Die Wahrheit ist wie eine Rose, deren Strahlkraft nicht jeder erträgt. Gern wird sie daher unter den Teppich gekehrt, geleugnet oder erstickt. Nicht selten mussten Menschen um der Wahrheit willen leiden und sterben. Und doch hat die Geschichte diese Wahrheit oft genug nach Jahrzehnten wieder auferstehen lassen. Denn: Du kannst einem Rosenstrauch zwar die Blüten abschneiden, und das mag noch so schmerzhaft sein, doch irgendwann treibt der Stock wieder neue Knospen, und diese werden zu noch herrlicheren Blüten, die umso unübersehbarer in die Welt hinaus strahlen und die man dann nicht mehr ignorieren kann.
Die Widerstandsgruppe Weiße Rose, die seit 1942 unter der NS-Herrschaft im Namen der Wahrheit und Aufrichtigkeit gegen Tyrannei und Menschenverachtung gekämpft hat und deren Mitglieder ihr Leben geopfert haben, ist nicht nur ihrem Namen nach eine solche Rose. Ihre Mitglieder waren eine Handvoll junger Menschen, die sich mit dem Wahnsinn der Diktatur, des Krieges und des Massensterbens nicht abfinden wollten. Ihr Ziel war es, die Deutschen wachzurütteln.
Eine weiße Rose symbolisiert die Tugend und Reinheit, sie steht wider Terror und Tyrannei und kann auch, selbst wenn es so scheint, durch deren Gewalt nicht gebrochen werden. Diese tapferen jungen Leute – es waren Hans und Sophie Scholl, deren Freunde Christoph Probst, Alexander Schmorell und Willy Graf sowie Professor Kurt Huber an – wollten nicht hinnehmen, dass sich gebildete, vordem zivilisierte Menschen in Deutschland von der Politik der Nationalsozialisten vereinnahmen ließen und deren rassistischen Parolen blind folgten. Sie handelten ohne jedes Zögern und stellten sich furchtlos einem ganzen verbrecherischen Regime entgegen, indem sie Flugblätter verteilten, Plakate klebten und Anti-Hitler-Parolen an Hauswände und Mauern schrieben. „Nieder mit Hitler“ oder „Es lebe die Freiheit“. Sie wollten nicht zulassen, dass IHR Land von einem besessenen Diktator in eine unaufhaltsame Katastrophe geführt wird.
Zum Schicksalstag wurde der 18. Februar 1943, als Sophie und ihr Bruder Hans Scholl einen Stapel Flugblätter von der Balustrade des Lichthofs im Foyer der Universität München herab rieseln ließen und sie dabei von dem sich in der Nähe befindlichen Hausmeister Jakob Schmid beobachtet und an die Gestapo gemeldet wurden. Schon vier Tage später wurden sie unter der Guillotine hingerichtet. Ein grausames Schicksal, aber ein so leuchtendes Zeichen, das kraftvoll und bewundernswert bis in unsere Tage hinein strahlt.
Es war das sechste Flugblatt, das zu dieser letzten Aktion gehörte. Professor Kurt Huber war der Verfasser, auch er fiel der Gestapo in die Hände und wurde am 19. April 1943 beim zweiten Weiße-Rose-Tribunal des Volksgerichtshofs gemeinsam mit Willy Graf, Alexander Schmorell und zwölf weiteren Angeklagten zum Tode verurteilt. Schmorell und Huber wurden am 13. Juli 1943 mit dem Fallbeil hingerichtet. Das Flugblatt war klar und kompromisslos formuliert, aus ihm sprechen gleichsam Mut und Fassungslosigkeit, und es ist trotz der tiefen zum Ausdruck gebrachten Gefühle ein Appell, der auch in unserer Gegenwart Bedeutung hat: “Wollen wir den niedrigsten Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest unserer deutschen Jugend opfern? Nimmermehr! (…)”
Freiheit und Ehre! – zwölf lange Jahre hat das Hitler-Regime diese großartigen Worte gewaltsam ins Gegenteil verkehrt. Was die Nazis in Deutschland und Europa durch Zerstörung und Vernichtung hinterlassen hatten, das mussten die Überlebenden der Tyrannei durch schwere Arbeit und aufopferungsvolle Vertrauensbildung wieder herstellen. Geistige Freiheit, sittlich moralische Werte und die gesellschaftliche Toleranz sind keine Errungenschaften, die einem Volk in den Schoß fallen. Die Erinnerung und das Gedenken an die Taten der Weißen Rose trugen jedoch dazu bei, dass dies langfristig gelingen konnte. Ob das Nazi-Regime mit seinen Gräueltaten jedoch wirklich allen Deutschen die Augen geöffnet hat, mag dahingestellte bleiben.
