„Grenzenloser Salafismus – Grenzenlose Prävention? Radikalisierung, politische Bildung und internationale Ansätze der Prävention“. So lautete der Titel einer eineinhalbtägigen Veranstaltung, die im Congress-Center Rosengarten in Mannheim stattfand und an der 420 Menschen aus unterschiedlichen Berufsfeldern und verschiedensten Institutionen bundes- und europaweit teilnahmen. In 20 Workshops wurde das Thema Salafismus aus unterschiedlichsten Perspektiven behandelt und diskutiert. Über mögliche Präventionsmöglichkeiten und -strukturen konnte man sich auf internationaler Ebene austauschen.
In der Eröffnungsrede von Caroline Tomic (Bundeszentrale für politische Bildung Bonn) wurde das Spektrum der vielfältigen Diskussionspunkte zum Thema „Salafismus und Präventionsmöglichkeiten“ umrissen. Einige wichtige Aspekte und Fragestellungen sind hier kurz zusammengefasst:
Salafismus kennt keine Grenzen. Anschläge und Brutalitäten des Islamischen Staates (IS) werden weltweit verübt und machen auch an der deutschen Grenze nicht halt. Neben Ermittlungen im salafistischen Milieu und Strafverfolgung in konkreten Fällen spielt die Prävention in der Bekämpfung des IS eine entscheidende Rolle. Daher hat der Bundestag für diese wichtige Aufgabe eine beträchtliche Summe zur Verfügung gestellt, nämlich 100 Millionen Euro. Welche Erfahrungen haben wir bis jetzt gemacht? Was lief gut und was nicht gut.Viele Fragen sind noch nicht geklärt. Reicht für die Prävention der Ansatz der theologischen Aufklärung oder brauchen wir andere pädagogische Konzepte? Begrifflich ist zudem zu differenzieren: Handelt es sich um Salafismus oder Neosalafismus? Und was können zivilgesellschaftliche Strukturen und Gemeinden konkret tun? Zahlreiche Rückkehrer sind zu erwarten und daher nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, mit terroristischen und radikalen Tendenzen konfrontiert zu werden. Unsere Strategie darf aber keinen Keil zwischen Muslime und Nichtmuslime treiben.Gedankliche Verkürzungen, alle Muslime unter Verdacht zu stellen oder jeden Flüchtling als Sicherheitsrisiko zu sehen, müssen von allen Demokraten zurückgewiesen werden.
Danach hielt Prof. Gilles Kepel aus Frankreich, einer der führenden Forscher im Bereich Terrorismus und militanter Salafismus, einen Vortrag zum Thema „Salafismus und Dschihadismus in Deutschland und Europa – Aktuelle Trends“. Er befasste sich u.a. mit der Entwicklung und den Hintergründen des Salafismus. Ich möchte hier die wesentlichen Aussagen und Anregungen seines Vortrags wiedergeben:
Prof. Kepel stellt den Begriff Salafismus nicht in den Mittelpunkt seiner Herangehensweise. In akademischen Debatten sei der Begriff Salafismus nicht treffend, sondern Radikalismus sei der zentrale Begriff. Es geht um ein Phänomen des radikalen Keimes. Das ist etwas ganz anders. Es hat natürlich mit der Auslegung des Islams zu tun, ebenso wie mit sozialen Bedingungen.
Ideologie und soziale Faktoren gehen bei der Rekrutierung von jihadistischen Salafisten Hand in Hand. Prof. Kepel spricht von einer „globalen Viktimisierung“, wobei es eine direkte Bezugnahme auf soziale Deprivation (also eine Ausgrenzung, die unterschiedlichste Ursachen haben kann) gibt. Diese Viktimisierung ist die neue Strategie des Dschihad, dessen Protagonisten nun in der dritten Phase die globale Ausbreitung vorantreiben. Hieraus ergeben sich wichtige Hinweise auf die Bedeutung der sozialen Dimension, um Terrorismus zu bekämpfen bzw. Radikalisierung zu verhindern.
