Grundsätzlich nehmen die Zeitzeugen, egal ob aus der DDR- oder der Nazi-Diktatur, einen wichtigen Platz bei der Vermittlung von Geschichtswissen an die jungen Generationen ein. Es sind Erfahrungen, die aus authentischen Quellen kommen und die kein Geschichtsbuch aufwiegen kann.
Alexander Richter (1949) ist auch ein wichtiger Zeitzeuge und Schriftsteller, der bis 1985 in der DDR lebte und dort wegen eines unveröffentlichten Romans zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde.
Um die Tatsache, dass die Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind, vor Augen zu führen, habe ich mit Herrn Richter ein Gespräch geführt.
Was für Merkmale für die autokratische Entwicklung in der DDR haben Sie damals erlebt?
Verbot der freien Meinungsäußerung und der staatlich nicht organisierten Vereine, keine Reisefreiheit, kein freier Journalismus, keine freie Wahl des Arbeitsplatzes, staatlich gelenktes Bildungssystem, Überwachung im Wohnbereich und am Arbeitsplatz. Ein Einparteiensystem, das die Blockparteien lediglich als Schein-Organisationen zuließ. Militarisierung des Landes, erschreckende Polizei- und Armeepräsenz und ein allmächtiger Geheimdienst. Eine dreiste Wahllüge von 99,99 Prozent Zustimmung zur Regierung.
Wie war die Lage der Journalisten und Intellektuellen?
Die Äußerung der eigenen Meinung war selbst in kleinen Kreisen riskant. Hetze, Verleumdung, Diskriminierung des Staates legten in speziellen Paragrafen des StGB fest, welches Strafmaß einen bei unerwünschten Äußerungen treffen konnten. Man konnte demnach problemlos mit „feindlichen Mächten“ in Verbindung gebracht oder als Agent und Spion an den Pranger gestellt werden.
Warum hat die Gesellschaft die Hinwendung und den Bestand der Diktatur hingenommen?
Die Menschen hatten Angst, sie wussten aber auch keinen Ausweg, um sich aus der Diktatur zu befreien. Die DDR war ein Polizeistaat, zudem waren in dem kleinen Land sicherlich eine Million sowjetische Soldaten stationiert. Es war ein Glücksfall, dass im Herbst 1989 Gorbatschow nicht den Befehl zur Niederschlagung der Demos gegeben hat. Damals ging trotz allen Muts und aller Aufbruchsstimmung die Angst vor dem Einsatz von Panzern und Waffen um. Im Juni 1953 war ein solcher Aufstand bereits blutig beendet worden. Ungeachtet dessen gab es jedoch seit dem Kriegsende und dem Beginn der stalinistischen Diktatur viele Widerständler und Gegner, die einzeln oder in kleinen Gruppen für Freiheit und Demokratie kämpften. Und dies obwohl sie alle wussten, dass ihnen schwere Strafen drohen konnten.
Was für einen Preis musste die Gesellschaft letztlich bezahlen?
Die Gesellschaft schaute mehrheitlich voller Sehnsucht in den Westen. Es herrschte Unzufriedenheit, die Konsumtionsmöglichkeiten in der DDR waren mager, man konnte nicht ins Ausland reisen und wusste, dass einen die Regierung von vorn bis hinten belog. Angesichts des Militärs und des Geheimdienstes war es nicht absehbar, eine demokratische Wende zu schaffen. Wirtschaftlich war die DDR im Vergleich zum übrigen Ostblock zwar stärker, aber sie konnte nicht annähernd mit dem Westen mithalten. Bei der Wohnungsvergabe und bei wichtigen Konsumgütern herrschten Mangel und Korruption. Handwerker und Kleinunternehmer waren Götter, denen man in der Tat nachlaufen und die man mit Bestechungsgeldern locken musste, um ihre Dienstleistungen zu bekommen. Dementsprechend war die Arbeitsmoral der “Werktätigen” sehr niedrig, die Stimmung schlecht und die Identifikation mit dem Staat quasi gleich null. Hätte es in der DDR freie Wahlen gegeben, hätte das Regime unter Ulbricht und später unter Honecker gewiss nicht einmal ein zweistelliges Ergebnis erzielt.
Gab es in der Gesellschaft so etwas wie ein kollektives Gewissen?