Vor der Hinrichtung sagte Sophie Scholl: „So ein herrlicher sonniger Tag, und ich soll gehen. Aber wie viele müssen heutzutage auf den Schlachtfeldern sterben, wie viel junges, hoffnungsvolles Leben … Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden?“.
Nun haben wir einen Zeitzeugen aus einer anderen Diktatur eingeladen, um auf besondere Weise an den Tag zu erinnern, an dem Sophie Scholl – deren Namen unsere Schule mit großem Stolz trägt – sterben musste. Es ist der Zeitzeuge und Schriftsteller Alexander Richter, der bis 1985 in der DDR lebte und dort wegen eines unveröffentlichten Romans zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde. In seinem Manuskript wurden fast alle Seiten des SED-Unrechtsstaates wahrheitsgemäß dargestellt. Damit wurde – so das Gerichtsurteil, das in einem seiner Bücher veröffentlicht ist – der gesamte Staat bloßgestellt und das Ansehen der DDR geschändet. Richter hatte dann Glück im Unglück und wurde per Häftlingsfreikauf nach einer zweieinhalbjährigen Haftzeit in den Westen abgeschoben. Der Freikauf-Modus war eine humanitäre Maßnahme seitens der Bundesrepublik Deutschland, er brachte der DDR Deviseneinnahmen von 100.000 DM. Alexander Richter las vor über 200 Schülern des 10. Jahrgangs und der Oberstufe sowie der Lehrerschaft aus seinen Büchern vor und stellte sich einer Vielzahl von Fragen der Schülerinnen und Schüler. Die Veranstaltung, die durch Dr. Frank Hoffmann von der Ruhr-Uni Bochum moderiert wurde, erreichte, so Richter „eine überdurchschnittliche Qualität“, sie hinterließ einen tiefen Eindruck bei den Anwesenden. Nach dem offiziellen Teil drängten sich die Schülerinnen und Schüler um das Podium, um noch weitere Informationen zu erhalten.
Grundsätzlich nehmen die Zeitzeugen, egal ob aus der DDR- oder der Nazi-Diktatur, einen wichtigen Platz bei der Vermittlung von Geschichtswissen an die jungen Generationen ein. Es sind Erfahrungen, die aus authentischen Quellen kommen und die kein Geschichtsbuch aufwiegen kann. In einer Zeit, in der rechtsextremistische Tendenzen in Europa beängstigend stark an Bedeutung gewinnen, lassen sich die Schülerinnen und Schüler durch Gespräche, Lesungen und Vorträge von Zeitzeugen nachhaltig für die Werte der Demokratie sensibilisieren.
Für mich – und hoffentlich für meine Mitmenschen – sind diese Zeitzeugen wie jene Rosen der Wahrheit, deren Leuchtkraft unsere Gesellschaft in hohem Maße erhellen kann.
Nach der Veranstaltung war Alexander Richter bei mir und meiner Familie zu Gast. Es war – bei Kaffee und interessanten Speisen – eine entspannte, aber gehaltvolle Unterhaltung, mit der wir das Thema „Diktatur und Widerstand“ noch weiter diskutierten. Richters persönliche Erfahrungen mit dem DDR-Regime sind immer noch anwendbar auf unsere Gegenwart, in der es leider noch viel zu viele Despoten gibt, die mit billigen Argumenten, aber noch mehr mit Gewalt, Drohungen und Lügen ganze Volksmassen niederzuhalten vermögen und die nicht davor zurückschrecken, um deren Machterhalt flächendeckende Kriege auszulösen, die zu Rassismus und Vertreibung führen.
