Was mache ich eigentlich hier, warum bin ich ausgerechnet jetzt an dieser Stelle? Jeder Mensch, der nachdenkt, der seinen Platz im Leben sucht, wird sich früher oder später diese Frage stellen. Von ihrer Beantwortung hängt entscheidend ab, ob er einen Sinn im Leben entdeckt und für sich selbst eine positive Aufgabe, seinen persönlichen Weg, findet.
Warum etwa sind die Muslime nach Deutschland gekommen bzw. geholt worden? Hört man sich um, heißt es von allen Seiten leider immer wieder: „Wegen des Geldes. Da waren die einen, die eine erträgliche Arbeitsstelle suchten, und die anderen, die für ihre Wirtschaft dringend Arbeiter benötigten – dass man auf Dauer beieinander bleiben würde, konnte ja keiner ahnen.“
Ist also unser Zusammenleben bloß ein ‚dummer Zufall‘, ein Triumph des Materialismus? Solange wir davon überzeugt sind, ist es nicht weiter verwunderlich, dass es überall knirscht, dass allerorten gegenseitiges Misstrauen und Vorurteile herrschen und dass viele junge Muslime in Deutschland Schwierigkeiten haben, eine positive Identität, ein starkes Selbstbewusstsein und Akzeptanz zu finden.
Glauben wir aber denn nicht alle an den Einen Gott, der Herr der Geschichte ist und schon vor Beginn der Zeit von jedem Blatt wusste, dass demnächst von den Bäumen zur Erde fallen würde? Als ich mich als Christ mit dem Islam beschäftigte, fand ich zu meiner Überraschung auch wertvolle Abschnitte der Geschichte Ismaels, des Stammvaters der Muslime, in der Bibel wieder. Von Gottes Segen auf ihm wird berichtet, von Abrahams Liebe zu ihm – und von der Prophezeiung, die seiner Mutter Hagar noch vor seiner Geburt von einem Engel gegeben wurde: „Und er (Ismael) wird wohnen mitten unter seinen Brüdern und er fordert sie alle heraus!“ (1.Mose 16,12)
Offensichtlich hat Gott Seine Prophezeiung wahr gemacht: Inzwischen leben wir zusammen – und fordern einander heraus. Besteht aber diese Herausforderung wirklich darin, dass wir einander mit allen Mitteln der Macht, des Vorurteils und der Bedrängung entgegentreten? Ganz und gar nicht, denn nur weil solche Konfrontationen im Laufe der Geschichte von allen Seiten viel zu oft praktiziert wurden, ist die Religion überhaupt in Verruf geraten, etwas zu sein, was die Menschen trennt, zur Intoleranz anstiftet und gegeneinander aufbringt, was Fortschritt und Frieden eher behindert als fördert.
Ein Schlüssel zu einem anderen Verständnis von ‚Herausforderung‘ findet sich in der Bibel (siehe auch dazu im Neuen Testament Matthäus 12,33 ff. oder 25,31 ff.!) – und ebenso klar, deutlich und schön im Koran, etwa wenn geboten wird „nur auf die beste Weise“ zu streiten und den Blick auf die Gemeinsamkeiten zu richten.
Im Koran heißt es:„Einem jeden von Euch haben Wir eine klare Satzung und einen deutlichen Weg vorgeschrieben. Und hätte Gott gewollt, Er hätte Euch alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht, doch Er wünscht, Euch auf die Probe zu stellen durch das, was Er Euch gegeben. Wetteifert darum in guten Werken. Zu Gott ist Euer aller Heimkehr; dann wird Er Euch aufklären über das, worüber Ihr uneinig wart.“(5:49)
Wenn Gott gewollt hätte, hätte Er nur eine einzige Glaubensrichtung gestiftet, aber Er wünscht ein ‚Wetteifern‘ in guten Werken! Nicht Gewalt, rechthaberische Streitereien oder abstrakte Predigten von Frieden, Glaube und Hoffnung zählen vor Gott, sondern die konkreten Früchte, die wir aus unserem jeweiligen Glauben voreinander und füreinander hervorbringen, bis Gott selbst eines Tages gerecht zwischen uns allen entscheiden wird.
