot einen Lösungsansatz für diese Spannungen, indem sie den Islam zu einem Bestandteil der nationalen Identität machte und im Sinne der Stärkung gesellschaftlicher und kultureller Zugehörigkeit wirkte.
Auch wenn sie keinen klar umrissenen philosophischen Rahmen besitzt, nimmt sie in politischen Kreisen und im intellektuellen Denken einen wichtigen Platz ein. Insbesondere in den Diskursen aller Parteien des konservativ-rechten politischen Spektrums, allen voran der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), wird sie hervorgehoben. In diesem Artikel sollen kurz der historische Hintergrund, ihre Entstehung und die Vordenker dieser Ideologie beleuchtet werden.
Entstehung und politische Nutzung
Die Türkisch-Islamische Synthese, welche Islam und Nationalismus vereinen will, ist aus konjunktureller Sicht der Versuch, die Begriffe „Türke“ und „Islam“ als Stützen des Antikommunismus und als populären politischen Diskurs neu zu formulieren. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts fasste Yusuf Akçura in seinem 1904 in Ägypten veröffentlichten berühmten Essay „Drei Arten von Politik“ die damaligen Vorschläge zur Rettung des Osmanischen Reiches in drei Strömungen zusammen: Osmanismus, Islamismus und Panturkismus. Während er den Osmanismus ausschloss, gestand er ehrlich ein, dass es unmöglich sei, sich vollständig für eine der beiden anderen zu entscheiden, und schloss seinen Text mit den Worten: „Kurz gesagt, die Frage, die mich seit jeher beschäftigt und auf die ich keine überzeugende Antwort gefunden habe, steht weiterhin offen: Welche der beiden Politiken – Islam oder Türkentum – ist für das Osmanische Reich nützlicher und anwendbarer?“
Die Türkisch-Islamische Synthese basiert auf der Auffassung, dass durch die Integration des Islams in den türkischen Nationalismus eine nationale Identität geschaffen und so das Fortbestehen des Staates gesichert wird. Ziel ist es nicht, die Qualität der Gesellschaft zu steigern, sondern eine Identität zu formen. Entsprechend verlaufen politische Auseinandersetzungen in der Türkei meist entlang von Identitätsfragen. In den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelte sich diese Idee zwischen islamistischen und nationalistischen Denkern und schuf eine ideologische Grundlage, die rechte Politik mit gesellschaftlichem Konservatismus verband. Interessanterweise wird der Begriff der Türkisch-Islamischen Synthese in der türkischen Gesellschaft nicht als philosophisches System, sondern als unverzichtbarer Bestandteil des traditionellen Volksglaubens gewertet.
Die Synthese wurde erstmals systematisch von nichtstaatlichen Organisationen wie dem „Intellektuellenverein“ (Aydınlar Ocağı) formuliert. Er wurde 1970 gegründet, um nationalistisches und konservatives Gedankengut in der Türkei zu vertreten. Akademiker und Denker wie İbrahim Kafesoğlu, Nevzat Yalçıntaş, Erol Güngör und Ahmet Arvasi spielten eine führende Rolle bei ihrer Gründung und ihren Aktivitäten. Nach 1980 hatte die Synthese großen Einfluss auf die staatliche Politik. Aus historischer Perspektive lässt sie sich nicht nur als Ideologie, sondern auch als Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität und Identitätssuche deuten.
Die Existenz und das Fortbestehen des Staates
Die Idee zielt im Kern nicht darauf ab, das gesellschaftliche Leben zugunsten des Individuums zu organisieren oder dessen Glück in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr wird sie als politisches System entwickelt, das den Staat heiligt und betont, dass Individuum und Gesellschaft für dessen Fortbestehen opferbereit sein müssen. Hegels Auffassung über Staat – den er als „der Gang Gottes in der Welt“ bezeichnet und dem er daher weltliche Göttlichkeit zuschreibt – bietet detaillierte Einblicke in das Staatsverständnis der Anhänger der Türkisch-Islamischen Synthese. Eines ihrer häufig verwendeten Mottos, der Begriff „ewig währender Staat“ (ebed-müddet devlet), kann als Ausdruck dieser weltlichen Göttlichkeit interpretiert werden. Ebenso verweist die Phrase „Religion und Staat“ (din ü devlet) auf mehr als nur zwei gemeinsam genannte Begriffe – beide gelten als heilig, sind aufeinander angewiesen und häufig austauschbar.
Daher spielt es für die Anhänger der Türkisch-Islamischen Synthese keine grundsätzliche Rolle, ob ein Staat monarchisch, demokratisch oder durch ein anderes System regiert wird – entscheidend ist, dass es ein hegemonialer Nationalstaat ist. Das heutige Mehrparteiensystem gilt dabei als mit der türkischen Tradition und dem Islam am besten vereinbar, da es der konkreten nationalen Willensbildung Ausdruck verleiht und daher nicht abgelehnt wird. Auch Ahmet Arvasi zufolge sollten Parteien in einem Mehrparteiensystem nicht auf spaltende „religiöse und philosophische“ Ideologien bauen, sondern als Massenparteien fungieren. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist für die Anhänger der Synthese der Staat das zentrale Element – seine Heiligkeit wird durch die Einbindung der Religion zusätzlich gesteigert. Dies wird mit religiösen Elementen wie z.B. dem sehr schwachen Hadith: „Die Liebe zum Vaterland gehört zum Glauben.“ untermauert.