Im Anschluss an die Veranstaltung konnte ich Alexander Richter einige Fragen zur Thematik stellen.
Was für Merkmale für die autokratische Entwicklung in der DDR haben Sie damals erlebt?
Verbot der freien Meinungsäußerung und der staatlich nicht organisierten Vereine, keine Reisefreiheit, kein freier Journalismus, keine freie Wahl des Arbeitsplatzes, staatlich gelenktes Bildungssystem, Überwachung im Wohnbereich und am Arbeitsplatz. Ein Einparteiensystem, das die Blockparteien lediglich als Schein-Organisationen zuließ. Militarisierung des Landes, erschreckende Polizei- und Armeepräsenz und ein allmächtiger Geheimdienst. Eine dreiste Wahllüge von 99,99 Prozent Zustimmung zur Regierung.
Wie war die Lage der Journalisten und Intellektuellen?
Die Äußerung der eigenen Meinung war selbst in kleinen Kreisen riskant. Hetze, Verleumdung, Diskriminierung des Staates legten in speziellen Paragrafen des StGB fest, welches Strafmaß einen bei unerwünschten Äußerungen treffen konnten. Man konnte demnach problemlos mit „feindlichen Mächten“ in Verbindung gebracht oder als Agent und Spion an den Pranger gestellt werden.
Warum hat die Gesellschaft die Hinwendung und den Bestand der Diktatur hingenommen?
Die Menschen hatten Angst, sie wussten aber auch keinen Ausweg, um sich aus der Diktatur zu befreien. Die DDR war ein Polizeistaat, zudem waren in dem kleinen Land sicherlich eine Million sowjetische Soldaten stationiert. Es war ein Glücksfall, dass im Herbst 1989 Gorbatschow nicht den Befehl zur Niederschlagung der Demos gegeben hat. Damals ging trotz allen Muts und aller Aufbruchsstimmung die Angst vor dem Einsatz von Panzern und Waffen um. Im Juni 1953 war ein solcher Aufstand bereits blutig beendet worden. Ungeachtet dessen gab es jedoch seit dem Kriegsende und dem Beginn der stalinistischen Diktatur viele Widerständler und Gegner, die einzeln oder in kleinen Gruppen für Freiheit und Demokratie kämpften. Und dies obwohl sie alle wussten, dass ihnen schwere Strafen drohen konnten.
Was für einen Preis musste die Gesellschaft letztlich bezahlen?
Die Gesellschaft schaute mehrheitlich voller Sehnsucht in den Westen. Es herrschte Unzufriedenheit, die Konsumtionsmöglichkeiten in der DDR waren mager, man konnte nicht ins Ausland reisen und wusste, dass einen die Regierung von vorn bis hinten belog. Angesichts des Militärs und des Geheimdienstes war es nicht absehbar, eine demokratische Wende zu schaffen. Wirtschaftlich war die DDR im Vergleich zum übrigen Ostblock zwar stärker, aber sie konnte nicht annähernd mit dem Westen mithalten. Bei der Wohnungsvergabe und bei wichtigen Konsumgütern herrschten Mangel und Korruption. Handwerker und Kleinunternehmer waren Götter, denen man in der Tat nachlaufen und die man mit Bestechungsgeldern locken musste, um ihre Dienstleistungen zu bekommen. Dementsprechend war die Arbeitsmoral der “Werktätigen” sehr niedrig, die Stimmung schlecht und die Identifikation mit dem Staat quasi gleich null. Hätte es in der DDR freie Wahlen gegeben, hätte das Regime unter Ulbricht und später unter Honecker gewiss nicht einmal ein zweistelliges Ergebnis erzielt.
Gab es in der Gesellschaft so etwas wie ein kollektives Gewissen?
