Viele Menschen sind wohl erst als Erwachsene in der Lage, Märchen, die man ihnen in ihrer Kindheit erzählt hat, zu verstehen. Doch leider beschäftigen sie sich dann meistens nicht mehr mit so etwas ‚Trivialem‘. Joseph Campbell, ein Kollege Carl Jungs, behauptet, dass man Mythen und Märchen am besten als Metaphern liest. Diese Metaphern können uns dann auf unserer Suche nach dem Sinn des Lebens unterstützen.
Im Märchen Schneewittchen fragt die böse Stiefmutter: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Nun mögen wir vielleicht denken, sie sei eben eitel, und Eitelkeit wird ja zunächst einmal als etwas Schlechtes betrachtet. Doch hinter dem Verhalten der Großmutter steckt viel mehr. Wenn wir versuchen, unseren Kindern unsere vorgefertigte Meinung aufzudrängen, berauben wir sie der Chance, sich selbst ein Bild zu machen. Auf welche Art und Weise wir unseren Kindern Märchen wie Schneewittchen erzählen, sagt einiges darüber aus, ob wir als Erwachsene diese Märchen ‚verstanden‘ haben oder auch nicht.
Wer nach der Weisheit des Lebens sucht, sollte seine Suche in den Märchenbüchern seiner Kindheit beginnen. Die Metaphorik der Märchen bietet uns Archetypen, mit Hilfe derer wir die Lektionen, die das Leben für uns bereithält, in ein System einordnen können.
Die Vorstellung von der bösen Stiefmutter Schneewittchens, die zu ihrem Spiegel spricht, zog mich in ihren Bann, als ich mich selbst im Spiegel betrachtete. Wir wissen, dass einige Spiegel uns einen größeren Dienst erweisen als andere. Spiegel, die uns schrecklich aussehen lassen, bringen uns aus der Fassung und lassen uns fragen: „Sehe ich wirklich so aus? Liegt es am Licht? Ist der Spiegel verzogen? Was ist meinem Haar los? Wieso ist meine Haut so großporig?“ In Wirklichkeit jedoch lautet unsere Frage: „Bin ich die Schönste im ganzen Land?“
Ich wünschte, ich besäße einen Spiegel, der sich so offen äußern würde wie der der Stiefmutter. Denn der ist ehrenhaft und glaubwürdig. Doch solche Spiegel gibt es leider nicht, zumindest nicht als Badezimmerausstattung.
Andererseits tragen wir aber doch einen Spiegel wie diesen mit uns herum. Und er leistet uns sogar gute Dienste – wenn wir ihn nur richtig zu nutzen wissen, wenn wir die richtigen Fragen stellen. Die ‚böse‘ Stiefmutter tat dies nicht. Sie war nicht böse, sondern lediglich unwissend und zu tief in ihre eigene Gedankenwelt versunken.
Die meisten Menschen stellen die falschen Fragen, halten sich aber dennoch nicht deshalb gleich für böse. Wir fragen, ob wir die Schönsten, die Glücklichsten, die Zufriedensten sind. Der Stiefmutter wurde eröffnet, dass sie nicht so schön wie Schneewittchen sei. Und trotzdem war sie eine wunderschöne Frau, immerhin die zweitschönste ihres Landes.
Wenn wir in uns schauen, dient uns unser Blick nach innen als Spiegel, der nur uns selbst reflektiert. Wenn es uns gelingt, die richtigen Fragen zu stellen, werden wir uns auf ihn verlassen können. Dann wird er uns ganz offen sagen, was es dort zu sehen gibt. Wenn wir aber die falschen Fragen stellen, werden wir dem gleichen Irrglauben verfallen wie die Stiefmutter. Leider halten viele von uns ihr Leben lang Ausschau nach einem Spiegel, der ihnen sagt, sie seien die Schönsten.
Spiegel zeigen uns nur, wer wir sind, nicht wer wir sein möchten. Zwar mögen wir glauben, ein neues Auto z.B. sei ein guter Spiegel, aber das ist es genauso wenig wie ein hoch dotierter Job oder ein schönes Haus. Diese Dinge sind keine Spiegel. Nur die innere Reflexion – dieser Spiegel, den wir mit uns herumtragen – funktioniert stets zuverlässig. Das einzige Problem ist, dass wir zu selten in ihn hinein schauen und den falschen Objekten die falschen Fragen stellen.
Um gerecht zu sein: Unseren offenen Reflexionen ins Auge zu sehen, ist gar nicht so einfach. Denn sie haben zur Folge, dass wir uns nicht nur von unserer früheren Illusion, die oder der Schönste zu sein, verabschieden müssen, sondern auch mit realen Schwächen unserer Persönlichkeit oder unseres Charakters konfrontiert werden. Wenn wir einsehen müssen, dass wir gar nicht die netten Menschen sind, die wir vorgeben zu sein, kann uns das ganz schön belasten. Dann gilt es zu erkennen, dass all das dazu gehört, wenn wir in uns hinein schauen.
Wenn wir UNS erst einmal richtig sehen können, werden wir beginnen, auch andere richtig zu sehen. Das heißt, wir werden uns in anderen sehen und andere in uns. Wir werden uns Fragen stellen. Wir werden nicht an uns selbst zweifeln, aber Fragen aufwerfen, die Antworten von uns verlangen. Wir werden Verantwortung übernehmen. Erst wenn wir uns selbst gegenüber rechenschaftspflichtig sind, sind wir wirklich frei. Dann werden wir uns in unserer Außenwelt auch nicht mehr nach vorgekauten Antworten umzuschauen brauchen. Fragen und Antworten werden wir dann in uns selbst finden.