Das Gewissen bei den Massen ist in Diktaturen fast immer eine zweitrangige Erscheinung. Es sind oft Einzelne, die sich regelrecht opfern, um auf die staatliche Gewalt hinzuweisen und auch die Ehre eines ganzen Volkes zu retten. Wir sprachen für die NS-Zeit über die Gruppe Weiße Rose, aber wir kennen aus der Zeit des Sozialismus die aufrüttelnden Selbstverbrennungen von Jan Palach oder Oskar Brüsewitz. Wir kennen andererseits auch Opfer, die in unterschiedlichen Gesellschaftsformen zu Symbolfiguren von Massenbewegungen geworden sind. In Litauen wurde bei den Massendemonstrationen 1990 ein Mädchen von sowjetischen Panzern überrollt. Sie starb im Krankenhaus mit den Worten „Werde ich leben?“ Es war so erschütternd, dass selbst die ansonsten rücksichtslosen Sowjets zurückwichen. Wir kennen auch die Wirkung, die der Tod des Studenten Benno Ohnesorg für den anschließenden Aufruhr in der Bundesrepublik auslöste. Die Masse selbst will am Ende einer Diktatur von nichts gewusst haben oder verteidigt das geschehene Unrecht gar als einstmals unabwendbar. Es ist daher gut, wenn in demokratischen Ländern offen über aufkommende Gewalt und über Rassismus diskutiert werden kann.
Wie hat sich die Regierung der DDR bei aufkommenden Verfehlungen oder offenem Widerstand verhalten?
Die Regierung hat ihre Ideologie zur Zwangsreligion erhoben, die jeder bedingungslos einzuhalten hatte. Wer sich nicht daran gehalten hat, wurde gemaßregelt. Es gab milde und sehr harte Strafen. Wer einsichtig war, konnte nach Strafverbüßung auf Gnade rechnen und einen akzeptablen Platz in der Gesellschaft einnehmen. Das Kontroll- und Überwachungssystem war ein Netz, hatte ihn aber immer fest im Blick. Durch dieses Netz konnte niemand fallen. Es gab die Kaderakte, die Polizeiakte und natürlich die Stasi-Akte. Und da in der DDR die Pflicht zur Arbeit bestand, musste auch jeder Bürger einen Arbeitsplatz einnehmen, auf dem er oder sie ständig beobachtet, gelenkt und auch bestraft werden konnte. Dass man nicht – über die Grenze – fliehen konnte, dürfte bis heute bekannt sein. Noch im Februar 1989 wurde der Jugendliche Chris Gueffroy an der Berliner Mauer durch einen Schuss in den Rücken getötet, obwohl er sich schon ergeben hatte.
Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit. Das wird oft vergessen. Man sollte sie zu würdigen wissen und für sie eintreten. Man muss (und darf heute) dafür sein Leben nicht opfern und auch nicht seine Zukunft aufs Spiel setzen. Aber wegschauen und schweigen darf man auch nicht. Und natürlich gilt, was schon oft gesagt wurde: Ohne ehrlichen Blick auf die Vergangenheit kann man keine gerechte Zukunft aufbauen.
Was war der Hauptgrund, dass Sie verhaftet wurden? In ihrem Roman handelt es sich beispielsweise um einen brutalen Polizeieinsatz gegen harmlose Jugendliche sowie um Korruption und Verlogenheit der Regierungspartei?
Ich habe die DDR, womit ich die ganz normalen Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse meine, so beschrieben, wie sie war und nicht so wie sie sich die SED gewünscht oder verlogenerweise in den Nachrichten und Unterhaltungssendungen dargestellt hat. Ich bin in fast allen Ebenen der Gesellschaft unterwegs gewesen. Ich habe in Sportvereinen, Betrieben, Instituten, bei der Armee in höheren Leitungsebenen und zuletzt in den Niederungen des Strafvollzugs fast alles gesehen bzw. dort mitgewirkt und über vieles den Kopf geschüttelt. Aber ich dachte mir, es ist auch eine Chance, das aufzuschreiben, was wirklich passiert und was in einigen Jahrzehnten vielleicht niemand mehr weiß.
Muhammet Mertek
Über das Wirken von Alexander Richter kann man hier mehr erfahren:
www.first-minute-buecher.de