Es wird eine gestiegene Akzeptanz des Salafismus unter Muslimen beobachtet. Das ist keineswegs selbstverständlich und das Ergebnis eines längeren Prozesses. Erste Dschihadisten, z.B. in Algerien, wurden noch als „Fremde“ und „Störenfriede“ betrachtet und erhielten keine Unterstützung durch die Bevölkerung. Dies änderte sich erst nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Zum einen wurde die Verletzlichkeit des Westens deutlich, zum anderen befeuerte die militärische Reaktion die „Beliebtheit“ des Dschihad, bzw. führte den Menschen vor Ort die scheinbare Legitimität des bewaffneten Kampfes vor Augen. So darf man den Irakkrieg von 2003 nicht unterschätzen. Er prägte den jihadistischen Salafismus als Ideologie. Deutschland wurde dabei anfangs verschont. Dies ergab sich nicht nur aus der Nichtteilnahme am Krieg, sondern hatte auch sozialen Gründen. Eine geringere Arbeitslosigkeit und die große Zahl von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die vor allem durch ihre nationale Identität und weniger religiös geprägt waren, spielten dabei eine wichtige Rolle.
Die Entwicklung des jihadistischen Salafismus
Die weitere Frage ist; wie sich der jihadistische Salafismus entwickelt hat. Die Hauptquartiere des IS Mosul und Raqqa sind zwar beseitigt, ihre Ideologie aber lebt weiter. Soziale Netzwerke zeigen, dass der IS nach neuen Optionen sucht.
Einige Akademiker behaupten, dass der Islam mit terroristischen Entwicklungen in Europa nichts zu tun habe. Anschläge hätten also nicht mit dem Islam, sondern mit anderen Dingen zu tun, wie z.B. mit der Diskriminierung von Migrantenkindern oder mit dem Kolonialismus. Letzteres trifft für Deutschland eher nicht zu, da es nicht mit einem kolonialen Erbe belastet ist.
Es gibt verschiedene Auslegungen der heiligen Schriften des Islams. So war es früher auch in Europa. Wie konnte die Ideologie des Salafismus nach Europa kommen?
Nach der europäischen Industriellen Revolution entwickelte sich in muslimischen Ländern eine neue Identität. Intellektuelle wie Raschid Rida, Muhammad Abduh haben diese Veränderungen frühzeitig gesehen und sich damit auseinandergesetzt. Später kamen Muslime als Gastarbeiter nach Europa. Die Tabligh-Gemeinde war aktiv, wurde aber von Türken nur wenig unterstützt. Diese Gemeinde wollte ihren Glauben verbreiten. Um die eigene Seele zu retten, sollte man sich an die heiligen Schriften und an das Vorbild des Propheten halten. Dadurch wollte man die muslimische Identität in einem nichtmuslimischen Umfeld bewahren. Das führte aber zur Abgrenzung. Man „verteidigte“ die Botschaften des Propheten auf militante Art und Weise. Später haben die türkischen Muslime etwas anders agiert und sich als Bruderschaften strukturiert. Da in der Türkei die Bruderschaften verboten waren, konnten sie hier gediehen.
So haben auch spezifisch europäische Faktoren zur heutigen Gestalt des radikalen Salafismus beigetragen. Kinder mit Migrationshintergrund grenzten sich formal mit dem Erlernen der Sprache der neuen Heimat ab und wurden bereits im Rahmen der Schulbildung anders sozialisiert als ihre Eltern. Dies löste eine Art Gegenbewegung aus, z.B. in Form einer religiösen Bildung und Bindung, die zur Abgrenzung beigetragen hat. Die Brisanz dieses Phänomens wurde zunächst unterschätzt. Nicht gesehen wurden vor allem soziale Faktoren, die zu einer Isolation bestimmter Gruppen beitrugen.
Entscheidend veränderte sich die Situation zudem Anfang der 1990er Jahren als Saudi-Arabien direkt in Europa Einfluss nahm. Der Salafismus wurde mit Hilfe saudischer Mittel als strikte Auslegung des Islam politisch propagiert. Der Anlass war die Bedrohung von Saddam Huseyin Kuwayt. Das führte bei vielen europäischen Muslimen zu Enthusiasmus. Die Tatsache, dass Saudi-Arabien gegen Saddam Husayn in Europa Unterstützung ersuchte, führte zur Verbreitung der salafistischen Strömung, die unter den muslimischen Jugendlichen als Erleuchtung des Islams wahrgenommen wurde. Außerdem profitierte Saudi-Arabien von digitaler Vernetzung, wodurch sich der Salafismus leichter Zulauf finden konnte. Also durch Kommunikationskanäle konnte man Anfang der 90er Jahren Ideologien wie den Salafismus leichter verbreiten.
