Als die Türken ab dem 10. Jahrhundert den Islam anzunehmen begannen, vermengten verschiedene Stämme, die als Nomaden oder Halbnomaden lebten, ihre neue Religion mit unterschiedlichen althergebrachten religiösen Vorstellungen. So entstand das Alevitentum. Anfangs formierte es sich in verschiedenen sufistischen Strömungen, die auf Menschen wie Yesevi, Wefa’i, Kalanderi oder Haydari zurückgehen. Vom 10. bis zum 14. Jhdt. wurde es in Anatolien von alten Kulten beeinflusst, später dann mit den Hurufiten und vorübergehend bis zu einem gewissem Grad auch mit den Batiniden konfrontiert. Im Zuge der Begegnung mit den Safawiden fanden auch einige Elemente der Vorstellungswelt der Zwölferimam-Schiiten Eingang ins Alevitentum. Dadurch, dass das Alevitentum allen diesen Einflüssen ausgesetzt war, stellt es ein „Gemisch“ aus ihnen dar.
Die kulturellen Quellen des Alevitentums – die unterschiedlichen Versionen von Vilayetnames (Legendensammlungen), Gedichten, Nefes (vertonten Gedichten), Buyruk-Werken und anderen Werken – lassen sich in vier Gruppen unterteilen.
Vor allem das Vilayetname von Haci Bektasch Veli und die Gedichte von Pir Sultan Abdal sind von großer Bedeutung. Ersteres besteht aus Erzählungen von und über Haci Bektasch Veli, die ca. 200 Jahre nach seinem Tod zusammengetragen wurden. In ihm finden sich kulturelle Züge des alttürkischen Glaubens (Schamanismus), fernöstlicher Religionen wie Buddhismus und Zoroastrismus und persischer Religionen wie Manichäismus und Mazdeismus (Religion der Feuerläufer). Natürlich enthält dieses Werk aber auch islamische Glaubensinhalte und Gebete. So beginnt es z.B. mit einer islamischen Formel, die Gott lobpreist und Segenswünsche für den Propheten Muhammad und seine Familie bereithält.
Dieses Vilayetname weist Haci Bektasch Veli als einen rechtschaffenen Muslim und spirituellen Führer aus. Es verdeutlicht, dass er die Pflichtgebete verrichtete und die Pilgerfahrt nach Mekka vollzog. Obwohl es durchaus vorislamische türkische Glaubensmotive enthält, dominieren doch der islamische Glaube an Gott und den Propheten Muhammad. Die wesentlichen islamischen Glaubensinhalte werden also in diesem Werk bestätigt.
Für die Darstellung der alevitischen Glaubensvorstellungen und Gebete bildet die alevitisch-bektaschitische Literatur, die aus Gedichten und Gesängen besteht, die wichtigste Quelle. Die wichtigsten Grundpfeiler dieser Literatur sind die „sieben großen Volksdichter“: Nesimi, Hatayi (Schah Ismail), Fuzuli, Pir Sultan Abdal, Kul Himmet, Yemini und Virani. Vor allem Pir Sultan Abdal war für die Entwicklung des Alevitentums außerordentlich wichtig: Er wurde 1514 in Yildizeli bei Sivas geboren und lebte bis 1590 in der Umgebung der osttürkischen Stadt Sivas. Zu seinen Lebzeiten regierte der Sohn des Schahs Ismail. Pir Sultan Abdal organisierte im Namen des Staates der Safawiden einen Aufstand gegen den osmanischen Staat. Er wurde jedoch besiegt und von einem osmanischen Wesir namens Hizir Pascha in Sivas hingerichtet. Da er den Kizilbasch-Turkmenen, die sowohl von alttürkischen Glaubensinhalten als auch vom batinidischen Schiitentum und vom Zwölferimam-Schiitentum beeinflusst waren, zugehörte und weil sich die Gesellschaft, in der er lebte, in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befand, rebellierte er gegen die Osmanen, die er für die schwierige Lage verantwortlich machte, und rief die Bevölkerung zur Unterstützung des Safawiden-Schahs im Iran auf. Nach seiner Hinrichtung nahm die Unzufriedenheit gegen die osmanische Zentralregierung weiter zu, und er selbst wurde posthum glorifiziert. Seine ausdrucksstarken Gedichte wurden über die Jahrhunderte hinweg von einer Generation an die andere weitergegeben. Es wurde zur Tradition, sie zu allen möglichen Anlässen vorzutragen. Im Laufe der Zeit wurde ein sogenannter Diwan erstellt, der fast alle Gedichte von Pir Sultan Abdal umfasst.
Dieser Diwan beinhaltet neben allgemeinen islamischen Glaubensmotiven auch batinidische, hurufitische und schiitische Glaubensansichten. In seinen Gedichten betont Pir Sultan Abdal die Existenz und die Einheit Gottes, und er hebt die Bedeutung des Gebets zu Gott hervor. An einigen Stellen wiederum vergöttlicht er auch Ali, den Schwiegersohn des Propheten Muhammad.
Die kulturelle Autonomie der Kizilbasch-Turkmenen/Aleviten hat einen Mischglauben entstehen lassen, der sich aus dem einheimischen Glauben im Iran und in Anatolien, aus christlichen, philosophischen und sufistischen Motiven sowie aus altindischen, altchinesischen und alttürkischen religiösen Bräuchen speiste. In diesem Mischglauben ist dem islamischen Glauben und islamischen Glaubensvorstellungen aber ein besonderer Platz reserviert.