Mancher wird bei diesem Gedanken vielleicht an die Ringparabel Lessings in „Nathan der Weise“ denken, und tatsächlich hat die neuere Forschung ergeben, dass Lessing wohl nicht nur den Islam generell, sondern insbesondere auch die oben erwähnte Sure kannte. Kaum jemand wagt es noch, Nathans Aufforderung an die Juden, Christen und Muslime einen Zufall zu nennen: „Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an den Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hilf!“ (3.Aufzug, 7.Auftritt)
Die innigste „Ergebenheit in Gott“ – wie Goethe, so weist auch Lessing hier bewusst auf den Islam hin!
Als praktizierender Christ kann ich aus dem Glauben, aus der Schrift und auch aus eigener Erfahrung heraus sagen: Dass heute Muslime in Deutschland leben, ist kein ‚Unfall‘, sondern eine Gnade und ein Geschenk des Einen Gottes! Wenn es uns gelingt, die oft verborgene Angst zwischen uns zu überwinden, werden wir uns gegenseitig in vielen Dingen ein Beispiel geben können. Wir werden uns den Quellen von Glauben, Liebe und Spiritualität nähern und dabei erfahren, dass Begegnung und Dialog die jeweils eigene Identität nicht bedrohen, sondern im besten Sinne festigen. Wir werden miteinander besser gegen Armut, Gewalt und Ungerechtigkeit angehen können – auf globaler Ebene, aber auch im eigenen Land. Im Sport, in der Kultur, in der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Gesellschaft – überhaupt in allen Bereichen des menschlichen Lebens wurden die besten Leistungen stets durch fairen und gesunden Wettbewerb erzielt. Daher könnten die Gläubigen der verschiedenen Religionen darin wetteifern, das in ihren Glaubensrichtungen angelegte Gute und Wahre füreinander zu entfalten und besser zu verwirklichen.
Nein, das ist keine abstrakte Theorie, sondern etwas, dass sich immer dann beobachten lässt, wenn Menschen verschiedener Religionen miteinander ins Gespräch kommen, wenn sie voneinander lernen und aneinander wachsen!
Gott hat uns in diesem Land mit großen und bei weitem nicht selbstverständlichen Gaben des Wohlstands, der Bildung und auch des Friedens beschenkt. Sicherlich wird Er uns alle am Jüngsten Tage auch danach fragen, wie wir Seine Güter verwaltet haben.
Haben wir nicht von den vielen Krisenregionen dieser Welt Frieden, Gerechtigkeit und Vernunft verlangt, ohne diese aber in Deutschland und Europa, wo wir doch relativ frei und geschützt leben, selbst anzustreben? Haben wir nicht von anderen Toleranz und Weisheit erwartet, ohne selbst die Freiheit, den Wohlstand und die großen Chancen der Bildung zu nutzen, um an uns selbst zu arbeiten? Haben wir nicht von anderen Respekt vor Leben und Würde aller Menschen eingefordert, selbst aber die Mahnungen der Geschichte nicht ernst genommen und aus Überheblichkeit darauf verzichtet, als Glaubende gemeinsam gegen jede Form von Intoleranz, Hass und Gewalt einzutreten?
Gott hat uns eine Aufgabe gestellt, jedem Einzelnen von uns und allen Gläubigen gemeinsam. Es liegt an uns, an einer Zukunft mitzubauen, die an die glücklichen Zeiten des Zusammenlebens – etwa in al-Andalus – anknüpft, an einem Europa, in dem der Jude Jude, der Christ Christ und der Muslim Muslim sein kann, ohne benachteiligt oder bedrängt zu werden; an einem Europa, in dem Vielfalt als Bereicherung empfunden wird und in dem Glaube, Liebe und Spiritualität wieder als Kräfte des Friedens und der Hoffnung angesehen werden.
Wenn wir diese Aufgabe heute erfüllen, werden vielleicht spätere Generationen Gott dafür danken, dass Er in Seiner Weisheit überall auf der Welt und auch hier in Deutschland Juden, Christen und Muslime zusammengeführt hat. Mutig aufzubrechen wie Abraham, sich miteinander und füreinander auf den Weg zu machen: Das könnte der erste kleine Schritt hin zu einem großen Frieden sein!