Das Internet spielt heute eine zentrale Rolle für die Radikalisierung von (vor allem) jungen Menschen. Bislang reagieren die europäischen Staaten überwiegend (betrachtet man die eingesetzten finanziellen Mittel) mit sicherheitspolitischen Instrumenten. Es geht aber nicht immer nur um „Mehr“, sondern auch um eine andere Qualität. Die Zentralisierung der Sicherheitsbehörden ist ein entscheidender Faktor. Sie allein kann aber das Problem nicht lösen. Ohne ein tiefgehendes Verständnis der Ideologie gibt es keine wirksame Terrorbekämpfung. Prävention muss einerseits individuelle psychologische Faktoren einbeziehen und sich andererseits der Frage nachgehen: Was werden künftige Ziele und Strategien sein?
Wie wurde der Dschihad-Gedanke attraktiver?
Was haben wir dann in Nordafrika erlebt? Dschihadismus hat in 70er Jahren in Afghanistan angefangen. Im Jahr 1979 wurde das Land von der Sowjetunion besetzt. Der afghanische Dschihad, der zehn Jahre lang gegen die atheistische Sowjetunion geführt wurde, fütterte den politischen Islam. Nach der Vertreibung der Sowjetunion zeigte er sich stärker als zuvor. Dieses Ereignis hat das Bewusstsein geweckt, dass der Dschihad für den Schutz des Islams von Bedeutung ist. Also hat es eine identitätsstiftende Rolle gespielt. Dadurch hatte man in Pakistan, Algerien und Indien viele Anhänger gewonnen. Die Kämpfer sind mit neuen Ideen und Gedanken nach Hause zurückgekehrt und haben den afghanischen Dschihad nachgeahmt. So haben sie dies auch in Bosnien, Ägypten und Algerien angewendet. Durch die Kriege und Ereignisse in der muslimischen Welt wurde der Dschihad-Gedanke attraktiver.
Auf der anderen Seite lösten die Entwicklungen um den Salafismus eine Art Islamophobie aus. Die Muslime wurden als Personengruppe undifferenziert und zunehmend kritisch betrachtet. Dies bestärkte die Opferrolle, die auf muslimischer Seite auf fruchtbaren Boden fiel. Ganz abgesehen davon: Junge Menschen muslimischer Herkunft hatten sichtlich mehr Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, als deutsche Jugendliche, und so führten die hiesigen Entwicklungen zumindest indirekt dazu, dass sich einige Jugendliche an dem Krieg in Syrien beteiligten.
Die Arbeitsmarktsituation in Deutschland ist ganz anders als in Frankreich. Unter Türken in Deutschland hat es eine positive Entwicklung gegeben, die für viele einen sozialen Aufstieg mit sich brachte. Die islamische Identität gewann unter den türkischstämmigen Migranten durch die politischen Entwicklungen in der Türkei an Bedeutung.
Auf die Frage nach dem Euro-Islam vor dem Hintergrund der Identität und des Zugehörigkeitsgefühls entgegnete Prof. Gilles Kepel: „Die Euro-Islam-Idee ist eine hochstehende intellektuelle Vision. Im alltäglichen Leben der Kinder, die nicht auf dieser intellektuellen Ebene sind, sind jedoch die Salafisten präsent. Dort wird die Identität von Salafisten geprägt.“
Prof. Kepel sieht ein Hauptproblem darin, dass wir noch keine richtige Ebene des Zusammenlebens gefunden haben, die es ermöglicht, die eigene Identität beizubehalten und gleichzeitig viel Gemeinsames erleben zu können.
„In Frankreich gibt es ein Institut der arabischen Welt, das über Literatur und Kunst vieles veröffentlicht, was nicht auf Salafismus reduziert werden kann. Im Salafismusdiskurs kann man den „IS als Gegenmodell zum Westen“ darstellen. Positive Integration müssen wir in europäischen Gesellschaften pflegen und Schlüsselfiguren finden. Die Jugendlichen, die für den Salafismus anfällig sind, stammen besonders aus den benachteiligten Stadtvierteln. Dort fehlt eine Ebene, auf der muslimische Kinder unter ihren Umständen eine gesunde, reflektierte Identität entwickeln können. Kolonialismus, Gewaltherrschaft, Ausbeutung der muslimischen Länder… alles richtig. Die Politiker müssen aber unbedingt das heutige Zusammenleben neu definieren. Das ist schwierig, aber unbedingt notwendig.“
Muhammet Mertek