Seit jeher streitet sich die Menschheit über die Struktur der Wirklichkeit und damit verbunden über die Existenz und Nichtexistenz des Göttlichen. Die Welt scheint wie eine Versammlung zu sein, in der die Menschen um ihr existenzielles Selbstverständnis ringen und sich angesichts der unendlichen Stille des Universums um den Begriff des Göttlichen streiten, ihn leugnen oder an ihn glauben. In seinen Vorlesungsaufzeichnungen „Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam“ aus dem Jahr 1930 stellt sich der Philosoph Muhammad Iqbal (1877-1938) jene Fragen, die in der Menschheitsgeschichte vielfach aufgeworfen wurden: Wie ist das Universum verfasst und welchen Platz nimmt der Mensch darin ein? Besteht das Universum lediglich aus Materie oder entspringt es aus einem geistigen Prinzip?

Zunächst verdeutlicht Iqbal die Existenzberechtigung der Religion. Dabei macht er deutlich, dass sie im Vergleich zur Philosophie und Dichtkunst die individuellen Begrenzungen des Menschen transzendiert und den an die Gemeinschaft gerichteten Anspruch einer direkten Schau der höchsten Realität verfolgt. Besonders der Koran betont im Hinblick dessen eher die „Tat“ denn die „Idee“.[1] Während letztere im Mittelpunkt der Philosophie steht, verfügt die Religion im Kontrast dazu mehr als nur einen kognitiven Inhalt. Denn sie versucht „im Menschen das höhere Bewusstsein seiner vielfältigen Beziehungen zu Gott und zum Universum zu erwecken“[2]. Sie ist damit keine Fachdisziplin, „weder bloßer Gedanke, noch bloßes Gefühl, noch bloßes Handeln; sie ist Ausdruck des ganzen Menschen.“[3] Das Kennzeichen der eigentlichen und höchsten Religion ist laut Iqbal damit die Suche nach einem größeren Leben[4], die ihren tiefgehenden Ausdruck in der religiösen Erfahrung findet. Die mystische und religiöse Literatur der Welt enthält zahlreiche Berichte über diese religiösen Erfahrungen. Sie bezeugt dabei in erster Linie die Tatsächlichkeit und Dominanz dieser Erfahrung in der Menschheitsgeschichte, sodass sie nach Iqbal nicht leichtsinnig als eine bloße Illusion und Emotion verschmäht werden kann.

So unterscheidet sich die Religion auch von den Naturwissenschaften. Denn sie zielt nicht auf die Erklärung der Natur ab, sondern versucht vielmehr die religiöse Erfahrung adäquat zu deuten. Beide verfolgen das gemeinsame Ziel, eine höhere Sicht über die Wirklichkeit zu erlangen. Dennoch sind die Perspektiven dieser Sicht unterschiedlich. Während die Wissenschaft die Realität und ihr Verhalten durch den Intellekt von außen betrachtet, versucht die Religion die innere Natur dieser Realität durch die religiöse Erfahrung bzw. durch das Herz zu entdecken. Iqbal definiert das Herz als „eine Art von innerer Intuition oder Einsicht, die sich von den Sonnenstrahlen nährt und uns mit anderen Aspekten der Realität in Kontakt bringt als jenen, die der Sinneswahrnehmung offenstehen.“[5] Diese Intuition ist jedoch als eine höhere Form des Intellekts anzusehen. Der Intellekt betrachtet dabei den zeitlichen Aspekt der Realität und die einzelnen Details des Ganzen, die Intuition hingegen ergreift die Realität in ihrer Ganzheit und legt den Schwerpunkt auf den ewigen Aspekt der Realität.[6]

Der Blick auf die höchste Natur des Lebens und der Realität kann nach Iqbal durch die Beobachtung des wichtigsten Aspekts der Erfahrung, den Ablauf der Zeit, geschärft werden. Er verdeutlicht dies z.B. mit dem folgenden Koranvers: „Siehe, in dem Wechsel der Nacht und des Tages und in allem, was Gott in den Himmeln und auf der Erde erschaffen, sind wahrlich Zeichen für gottesfürchtige Leute.“ (10:6)

Ausgangspunkt für Iqbals Betrachtungen bildet die phänomenologische Betrachtung des zeitlichen Aspekts menschlicher Erfahrungen, um das Primat des Lebens und Denkens aufzuspüren. Der Blick auf die eigene bewusste Erfahrung offenbart dabei einen kontinuierlichen Wechsel von Phänomenen und Zuständen im Bewusstsein. Iqbal stellt mit Bergson die ununterbrochene Veränderung der Bewusstseinszustände wie Empfindungen, Gefühle, Wünsche und Ideen fest. Das innere Leben weist demnach nichts Statisches auf und ist von ständiger, endlos fortsetzender Bewegung geprägt. Die Voraussetzung für diesen ständigen Wandel ist die Zeit: Bewusste Existenz ist „Leben in der Zeit.“[7]