Das Gewissen bei den Massen ist in Diktaturen fast immer eine zweitrangige Erscheinung. Es sind oft Einzelne, die sich regelrecht opfern, um auf die staatliche Gewalt hinzuweisen und auch die Ehre eines ganzen Volkes zu retten. Wir sprachen für die NS-Zeit über die Gruppe Weiße Rose, aber wir kennen aus der Zeit des Sozialismus die aufrüttelnden Selbstverbrennungen von Jan Palach oder Oskar Brüsewitz. Wir kennen andererseits auch Opfer, die in unterschiedlichen Gesellschaftsformen zu Symbolfiguren von Massenbewegungen geworden sind. In Litauen wurde bei den Massendemonstrationen 1990 ein Mädchen von sowjetischen Panzern überrollt. Sie starb im Krankenhaus mit den Worten „Werde ich leben?“ Es war so erschütternd, dass selbst die ansonsten rücksichtslosen Sowjets zurückwichen. Wir kennen auch die Wirkung, die der Tod des Studenten Benno Ohnesorg für den anschließenden Aufruhr in der Bundesrepublik auslöste. Die Masse selbst will am Ende einer Diktatur von nichts gewusst haben oder verteidigt das geschehene Unrecht gar als einstmals unabwendbar. Es ist daher gut, wenn in demokratischen Ländern offen über aufkommende Gewalt und über Rassismus diskutiert werden kann.
Wie hat sich die Regierung der DDR bei aufkommenden Verfehlungen oder offenem Widerstand verhalten?
Die Regierung hat ihre Ideologie zur Zwangsreligion erhoben, die jeder bedingungslos einzuhalten hatte. Wer sich nicht daran gehalten hat, wurde gemaßregelt. Es gab milde und sehr harte Strafen. Wer einsichtig war, konnte nach Strafverbüßung auf Gnade rechnen und einen akzeptablen Platz in der Gesellschaft einnehmen. Das Kontroll- und Überwachungssystem war ein Netz, hatte ihn aber immer fest im Blick. Durch dieses Netz konnte niemand fallen. Es gab die Kaderakte, die Polizeiakte und natürlich die Stasi-Akte. Und da in der DDR die Pflicht zur Arbeit bestand, musste auch jeder Bürger einen Arbeitsplatz einnehmen, auf dem er oder sie ständig beobachtet, gelenkt und auch bestraft werden konnte. Dass man nicht – über die Grenze – fliehen konnte, dürfte bis heute bekannt sein. Noch im Februar 1989 wurde der Jugendliche Chris Gueffroy an der Berliner Mauer durch einen Schuss in den Rücken getötet, obwohl er sich schon ergeben hatte.
Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit. Das wird oft vergessen. Man sollte sie zu würdigen wissen und für sie eintreten. Man muss (und darf heute) dafür sein Leben nicht opfern und auch nicht seine Zukunft aufs Spiel setzen. Aber wegschauen und schweigen darf man auch nicht. Und natürlich gilt, was schon oft gesagt wurde: Ohne ehrlichen Blick auf die Vergangenheit kann man keine gerechte Zukunft aufbauen.
Was war der Hauptgrund, dass Sie verhaftet wurden? In ihrem Roman handelt es sich beispielsweise um einen brutalen Polizeieinsatz gegen harmlose Jugendliche sowie um Korruption und Verlogenheit der Regierungspartei?
Ich habe die DDR, womit ich die ganz normalen Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse meine, so beschrieben, wie sie war und nicht so wie sie sich die SED gewünscht oder verlogenerweise in den Nachrichten und Unterhaltungssendungen dargestellt hat. Ich bin in fast allen Ebenen der Gesellschaft unterwegs gewesen. Ich habe in Sportvereinen, Betrieben, Instituten, bei der Armee in höheren Leitungsebenen und zuletzt in den Niederungen des Strafvollzugs fast alles gesehen bzw. dort mitgewirkt und über vieles den Kopf geschüttelt. Aber ich dachte mir, es ist auch eine Chance, das aufzuschreiben, was wirklich passiert und was in einigen Jahrzehnten vielleicht niemand mehr weiß.
Muhammet Mertek
Über das Wirken von Alexander Richter kann man hier mehr erfahren:
www.first-minute-buecher.de
Ausführlicher Bericht von WA über die Veranstaltung
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