Im Zuge der rasanten Verbreitung des Islams nahmen immer mehr Menschen die neue Religion an. Als Konsequenz traten in allen Provinzen schon bald spezifische Probleme auf, deren Lösung nicht direkt dem Koran zu entnehmen war. Schon sehr früh widmeten sich daher Rechtsgelehrte der Deutung des Korans und trugen ihr Wissen selbst in die entlegensten Regionen. In den Anfängen des Islams hatten die „rechtgeleiteten“ ersten vier Kalifen und die Gefährten des Propheten Muhammad die islamischen Gemeinden geführt und rechtliche Normen erlassen. Die Zeitzeugen des Propheten und die Mitglieder der islamischen Frühgemeinde hatten eine besondere Autorität besessen. Ihre Standpunkte in religiösen Fragen und ihre Überzeugungen in Bezug auf Normen des gesellschaftlichen Lebens behielten folglich auch in späteren Zeiten Gültigkeit. Doch schon zu jener Zeit waren die Muslime verstärkt mit Umständen und Rechtsfällen konfrontiert, die durch das Heranziehen der bis dahin einzig maßgeblichen Quellen Koran und Sunna kaum gelöst werden konnten. Unter den Umayyaden (661-750) verschärfte sich dieses Problem noch weiter. Im Laufe der Zeit wurden daher Rechtsnormen, Institutionen und praktische juristische Maßnahmen übernommen und zur Anwendung gebracht, derer man sich in den eroberten Gebieten bediente und die nicht in Widerspruch zu den Grundprinzipien des Islams standen. In diese Zeit fällt auch die Abspaltung der Gruppe der Schiiten von der übrigen Gemeinschaft. Grund für diese Abspaltung waren die Meinungsverschiedenheiten über die Regelung der Nachfolge Muhammads. Für die Schiiten (die Schi’at Ali – Partei Alis) stand fest, dass der Nachfolger Muhammads – der Kalif und damit die führende Persönlichkeit der islamischen Gemeinschaft – ein enger Angehöriger des Propheten, also ein Mitglied seiner Familie sein musste. Dies traf aber nur auf Ali zu. Die Schiiten betrachteten also die ersten drei Kalifen als unrechtmäßige Nachfolger des Propheten. Innerhalb der Schia bildeten sich im Laufe der Zeit eigene Rechtsschulen heraus. Die wichtigste unter ihnen ist die Rechtsschule der Dschafariten.
Neben dem Grundsatz, dass die Abstammung vom Propheten Muhammad die Grundvoraussetzung für die Übernahme des Kalifenamtes bildet, ist für die Schiiten besonders wichtig, dass ein Imam, eine Autorität innerhalb der islamischen Gemeinschaft, eingesetzt werden muss. Dieser Imam steht in der Nachfolge Alis. Er stellt praktisch eine unfehlbare Instanz dar, der sogar das Freisein von Sünden bescheinigt wird.
Die Sunniten, die Mitglieder der islamischen Gemeinschaft, betonen, Ali sei zwar der vierte der rechtgeleiteten Kalifen gewesen, sind aber der Auffassung, Abu Bakr sei als erster Kalif noch geeigneter gewesen, weshalb sich die Gemeinschaft ja auch für ihn entschied. Die Anhänger der Schia, die Schiiten, dagegen behaupten, Ali habe das Recht zugestanden, erster Kalif zu werden. Ihm sei Unrecht zugefügt worden. Die Tatsache, dass Ali die drei Kalifen vor ihm über 20 Jahre hinweg vielfach mit Rat und Tat unterstützte, widerlegt diese These jedoch. Auch die Verbreitung des Islams und die Kämpfe gegen seine Feinde zur Zeit der Kalifen vor Ali sowie die Ereignisse zur Regierungszeit Alis sprechen gegen die Lehren der Schia. Die Schia lässt sich in Anhänger Alis, die sein symbolhaftes islamisches Leben verehren, und in Befürworter des Kalifats Alis einteilen. Bei der zweiten Gruppe dominieren die politischen Interessen.
Die Schia, die Schi‘at Ali (Partei Alis) war ursprünglich eine oppositionelle Gruppe, die sich gegen die Umayyadendynastie stellte. Ihre Opposition war jedoch nicht religiös begründet, sondern politisch. Sie wollte Macht, hatte aber keine Chance, sie zu bekommen. Als Konsequenz vollzog sie gegen Ende der Umayyadenzeit einen Kurswechsel und definierte sich fortan religiös. Sie führte vermehrt religiöse Argumente gegen die Umayyaden und später gegen die Abbasiden ins Feld. Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie dabei der Ermordung des vierten Kalifen Ali und seines Sohns Husayn, der Unterdrückung in der Umayyaden- und Abbasidenzeit sowie später der Niederlage des persischen Schahs Ismail gegen den Osmanensultan Selim I. im Jahr 1517.
Was die Person Alis betrifft, so sind seine persönliche Integrität und sein Rang zweifellos hoch einzuschätzen. Auch viele sunnitische Rechtsgelehrte wie Abu Hanifa und Muhammad asch-Schafi’i hatten eine tiefe innere Beziehung zu Ali. Allerdings muss sich die Liebe zu Ali an islamischen Maßstäben orientieren. Eine Erhöhung seiner Person, die ihn über alle anderen Menschen erhebt, ist übertrieben. Sie führt zwangsläufig zu einer Erniedrigung der Kalifen vor ihm.
Maßgeblich für die Ausprägung des persischen Schiitentums war, dass die Perser auch nach dem Übertritt zum Islam an alten kulturellen Bräuchen und religiösen Institutionen festhielten und diese lediglich in neue ‚islamische Gewänder‘ kleideten. Die Hauptströmung der Schiiten wird als Zwölfer-Schia (auch Imamiten) bezeichnet. Dieser Name geht auf zwölf Imame zurück, die als die einzigen legitimen Nachfolger des Propheten Muhammad und als die einzig reinen Bewahrer seiner Botschaft gelten. Bis auf den letzten wurden alle diese Imame von den Umayyaden bzw. Abbasiden ermordet. Der letzte Imam dagegen soll im Verborgenen weiterleben. Die Schiiten hoffen auf seine Rückkehr; dann werde er die Welt von Ungerechtigkeit befreien. Gedanken dieser Art sind der Mehrheit der Muslime fremd.
Neben den Imamiten, die zwölf legitime Imame akzeptieren, sind weitere wichtige schiitische Untergruppen die Zaiditen, die nur fünf Imame aus der direkten Nachkommenschaft Alis als rechtmäßig anerkennen, die Ismailiten, die sieben Imame kennen und keinen Wert auf die Blutsverwandtschaft der Imame mit dem Propheten legen, sowie die Nusairiten oder Alawiten, die die Person Alis vergöttlichen. Diese arabischen Alawiten, die vor allem in Nordwestsyrien leben, unterscheiden sich jedoch von den Aleviten Anatoliens.
Quelle: Mertek, Muhammet (2012), Der Islam: Glaube, Leben, Geschichte, INID/Hamm.