Das Selbst zeichnet sich nach Iqbal durch zwei Seiten aus, die in unterschiedlichen Zeiträumen existieren: das wirkende und wahrnehmende Selbst. Das wirkende Selbst ist das Subjekt der assoziativen Psychologie bzw. das praktische Selbst, welches in Beziehung zur äußeren, räumlichen Welt tritt und dadurch seinen Alltag zu bewältigen versucht. Die verändernden Bewusstseinszustände lassen sich letztlich auf die Bezogenheit auf den Raum zurückführen. Aufgrund dieser räumlichen Ausrichtung kann das wirkende Selbst auf eine Reihe bestimmter, zählbarer Zustände reduziert werden. Es lebt „außerhalb seiner selbst“ und damit in der seriellen Zeit, in der die Prädikate wie „lang“ oder „kurz“ eine Rolle spielen.[8]

Eine tiefschürfende Betrachtung des Bewusstseins führt jedoch zu einer anderen Dimension des Selbst, dem wahrnehmenden Selbst.  Es bleibt aufgrund der Verwicklung des Selbst in der äußeren Ordnung der Dinge oftmals unerkannt. Das immerwährende Fließen des Innenlebens kann lediglich wahrgenommen werden, wenn das begriffliche Nachdenken und die Sprache ausgeschaltet werden. Der Denker betrachtet den Fluss der Zeit vom Ufer, indem er die Vergangenheit durchdenkt oder die Zukunft entwirft. Doch eine Erkenntnis der wahren Natur des Zeitflusses kann er nur durch unmittelbares Erleben der Gegenwart erlangen, indem er in den Fluss steigt.

In den Momenten tiefer Meditation nimmt der Mensch die reine Gegenwart bzw. reine Dauer wahr, die unmissverständlich das „Fünklein der Mystik“[9] bzw. der religiösen Erfahrung darstellt. Dabei werden das wirkende Selbst und die damit verbundene Wahrnehmung der seriellen Zeit abgeschaltet. Bei diesem direkten Erlebnis trifft er auf das Zentrum aller Erfahrungen und des Lebens: Das tiefe, wirkliche Selbst oder Ego, das in „Dauer lebt, dessen Werden schöpferisch und unabsehbar ist, und dessen Einheit eine innere und lebendige ist.“[10] Dies ist das Zentrum der Persönlichkeit, in der die Freiheit und Kreativität zu verorten sind. In diesem Zustand des wahrnehmenden Selbst dringt es, frei von den Wirkungen des Raumes, in seine eigenen unendlichen Tiefen ein. Dabei erlebt es den innewohnenden, schöpferischen Lebensschwung (Élan vital) bzw. die „reine seelische Energie“ des Individuums. Deren Erlebnis ist mit der Erfahrung der Freiheit verbunden. Dieser Zustand der Einheit lässt sich durch ein kontinuierliches Fließen voneinander durchdringender Bewusstseinszustände charakterisieren, sodass keine numerischen, seriellen Unterscheidungen von Zuständen mehr vorliegen.[11] Veränderung und Bewegung sind in diesem Prozess vorhanden, jedoch sind sie unteilbar und nicht-seriell. Die Zeit des wahrnehmenden Selbst ist deshalb „ein einziges Jetzt“[12], die reine Dauer, die nicht vom Raum „verwässert“ oder abhängig ist. Das wirkende Selbst dagegen zerteilt dieses einzige Jetzt aufgrund dessen Verflochtenheit mit dem Raum in eine Serie von „Jetzts“. Die reine Dauer ist also ein organisches Ganzes, ein Wandel ohne Abfolge. Die Vergangenheit bewegt sich hierbei mit der Gegenwart weiter und die Zukunft liegt als offene Möglichkeit in dieser Gegenwart. Mit dem Worten des Propheten Muhammads kann man sagen, dass der Mensch eine Zeit mit Gott hat[13], die er erspürt, wenn er die geschaffene Zeit verlässt (s. Konzept „Fana fillah“).

