Wir alle meinen zu wissen, was Toleranz ist. Im täglichen Umgang nehmen wir sie gerne für uns selbst in Anspruch; für ihr Fehlen hingegen machen wir unseren Gesprächspartner verantwortlich.
Schon längst ist eine tolerante Haltung eine selbstverständliche Forderung der Moderne. Ihre Anwendung im Alltag bereitet jedoch immer wieder insbesondere dort Probleme, wo wir es mit Fremd- oder Andersartigem zu tun haben. Dies gilt sowohl für den kommunikativen Umgang mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen als auch für deren Analyse und Beurteilung. Persönlich machen wir gewöhnlich die Erfahrung, dass wir uns nur in sehr begrenztem Maße auf die volle Bandbreite jener Informationen einlassen, die nicht der Verstärkung und Bestätigung der eigenen Weltanschauung und Religion dienen.
Die Angleichung von Informationen an unsere kognitive Landkarte führt nicht nur zu einer einseitigen Wahrnehmung eines Sachverhalts, sondern bisweilen auch zu einer unzulässigen Vereinfachung und einer der eigenen Weltanschauung dienenden Vorurteilsbildung. Stereotypisierend sprechen wir dann von dem Ausländer, von demIslam und von dem Christentum, wohl ahnend, dass wir über das Genannte viel zu wenig wissen. Diese zur Erkenntnis gewordene Unwissenheit motiviert nicht, sich mehr und genauere Informationen zu beschaffen; und auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Gemeinschaften verhindert oft, dass ihre Mitglieder genau dies versuchen. Offensichtlich fürchtet man die Gefährdung der eigenen Position durch all die unangenehmen Dissonanzerfahrungen.
Warum fällt es uns so leicht, die Anderen und ihre Überzeugungen nur insoweit zu würdigen, als wir uns von ihnen bestätigt wissen dürfen. Wäre es nicht auch denkbar, dass Menschen jeweils verschiedenen nur für sie persönlich geltenden Wahrheiten für ihr Leben folgen?
Die Wahrnehmungspsychologie hat uns schon vor langer Zeit mit der in vielen Studien gewonnenen Erkenntnis konfrontiert, dass Menschen besonders in angst- und problembesetzten Situationen einen bestimmten Stil entwickeln, sich über ihre Umgebung Aufschluss zu verschaffen. Dabei wurde der enge Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Selbstwertgefühl und Kommunikation als Regulativ für die Dynamik der Persönlichkeit ausführlich beschrieben.
Die Einsicht in die kontextuelle Bedingtheit der eigenen Weltanschauung (d.h., die Abhängigkeit unserer Weltanschauung von unseren ganz persönlichen Lebensbedingungen) zeigt eben doch auch deren Provinzialität und Beschränktheit. Dies einzugestehen erfordert aber schon ein gutes Selbstwertgefühl!
Bei der Definition der Toleranz als eine soziale Einstellung, die im Unterschied zur Intoleranz an Meinungen und Einstellungen anderer Individuen, welche in Inhalten und Zielsetzungen von der eigenen Meinung oder der der Mehrheit abweichen, keinen Anstoß nimmt und darüber hinaus aktiv die Ablehnung und Bekämpfung von Anders- und Fremdartigem zu verhindern sucht, wird die Bedeutung der Toleranz für die Dynamik des innerpsychischen Geschehens auf mindestens drei Ebenen ersichtlich. Und genau dort bereitet sie uns auch Probleme:
- Im kognitiven Bereich: Auf welches Wissen über das Andersartige lassen wir uns letztlich ein?
- Im affektiven Bereich: Wie viel Nähe zum Fremden können wir zulassen?
- Im auf das Verhalten bezogenen Bereich: Schützen wir das Recht des Anderen, sich selbst darstellen zu dürfen? Verzichten wir darauf, den Anderen für uns einnehmen zu wollen?
Diese Fragen lassen sich nur dann positiv beantworten, wenn wir einander im Alltag begegnen – in unserer ganzen Verschiedenheit, in einer durchaus leidenschaftlich geführten rationalen Auseinandersetzung, die von einer Ethik der Anerkennung und von mitmenschlicher Verantwortung geleitet wird. Beschreiten wir diesen Weg, müssen sich Toleranz und Pluralismus nicht länger als unversöhnliche Größen gegenüberstehen.
Prof. Dr. Helge Paulus