Die Türkisch-Islamische Synthese stützt sich auf zwei grundlegende Achsen:
1) Historischer Ursprung:
Die spätosmanischen Politiker und Intellektuellen, die die neue Republik Türkei gründeten, vertraten zwar den türkischen Nationalismus, verfolgten jedoch das Ziel, die Rolle des Islams im gesellschaftlichen Leben durch strikte politische Maßnahmen zu beseitigen – und das mit erheblichem Erfolg. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Zeit des Kalten Krieges, verlor die Einparteienherrschaft in der Türkei allmählich an Einfluss. Die siegreichen Alliierten übten direkten und indirekten Druck auf die türkische Regierung aus, zur Demokratie zu übergehen. Die 1946 unter der Führung von Celal Bayar und Adnan Menderes gegründete Demokratische Partei hob den politischen Druck auf die Gesellschaft auf und ließ eine Rückkehr zur traditionellen religiösen Praxis zu. Mit der Gründung der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) im Jahr 1969 durch Alparslan Türkeş, einen der führenden Köpfe des Militärputsches von 1960, erhielt diese Synthese eine klare politische Dimension. Die Türkisch-Islamische Denkrichtung wurde zunehmend in konservativen Teilen der Gesellschaft populär. Gleichzeitig wurde diese Synthese als Ergebnis einer eigenständigen Zivilisation betrachtet, die das türkische Volk durch die Annahme des Islams hervorgebracht hatte. Dabei wird oft auf das osmanische „Millet-System“ oder die Rolle der Türken als Träger des Islams Bezug genommen.
2) Modernisierung und Reaktion:
Die Türkisch-Islamische Synthese entstand als Antwort auf die Identitätskrise, die durch die Verwestlichungsbewegungen ausgelöst wurde. Anstatt sich vollständig gegen den Westen zu stellen, vertritt sie die Idee, dass man sich modernisieren könne, während man nationale und religiöse Werte bewahrt. Gleichzeitig bietet sie den konservativen Kreisen auch ein Widerstandsmodell, das sich in Teilen offen gegen den Westen richtet. So hob Ahmet Arvasi in seinen Schriften häufig hervor, dass das türkische Volk einen Islam verstehe und vertrete, der als Vorbild für „unterdrückte Völker“ dienen könne. Er schuf das theoretische Fundament der Synthese und betonte, dass der Islam ein untrennbarer Bestandteil der türkischen Identität sei. Zudem sei es die historische Mission der türkischen Nation, den Islam auf ideale Weise zu repräsentieren.
In ähnlicher Weise unterstreicht Erol Güngör in seinen Werken, dass eine Modernisierung nur im Lichte nationaler und spiritueller Werte erfolgreich sein könne. Als Wissenschaftler war er einer derjenigen, die die soziologischen Grundlagen der Türkisch-Islamischen Synthese legten.
Nurettin Topçu betonte, dass moralische und spirituelle Werte im Modernisierungsprozess bewahrt werden müssten. In Werken beschreibt er die islamische Moral als zentrales Element im Charakter der türkischen Nation. Er stand der europäischen Kultur und Industrialisierung kritisch gegenüber. Für Topçu besteht der Schlüssel zur Vermeidung gesellschaftlicher Degeneration darin, dass nationale Identität auf einem spirituellen Fundament ruht.
Necip Fazıl Kısakürek leistete bedeutende Beiträge zu den kulturellen und politischen Aspekten der Synthese. Im Rahmen seiner „Groß-Ost-Ideologie“ vertrat er die Idee der Wiederbelebung der islamischen Zivilisation durch das türkische Volk. Als Dichter und Denker hinterließ Necip Fazıl besonders im konservativ-rechten politischen Spektrum nachhaltige Spuren.
Auch Ziya Gökalp, der der Idee, die türkische Identität mit dem Islam zu verbinden, aufgeschlossen gegenüberstand, formulierte dies mit dem Dreiklang: „Türkisierung, Islamisierung, Modernisierung“. Seine Vorstellung, dass die türkische Identität durch die Synthese mit dem Islam modernisiert werden könne, inspirierte die Grundgedanken dieser Synthese maßgeblich.
Die Türkisch-Islamische Synthese stellt eine Suche nach einer gemeinsamen Identität dar, die auf der türkischen Geschichte und dem Islam basiert, und hat das Ziel, eine gesellschaftliche Einheit herzustellen. Dennoch gibt es auch Kritik, da sie anderen Identitäten und Weltanschauungen nicht genügend Raum lässt. Meiner Meinung nach kann man sagen, dass diese Synthese das größte Hindernis für die moderne Demokratisierung der Türkei und ihre Entwicklung zu einem qualifizierten Rechtsstaat darstellt. In konservativen Kreisen finden religiöse Gruppen wie Orden und Gemeinschaften sowie nationalistische politische Bewegungen im Rahmen des Begriffs „Türke“ ein ideologisches Zuhause. Anstelle von universellen Werten, Menschenrechten, Presse- und Meinungsfreiheit oder einem rechtsstaatlichen Bewusstsein, das auf Gewaltenteilung basiert – wie in entwickelten demokratischen Rechtsstaaten – werden große Teile der Bevölkerung durch die „nationale und lokale“ Ideologie indoktriniert, welche die türkische Identität hervorhebt und den Staat verherrlicht.
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Literaturhinweis
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