Es zeigt sich in jener mystischen Erfahrung, dass die wahre Natur des Egos als freie, dynamische und anleitende Energie anzusehen ist, deren Gegenwart mit der Vergangenheit und Zukunft verknüpft ist und freie Handlungen schaffen kann. Sie ist abhängig vom Befehl bzw. der anleitenden Energie eines Gottes. Hierfür zieht Iqbal folgenden Koranvers an: „Und sie werden dich über die Seele befragen. Sprich: Die Seele ist auf den Befehl (amr) meines Herrn erschaffen; euch aber ist nur wenig Wissen gegeben“ (17:85).

Das Selbst ist also kein feststehendes Ding, sondern ein schöpferischer, freier und zweckgerichteter Akt. Es ist die in reiner Dauer bestehende, anleitende Energie, von der die Wirklichkeit des Menschen abhängt und welche die gesamte menschliche Persönlichkeit unterströmt.[14] Das Individuum ist deshalb als dynamisches Zentrum von Urteilen, Zielen, Handlungen etc. zu betrachten, das verstanden, eingeschätzt und interpretiert werden muss.

Für Iqbal reichen speziell die mechanistischen Erklärungen, die einen Allgemeinheitsanspruch verfolgen, nicht aus, um das Verhältnis von Materie, Leben und Geist zu erklären. So stellt er fest, dass das Leben, welches besonders durch Spontaneität gekennzeichnet ist, wissenschaftlich unbestimmt bleibt und somit aus dem Bereich der Notwendigkeit herausfällt.[15] Lebendige Organismen planen und führen ihr Handeln zweckgerichtet aus, sodass ihre teleologischen Handlungen sich von den kausalen Handlungen unterscheiden. Sie unterscheiden sich gerade von Maschinen darin, dass sie sich selbst erhalten und reproduzieren sowie Wachstum und Anpassung erfahren.[16] Das Leben stellt daher ein einzigartiges Phänomen dar. Innerhalb der Prozesse des Wachstums und der Anpassung an der Umwelt besitzt das Leben eine für die Maschine undenkbare Laufbahn. Das Vorhandensein einer Laufbahn impliziert, dass ihre Aktivität nur durch eine spirituelle Realität erklärt werden kann.

Durch die Intuition enthüllt sich die Struktur einer dynamischen, sich kontinuierlich entfaltenden Wirklichkeit, die in der reinen Dauer existiert. In diesem Zustand ist die Veränderung keine Abfolge wechselnder Haltungen, sondern erweist sich vielmehr als eine ständige Schöpfung und Enthüllung unendlich kreativer Möglichkeiten.[17] Es lässt sich durch die Intuition zeigen, dass zu leben bedeutet, ein zentralisierendes, sich in reiner Dauer realisierendes Ego zu sein[18], welches die verschiedenen inneren Akte zusammenhält. Sie zeitigt explizit die Interpretation, dass die höchste Natur der Realität spirituell ist. Dieses Wissen mag, wie Iqbal feststellt, aufgrund der anthropomorphen Sichtweise unvollkommen sein, gibt jedoch den einzigen Ausgangspunkt für die direkte Enthüllung des Lebens.[19]

Das Charakteristikum des menschlichen Lebens als freie, schöpferische Energie wird durch die Enthüllungen der „religiösen“ bzw. mystischen Erfahrung deutlich. Analog zum menschlichen Ego ist das Universum ebenso als eine freie schöpferische Handlung zu verstehen, die fortwährend neu und unvorhersehbar ist. Vor allem der Koran vertritt die Einsicht, dass das Universum sich stetig ausdehnt und daher kein fertiggestelltes Produkt ist, die der Schöpfer zurücklässt.[20] Auch die moderne Naturwissenschaft, z.B. die Relativitätstheorie, zeigt nach Iqbal auf, dass das Universum kein fester Stoff ist, „der eine Leere besetzt“[21]. Nach der Relativitätstheorie gibt es keinen absoluten Raum und keine absolute Zeit. Beide sind zwar real, aber für den Beobachter relativ. Die Masse, Form und Größe verändern sich nämlich mit der Veränderung der Position und Geschwindigkeit des Beobachters. Dies zeigt deutlich, dass das Universum eher eine Struktur von Vorfällen bzw. eine Verhaltensweise ist, die sich nach Whitehead als einen kontinuierlichen, kreativen Fluss charakterisieren lässt.[22] Dieser kreative Fluss offenbarte sich im tiefen Innern des Egos schon als reine Dauer. Die Welt als schöpferische Handlung muss somit auch in reiner Dauer bestehen. Im Koran wird die Erschaffung der Welt als ein Befehl Gottes beschrieben, das mit dem „dem Blinzeln eines Auges“ verglichen wird.[23] Somit ist der seriell erscheinende Schöpfungsprozess aus göttlicher Perspektive ein einziger und unteilbarer Akt.

