Muslimische Familien sind natürlich vom Islam geprägt, und im Islam genießt die Familie großes Ansehen. Sie bildet die Grundlage der Gesellschaft. Solange die Rechte und Pflichten der Familienmitglieder innerhalb der Familie respektiert werden, ist auch die Gesellschaft gesund und stark. Sind diese Werte aber in den innerfamiliären Beziehungen verloren gegangen, wird man auch in der Gesellschaft vergeblich nach Mitgefühl und Respekt suchen.
Das Verhältnis von Eltern und Kindern
Der Respekt vor den Eltern ist im Islam die oberste und heilige Pflicht der Kinder. Wer seinen Eltern keinen Respekt entgegenbringt, verweigert automatisch auch Gott den Gehorsam. Wer seine Eltern schlecht behandelt, sollte bedenken, dass er vielleicht irgendwann selbst einmal auf die Pflege fremder Menschen angewiesen sein wird.
Auf praktischer Ebene drückt sich bei türkischen Kindern beispielsweise der Respekt vor den Eltern darin aus, dass sie ihnen bei religiösen Festen oder bei der Rückkehr von längeren Reisen die Hände küssen. Kleine Kinder begegnen auch ihren älteren Geschwistern mit Respekt. Sie reden sie nach türkischer Tradition mit Abla (große Schwester) und Abi (großer Bruder) an.
Kinder sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass ihnen eine angemessene Wertschätzung ihrer Eltern den Weg zur Barmherzigkeit Gottes ebnet. Dafür werden sie nicht nur im Diesseits, sondern auch im Jenseits belohnt. Wer hingegen die Existenz seiner Eltern als eine Last für das eigene Leben betrachtet und ihrer überdrüssig wird, wird es gewiss bereuen.
Je respektvoller man sich seinen Eltern gegenüber verhält, desto größere Ehrfurcht empfindet man vor seinem Schöpfer. Wer seine Eltern gering schätzt, bringt auch Gott keine Ehrfurcht, keine Achtung und keinen Respekt entgegen.
Kinder sollten ihren Eltern so weit wie möglich Gehorsam leisten und ihren Rat beherzigen. Eltern haben ihrerseits die Aufgabe, die moralische und spirituelle Erziehung ihrer Kinder ebenso zu fördern wie ihre körperliche Entwicklung und Gesundheit. Außerdem ist es ihre Aufgabe, geeignete Lehrer und Schulen zu finden.
Andererseits sollten Kinder schon möglichst früh in die Verantwortung für die Familie und die Gesellschaft mit einbezogen werden. Wenn im Monat Ramadan beispielsweise eine Abgabe für die Armen verlangt wird, so sind auch die Kinder dazu aufgerufen, eine gewisse Summe zu spenden (Sadâqatu l-fitr). Innerhalb der Familie sollten alle Güter gerecht unter den Familienmitgliedern aufgeteilt werden.
Wichtig ist, beim Thema Wertvorstellungen in der muslimischen Familie sorgfältig zwischen traditioneller und islamischer Ebene zu differenzieren. Vielen muslimischen Familien in Deutschland gelingt diese Unterscheidung nicht (mehr); sie vermischen traditionelle und islamische Werte und verwechseln sie teilweise. Daraus resultieren in der Praxis innerfamiliäre Probleme, aber auch Probleme in der Nachbarschaft und in der Verwandtschaft. Einige muslimische Familien sind heutzutage patriarchalisch strukturiert. Dies ist aber nicht vom Islam so vorgegeben, sondern vielmehr traditionsbedingt.
