Wenn wir uns ein korrektes Bild davon machen möchten, welche Handlungen und welches Verhalten einen Muslim auszeichnen sollten, müssen wir in erster Linie drei Dinge in Betracht ziehen: Erstens den Koran und die Sunna (die Aussprüche unseres Propheten, sein Handeln und die Handlungen, die er guthieß). Diese beiden Quellen geben einen Legitimitätsrahmen vor, der für alle Muslime bindend ist. Zweitens die traditionellen und kulturellen Strukturen, die die Muslime im Laufe ihrer Geschichte aufgebaut haben. Drittens schließlich die Ideen und Vorstellungen, die ein Außenstehender haben mag und die je nach dessen Wissensstand und Wahrnehmung Veränderungen unterworfen sind.
Sehr oft wird versäumt, zwischen diesen drei grundlegenden Faktoren zu differenzieren. Das macht es schwierig nachzuvollziehen, welche Entwicklung auf die ursprünglichen Quellen der Religion zurückgeht, welche ein Resultat des beschränkten Verstandes derer, die die Religion praktizieren, und ihrer historischen Situation ist und welche aus nachlässiger Beobachtung und unzureichendem Wissen resultieren, die zu Vorurteilen führen.
In der jüngeren Vergangenheit fanden in 80% der Länder der islamischen Welt Unabhängigkeitskriege gegen Kolonialmächte statt. Im Zuge dessen hat der Begriff Dschihad eine gewaltige Ladung an Energien freigesetzt, die zuvor brachlagen. Islamische Gelehrte und Führer, die das Potenzial dieser Energien schnell erkannten, erklärten den Dschihad zu einem Mittel, das im Kampf gegen den Kolonialismus eingesetzt werden könne. Im Kaukasus, in Indien und im kolonisierten Nahen Osten nahm der Dschihad im Laufe der Auseinandersetzungen mit den Besatzern den Charakter eines Schutzmechanismus an. Er verwandelte sich in eine Lehre, die dem Krieg seine Legitimität gab. Es entsprach der Natur der Sache, dass sich die Dschihad-Bewegung gegen die ‚westlichen Mächte‘ richtete. Durch die negative Definition dieser ‚Besatzungsmächte‘ in der religiösen und politischen Literatur wurde ein Bild des ‚Anderen‘ gezeichnet, ein Bild, das bekämpft werden musste. Diese Entwicklung wiederum führte im Westen, der ja bereits ein bestimmtes Bild von den Muslimen hatte, das sich aus den historischen Beziehungen mit ihnen speiste, zu einer starken Voreingenommenheit gegenüber dem Dschihad.
Als die ersten Generationen der Islamisten des 19. Jahrhunderts das Projekt des Islamismus als eine intellektuelle und politische Bewegung formulierten, öffneten sie das Tor zum Idschtihad[i], indem sie zum Koran und zu den Originalquellen der Religion zurückkehrten. Dabei betonten sie den Dschihad und den Geist des Dschihad besonders stark.
Was man ursprünglich unter Dschihad verstanden hatte, wurde in einem neuen konzeptuellen Rahmen als Widerstand gegen den Kolonialismus umgedeutet: Der Begriff Dschihad wurde fortan sehr pragmatisch für die Bereitstellung religiöser Motivation im Dienste des ökonomischen, wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts genutzt. In einem anderen Kontext erhielt er aber noch eine weitere Bedeutung: Dort diente er der Beseitigung jener Bequemlichkeit, die die Wurzeln der Gesellschaften schon vor langer Zeit befallen hatte, und als Startpunkt einer Bewegung, die auf ein intellektuelles, soziales und materielles Erwachen zielte. Genau wie stehendes Wasser mit der Zeit faulig wird, verfällt ein in Regungslosigkeit erstarrtes soziales Leben in Lethargie. So fand man im Dschihad eine spirituelle Quelle, aus der man spirituelle Energie und damit auch transformierende und werbende Kraft für den Aufbruch der Gesellschaft und das Abschütteln des alten Kolonialismus schöpfen konnte. Auf der Basis dieser Energie wurden dynamische soziale Projekte ins Leben gerufen.