Eine weitere Quelle des Alevitentums stellen die sogenannten Buyruk-Werke dar, die verschiedene Namen wie Futuwwatname, Buyruk Imam Cafer, Buyruk Scheich Safi tragen. In diesen Schriften, die unter den Kizilbasch weit verbreitet sind, werden die Prinzipien und Verhaltensregeln des „Pfades“ (des alevitischen Lebens) behandelt. Neben den vorislamischen Glaubensmotiven, die allerdings nur am Rande zur Sprache kommen, werden vor allem auch auf den Islam zurückzuführende sufistische Begriffe wie Gottesgedenken, Reue, Bescheidenheit, Verbundenheit mit dem Meister, Gottesliebe und vollkommener Mensch erläutert.
In einem der Buyruk-Werke wird gesagt, es sei Pflicht, mit dem gesunden Menschenverstand an die Existenz und Einheit Gottes und an die Prophetenschaft Muhammads zu glauben. In einem anderen wird dazu aufgefordert, das islamische Bezeugungswort wie folgt zu sprechen: „Ich glaube, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und dass Muhammad der Gesandte Gottes und Ali der nahe stehende Freund Gottes ist.“
In den meisten Buyruk-Werken findet sich ein Abschnitt namens „4 Pforten und 40 Stationen“, in dem auch die grundlegenden islamischen Gebete thematisiert werden. In der dritten Station der ersten Pforte (namens Scharia) werden z.B. das Pflichtgebet, das Fasten und die Sozialabgabe erläutert. Die Pilgerfahrt wird im Buyruk von Scheich Safi erwähnt. Außerdem wird auch speziellen schiitischen Elementen große Bedeutung zugemessen.
Am Werk Makalat von Haci Bektasch Veli wird deutlich, was genau unter den „4 Pforten und 40 Stationen“ (4 Pforten mit jeweils 10 Stationen) zu verstehen ist: Ihm zufolge handelt es sich dabei um materielle und seelische Ränge, die die Anhänger des Pfades erklimmen sollen.
Haci Bektasch Veli war sehr stark von Ahmed Yesevi geprägt, dem ersten Sufi, der die Prinzipien seines Pfades auf der Basis von 40 Stationen geordnet hatte. Jener hatte seine Einteilung von 4 Pforten und 40 Stufen auf Ali zurückgeführt. Seine Vorstellungen, die er in seinem Werk Fakrname präsentierte, weisen eine große Ähnlichkeit zu dem von Haci Bektasch Veli in dessen Werk Makalat vorgestellten System auf.
Auch er erwähnt 4 Pforten und 40 Stufen, anhand derer er die Prinzipien und Verhaltensregeln seines (bektaschitischen) Weges darstellt:
Die erste Pforte ist die Scharia. Ihre einzelnen Stufen lauten:
1) Glauben 2) Wissen erwerben 3) Gebete verrichten, fasten, Sozialabgabe leisten, Pilgerfahrt vollziehen, große Waschung (Ghusl) vollziehen und im Kriegsfall nicht fliehen, sondern kämpfen 4) das tägliche Brot auf legitime Art und Weise verdienen, sich von Verbotenem fern halten 5) die Trauung vollziehen 6) nach der Geburt keine sexuellen Beziehungen im Wochenbett pflegen 7) den Leuten der Sunna und der Gemeinschaft angehören 8) gnädig sein 9) rituell rein (halâl) essen und sich rein kleiden 10) das Gute gebieten und das Schlechte verbieten.
Die zweite Pforte ist der Weg (Tarîqa). Ihre Stufen sind:
1) Mit einem geistlichen Führer (Pir) Kontakt aufnehmen und Buße tun 2) Schüler sein 3) Haare schneiden und Kleidung wechseln 4) gegen niedere Gelüste kämpfen, reif sein 5) den Menschen dienen 6) Furcht vor Gott haben 7) hoffnungsvoll sein 8) Wolljacke, Schere, Gebetsteppich, Gebetskette, Nadel und Stock besitzen 9) auf Gottes Lenkung vertrauen, anpassungsfähig in der Gesellschaft sein, auf Ratschläge hören und liebevoll sein 10) über Liebe, Eifer, Freude und Armut verfügen.
Die dritte Pforte ist die Erkenntnis (Ma’rifa). Ihre Stufen sind:
1) Wissen 2) Freigebigkeit 3) Schamgefühl 4) Geduld 5) Genügsamkeit 6) Furcht 7) gutes Benehmen 8) Armut 9) Erkenntnis 10) Selbsterkenntnis.
Die vierte Pforte ist die Wahrheit (Haqîqa). Ihre Stufen sind:
1) Zu Erde werden 2) die 72 Nationen nicht beleidigen 3) die eigene Hand kontrollieren 4) Gottvertrauen haben 5) sich der Einheit Gottes und dem Weg Muhammads und Alis ergeben 6) bei Unterhaltungen die Wahrheit sagen 7) Geheimnisse bewahren 8) Wohlgefallen finden 9) nachdenken 10) Gott erreichen.
Die erste Station der ersten Pforte beginnt also mit dem Glauben an Gott, und die letzte Station der letzten Pforte endet mit dem Erreichen Gottes. Dazwischen befinden sich spirituelle Stationen, die man der Reihe nach hinter sich lassen soll.
An der ersten Pforte werden die islamischen Grundprinzipien gelehrt. Diese Pforte verkündet eine allgemein gültige Ordnung und allgemein gültige Gesetze. Die zweite Pforte beschäftigt sich mit den Wegen, die zum Bektaschi-Weg führen, und gebietet, dass man sich einem spirituellen Führer (Murschid) anvertraut. An der dritten Pforte wird der Mensch in den Geheimnissen der Schöpfung unterwiesen. An der vierten Pforte schließlich erreicht der Mensch Gott. Die insgesamt 40 Stufen beinhalten alle Prinzipien, die das diesseitige und jenseitige Leben regeln.
Quelle: Mertek, Muhammet (2012), Der Islam: Glaube, Leben, Geschichte, INID/Hamm.