Das Verhältnis zwischen Mann und Frau
Im Koran wird darauf hingewiesen, dass Gott alles paarweise erschaffen hat. Mann und Frau sind zwei Teile eines Ganzen, die sich gegenseitig ergänzen. Zu ihren Aufgaben gehört es u.a., Gott zu dienen und neue Menschengenerationen zu zeugen. Dabei herrscht zwischen den beiden Geschlechtern keine vollkommene Gleichheit, sondern Aufgabenteilung. Die Frau ist im Islam keineswegs von Natur aus schlecht oder gar minderwertig. Auch ist sie kein sexuelles Objekt. Die Ehefrau ist vielmehr die Partnerin ihres Ehemannes. Während der Ehemann und Familienvater primär für das materielle Wohlergehen der Familie zu sorgen hat, sollte sich die Ehefrau in erster Linie um den Haushalt und die Erziehung der Kinder kümmern. Dies heißt aber nicht, dass es ihr nicht gestattet wäre, außer Hauses zu arbeiten. In der öffentlichen Sphäre sollte jedoch nicht an erster Stelle ihre Weiblichkeit betont werden (wie z.B. in der modernen westlichen Konsumgesellschaft üblich), sondern ihre Persönlichkeit als Individuum.
Die Erziehung der Kinder ist nicht allein der Mutter zu überlassen. Bei innerfamiliären Angelegenheiten und Problemen sollten sich Vater und Mutter zusammensetzen und gemeinsam Wege und Lösungen finden. Ein wechselseitiges Verständnis und gemeinsam gefasste Beschlüsse sind in diesem Zusammenhang von größter Wichtigkeit.
Bei Heiratsentscheidungen können die Eltern ihren Kindern aufgrund ihrer Erfahrungen dabei behilflich sein, einen geeigneten Lebensgefährten zu suchen; das letzte Wort aber haben in jedem Falle die potenziellen zukünftigen Ehepartner.
Die weit verbreitete Vorstellung, die Ehefrau besäße im Islam keine Rechte, entspricht nicht der Wirklichkeit. Deutlich wird dies z.B. bei den Punkten Eigentum und sexuelle Rechte:
Nach islamischem Recht darf die Frau uneingeschränkt über ihr Vermögen verfügen. Auch beim Erwerb von Besitz hat sie dieselben Rechte wie der Mann. Bei Erbschaften wird die Frau nach einem im Koran genannten Schlüssel mit berücksichtigt. (4:11-12)
Die Frau besitzt einen Anspruch auf sexuelle Befriedigung durch ihren Mann, die dieser ihr nicht verweigern darf.
Grundsätzlich gilt, dass die Frau, was die Anbetung Gottes, Bestrafung oder Belohnung und den ihr gebührenden Respekt als Geschöpf Gottes betrifft, auf derselben Stufe wie der Mann steht.
Für ein Eheleben, das den Richtlinien des Islams entspricht, hat der Prophet Muhammad den folgenden klugen Rat gegeben:
Heiratet keine Frau nur um der Schönheit willen – möglicherweise ist diese Schönheit der Quell moralischer Untugend; heiratet nie nur um des Reichtums willen – möglicherweise wird der Reichtum zur Ursache von Unbotmäßigkeit; achtet bei der Heirat vielmehr auf Frömmigkeit. (Ibn Madscha)
Verwandtschaftliche Beziehungen
Der Zusammenhalt innerhalb muslimischer Familien ist im Regelfall sehr ausgeprägt. Jedes Familienmitglied ist darum bemüht, einen engen und guten Kontakt zu allen nahen und fernen Verwandten zu unterhalten. Nur wenn es gar nicht anders geht, werden Eltern in Altersheime geschickt. Auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres verlassen die Kinder das Elternhaus in der Regel nur dann sofort, wenn wichtige berufliche bzw. Studiengründe vorliegen, oder bei Gründung einer eigenen Familie. Bestehende Beziehungen werden aber auch dann weiter gepflegt.
Weiterhin trägt z.B. der Besuch von Familie oder Verwandten in der Heimat dazu bei, den Kontakt aufrecht zu erhalten (Silatu r-rahm). Auch die vielen islamischen Festtage dienen der Pflege verwandtschaftlicher Kontakte und dem gemeinsamen Erleben eines Gefühls der Zusammengehörigkeit und der Wiedervereinigung.
Die Tatsache, dass Gäste gut und gern empfangen werden und besondere Speisen für sie bereitet werden, unterstreicht, dass sich das Bemühen um gute Beziehungen im Islam nicht allein auf die Familie bzw. auf den engeren Familienkreis beschränkt.
Quelle: Mertek, Muhammet (2012), Der Islam: Glaube, Leben, Geschichte, INID/Hamm.