Die Bewegung des Lebens, welches durch organisches Wachstum geprägt ist, ist ein synthetischer und unteilbarer Prozess, der von Zielen bestimmt ist und somit Intelligenz aufweist.[24] Es hat sich durch die intuitive Sicht gezeigt, dass eine Einheit existiert, welche alle inneren Akte in ihrer Mannigfaltigkeit zusammenhält. Dies führt zur Vorstellung der höchsten Realität als reine Dauer, „in der das Denken, das Leben und der Zweck sich gegenseitig durchdringen, um eine organische Einheit zu formen.“[25] Diese Einheit der höchsten Realität hält das Universum in all seiner Vielfalt zusammen. Sie ist analog zu der Einheit des Egos ebenso als Einheit eines allumfassenden Selbst zu verstehen, welches die Quelle allen individuellen Lebens und Denkens darstellt.[26] Dies bedeutet nicht, Gott zu vermenschlichen, sondern zeigt nur, dass er als Organisationsprinzip eine einheitliche Verhaltensweise aufweist.

Die Welt ist dem göttlichen Selbst als eine systematische Verhaltensweise gegenüber organisch, die sich zu ihm wie der Charakter zum menschlichen Selbst verhält.[27] Wenn das Universum das Verhalten Gottes darstellt, so ist die Realität in ihrem Wesen letztlich spirituell. Nach Iqbal schafft das höchste Ego alle anderen, kleinen Egos. Die ganze Welt ist damit letztendlich eine Selbstenthüllung des „Großen Ich bin“.[28] Jedes Atom der göttlichen Energie ist demnach ein Ego, welches im Schatten des höheren Egos steht. Die Evolution spielt hierbei als ein Prozess der Perfektionierung eine Rolle, in dem das Mentale mit zunehmender Macht dazu neigt, das Physische zu dominieren.[29] An der Spitze dieser Evolution steht der Mensch, der dem höchsten Ego aufgrund seiner Existenz in reiner Dauer und der damit verbundenen Anteilnahme an der göttlichen schöpferischen Energie am nächsten ist. Der Koran bestätigt diese Ansicht und beschreibt, dass Gott dem Menschen näher ist als seine eigene Halsschlagader. Von allen Schöpfungen Gottes ist deshalb allein er in der Lage, bewusst am kreativen Leben seines Schöpfers teilzuhaben und mit ihm eine Beziehung aufzubauen.

Somit zeigt Iqbal mit seiner These, dass die Welt und die Menschen nicht materialistisch, sondern spirituell wahrzunehmen sind. Dies wird durch die Intuition und die Erfahrungen der Religionen erkennbar. Diese Erfahrungen zeigen nach Iqbal, dass alles letztlich auf das Geistige zurückzuführen ist und wir in einem unmittelbaren Verhältnis zum Göttlichen stehen.

Fußnoten

1 Vgl. Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam. Berlin/Ungarn 2010, S. 22.
2 Ebd., S. 32.
3 Ebd., S. 25.
4 Vgl. ebd., S. 209.
5 Ebd., S. 40.
6 Vgl. ebd., S. 26.
7 Ebd., S. 73.
8 Vgl. ebd.
9 Lehmann, Gerhard: Die Philosophie im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, Teil 1. Berlin 2019, S. 115.
10 Zanfi, Caterina: Selbstschöpfung des Ich durch seelische Energie bei Henri Bergson. In: Dreiviertel-Ich: Identitäten Texte zum 6. Festival der Philosophie Hannover. Münster 2018, S. 168.
11 Vgl. Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, S. 74.
12 Vgl. ebd., S. 74.
13 Vgl. Schimmel, Annemarie: The Idea of Prayer in the Thought of Iqbāl, S. 210.
14 Kumar, Shiv K.: Bergson’s Theory of the Novel. In: Modern Fiction Studies Vol 6, No.4., Baltimore 1960-61, S. 334.
15 Vgl. Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, S. 77.
16 Vgl. ebd., S. 69.
17 Vgl. ebd., S. 86.
18 Vgl. ebd., S. 87.
19 Vgl. ebd., S. 85.
20 Vgl. ebd., S. 82.
21 Ebd., S. 78.
22 Vgl. ebd., S. 59.
23 Vgl. ebd., S. 75.
24 Vgl. ebd., S. 78.
25 Ebd., S. 82.
26 Vgl. ebd.
27 Vgl. ebd., S. 83.
28 Vgl. ebd., S. 98.
29 Vgl. ebd., S. 133.

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