Trotz aller gewissenhaften Bemühungen haben westliche Orientalisten und Forscher diese extrem wichtige Entwicklung – eine Entwicklung, die kennzeichnend für die Moderne ist und die das Konzept des Dschihad modernisiert – nicht ausreichend berücksichtigt. Sie betrachteten den Dschihad als eine religiöse Saat, die die Zivilisation bedroht; als das Konzept eines ‚Heiligen Kriegs’, das doch eigentlich eher dem Christentum eigen ist [etwas den Kreuzzügen Vergleichbares, das mit Hilfe des Terrors bestimmte politische Ziele durchsetzen will], oder als blinden Fanatismus, der durch religiösen Eifer angestachelt wird.[ii]
Der Islam, der andere religiöse Bekenntnisse wie Judentum und Christentum als heilige Botschaften akzeptiert, die vor seiner Offenbarung gesandt wurden, verfügt in seinem theologischen Rahmen über einige ‚Schlüsselbegriffe‘ in Bezug auf das Sein, das Wissen und die Moral. Diese Schlüsselbegriffe, die gleichzeitig das Fundament des islamischen Glaubens bilden, lauten z.B. Tawhid (Glaube an die absolute Einheit Gottes), Risala (Gott kommuniziert mit den Menschen über einen Gesandten), Akhira (ewiges Leben nach dem Tod). Obwohl der Begriff Dschihad nicht zu den ‚Säulen‘ des Glaubens gehört, zählt er doch zu den Schlüsselbegriffen, die uns helfen können, die individuellen und sozialen Aspekte des Islam zu verstehen. Die militärischen und politischen Auseinandersetzungen, die die Muslime im Laufe der Geschichte mit den Nichtmuslimen ausfochten, haben im Dschihad-Konzept, aber auch in anderen Konzepten zu einigen semantischen Diskrepanzen geführt. Hier haben historische Bewegungen und Regierungsformen eine entscheidende Rolle gespielt. Der Begriff Sadaqa (Almosen) z.B. hängt eng mit dem Begriff Tasadduq (Almosen-Geben) zusammen und kann gleichzeitig sowohl freiwillige finanzielle Hilfe oder obligatorische Steuer an den Staat bedeuten. Heute ist man dazu übergegangen, eine milde Gabe, die man Bettlern und anderen armen Menschen auf freiwilliger Basis gibt, als Sadaqa zu bezeichnen.
Auch der Begriff Dschihad hat im Laufe der Zeit eine andere Bedeutung bekommen. Er wird nun als Krieg interpretiert, den man um des Glaubens willen führt, und als daraus resultierende militärische Expansion und Eroberung. Diese Bedeutung weicht von der ursprünglichen Bedeutung der verbindlichen religiösen Texte ab und entspricht nicht mehr dem, was die ersten Muslime unter diesem Begriff verstanden haben. Ursprünglich umspannte der Begriff Dschihad eine ganze Reihe von Konzepten und Bedeutungen. Damit ist er mit dem Begriff Infaq (vom eigenen Reichtum abgeben) zu vergleichen, der folgende Konzepte abdeckt: Sadaqa (freiwillige oder verpflichtende finanzielle Zahlungen, Almosen), Zakat (und/oder Tasadduq; eine Steuer, die Muslime auf Gold, Silber und andere kommerzielle Güter, Vieh, Rohstoffe usw. zahlen müssen), Uschr, die ebenfalls in den Bereich der Zakat fällt (eine Steuer von 5-10% auf den Wert landwirtschaftlicher Produkte), Kharadsch (eine Steuer, die von denjenigen erhoben wird, die Land bewirtschaften, das dem Staat gehört) und Khums (eine Steuer von 20% auf geschürfte Mineralien und Metalle). All diese und weitere ähnliche Konzepte finden Platz unter dem weiten Schirm des Infaq, und jedes von ihnen hat eine spezielle Bedeutung, die sich auf einen ganz bestimmten ökonomischen, industriellen oder kommerziellen Tätigkeitsbereich bezieht.
Wenn wir uns dem Dschihad-Begriff von einem Aspekt seiner vielfältigen Bedeutungen nähern, werden wir sehen, dass auch er anderen Konzepten Platz bietet: z.B. Qital (Gefecht), Muharaba (Auseinandersetzung, Kriegführung), Isyan (Rebellion) und Dschadal (Kampf). Die arabische Semantik ist so reich, dass sie für jede Handlung und jede Haltung ein eigenes Wort bietet. Qital bedeutet Kampf, der im Gange ist, Muharaba eher Kriegszustand zwischen zwei Gruppen. Würde Dschihad einfach nur Töten oder Krieg bedeuten, könnte der Koran auf Worte wie Qital und Muharaba getrost verzichten.
Literatur
- Abu Sulayman; Islam‘in Uluslararasi Iliskiler Kurami; Istanbul 1985; Erstveröffentlichung unter dem Titel: The Theory of International Relations in Islam
- Abu Zahra, Muhammad; Islam’da Savas Kavrami; Istanbul 1976
- Imam Ibn Taymiyya; Istanbul: lslamoglu Yayinlari
- Peters, Rodolph; Islam ve Sömürgecilik – Modern Zamanlarda Cihad Ögretisi; Istanbul 1989; Erstveröffentlichung unter dem Titel: Islam and Colonialism: The Doctrine of Jihad in Modern History
- Schact, Joseph; Islam Hukukuna Giris; Ankara 1977; Erstveröffentlichung unter dem Titel: A History of Islamic Legal Theories: An Introduction to Sunni Usul Al-Fiqh
- Yaman, Ahmet; Islam Devletler Hukukuna Giris; Istanbul: 1998