Am Beispiel einer fiktiven Diskussion zwischen zwei Muslimen sollen in diesem Beitrag unterschiedliche Haltungen von Muslimen in Bezug auf die Demokratie aufgezeigt werden. Alper tritt als Demokrat und Befürworter der Demokratie auf, während Mustafa der Demokratie eher skeptisch gegenüber steht.
Mustafa: Aus der islamischen Perspektive heraus gebührt in einem wirklich islamischen Herrschaftssystem die höchste Staatsgewalt einzig und allein Gott. Da in der Demokratie die Macht jedoch beim Volk liegt, ist die Demokratie anti-islamisch.
Alper: Dein Argument basiert auf einer stark vereinfachten Weltsicht. Für dich gibt es nur Richtig oder Falsch. Deine Welt kennt nur Schwarz und Weiß und lässt keinen Raum für Zwischentöne. Das wahre Leben ist bunter als du denkst.
Entgegen deiner Behauptung widersprechen sich die ontologische1 Souveränität Gottes und die politische Souveränität des Volkes keineswegs. Ich glaube daran, dass Gott in Seiner Eigenschaft als Höchster Schöpfer das ganze Universum und alle Dinge darin erschaffen hat. Darum ist Gott der Unumschränkte Herrscher des Universums.
Und dennoch unterscheidet sich Seine Schöpfung im materiellen Universum von Seiner Schöpfung im Gemeinschaftsleben. Er hat jedem Menschen einen freien Willen und die Freiheit zu wählen geschenkt. Kein anderes Mitglied und kein anderer Bestandteil der Schöpfung besitzt diese Fähigkeiten. In Anbetracht dieser Tatsache kann Gott im Gemeinschaftsleben auch Dinge hervorbringen, die nutzlos zu sein scheinen. So produziert Er z.B. Heroin und ruft die Taten von Menschen ins Leben, die diesem Rauschgift verfallen sind. Das heißt jedoch nicht, das Gott es billigt, dass Menschen Drogen nehmen. Mit anderen Worten: Er befiehlt ihnen, sie nicht zu nehmen, zwingt sie aber auch nicht dazu, die Finger von ihnen zu lassen. Gott hat die Menschen mit einem freien Willen ausgestattet und zieht sie für ihr Handeln zur Rechenschaft.
Gott erschafft alles, was geschieht. Die Wahl eines Staatsoberhaupts ist in ontologischer Hinsicht also eine Schöpfung Gottes und kann daher nicht in Widerspruch zu Seiner Souveränität stehen. Eine andere Frage ist natürlich, inwieweit eine bestimmte Wahl in den Augen Gottes auch tatsächlich Frucht bringend und positiv ist.
Mustafa: Trotzdem bleibe ich bei meiner Meinung und behaupte weiterhin, dass Wahlen grundsätzlich nicht mit dem Islam in Einklang stehen. Erinnere dich doch nur einmal an die Vorgehensweise Gottes in Bezug auf das Amt des Propheten. Gott ist es, der die Propheten erwählt, ganz unabhängig davon was die Menschen denken.
Alper: Ein perfektes Beispiel! Natürlich können die Menschen ihre Propheten nicht in Abstimmungen wählen, denn per Definition sind die Propheten Gesandte Gottes. Politische Machthaber hingegen sind Repräsentanten des Volkes, keine Repräsentanten Gottes. Auch der Koran unterstreicht, dass nach dem Propheten Muhammad kein weiterer Prophet mehr kommen wird. Deshalb steht es den Menschen frei, ihre eigenen Führungskräfte zu wählen.
Abgesehen davon stellt die Demokratie, die ja den Willen des Volkes zum Ausdruck bringt, eine Alternative zu Monarchie und Oligarchie dar, nicht aber zur Souveränität Gottes. Deiner Logik folgend müssten doch auch Monarchie und Oligarchie Seiner Souveränität widersprechen. Willst du etwa allen Ernstes behaupten, die unterschiedlichen Herrscherdynastien hätten ihr ‚Recht zu herrschen‘ von Gott übertragen bekommen? Glaubst du denn wirklich, dass die Militärregime dieser Welt die Schatten Gottes auf Erden sind? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Mustafa: Nein, nein, das habe ich nicht gemeint. Aber ich bin auf deine Einschätzung gespannt, wenn eine von Menschen errichtete Herrschaft die Regeln und Gebote Gottes ganz offen in Abrede stellt. Im Islam spiegeln der Koran und die Sunna des Propheten die Weisungen Gottes wider. Darum werden sie als absolute Wahrheit akzeptiert. In der Demokratie hingegen liegt idealerweise alle Macht und auch die Rechtmäßigkeit, Gesetze zu erlassen, beim Volke.
Alper: Trotzdem haben wir es hier nicht mit einem Widerspruch zu tun. Erstens erlassen muslimische Ländern normalerweise keine Gesetze, die der Offenbarung Gottes widersprechen. Und zweitens enthalten Koran und Sunna keine konkreten starren politischen Prinzipien. Die Politik beschäftigt sich mit temporären weltlichen Angelegenheiten, die dem Wandel von Raum und Zeit unterworfen sind. Wenn die Menschen Gesetze erlassen, sollten diese einerseits mit den konstanten, allgemeinen und universellen Prinzipien der Herrschaft Gottes in Einklang stehen und andererseits den veränderlichen sozio-politischen Zusammenhängen angepasst sein. Drittens ist es doch viel wahrscheinlicher, dass die Souveränität von Diktatoren, Dynastien oder Oligarchien die Herrschaft Gottes anfechtet als die Souveränität eines Willens des Volkes.
Außerdem kann die Demokratie verschiedene Formen annehmen, beispielsweise die direkte oder die repräsentative Form der Demokratie. In der direkten Demokratie stimmen die Menschen in Volksentscheiden über nahezu alle politischen Fragen ab. In der repräsentativen Demokratie hingegen wird die Politik von den gewählten Repräsentanten des Volkes gestaltet. Darüber hinaus verfügen einige repräsentative Demokratien über oberste Gerichtshöfe wie das Bundesverfassungsgericht, die das Recht, Gesetze zu erlassen, beschränken. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich mögliche Unvereinbarkeiten zwischen der Souveränität des Volkes und den Geboten Gottes dadurch beseitigen lassen, dass man Institutionen (d.h., ein repräsentatives System und einen obersten Gerichtshof) gründet, in denen einige der Gebote Gottes verankert sind und die gleichzeitig als Säulen der Verfassung dienen.
Mustafa: Du versucht, mich davon zu überzeugen, dass der Islam und die Demokratie durchaus miteinander vereinbar sind…
Alper: Mehr noch – ich glaube, dass der Islam mit der Demokratie wesentlich besser harmoniert als mit jedem nicht-demokratischen System. Der Ausspruch des Propheten, dass …meine Gemeinschaft niemals in einem Irrtum Übereinstimmung erzielen wird…verdeutlicht, dass der Mensch die Quelle politischer Legitimation ist. Die Tatsache, dass die vier rechtgeleiteten Kalifen gewählt wurden, beweist, dass Entscheidungen, die auf Wahlen basieren, segensreicher sind als solche, die in Oligarchien oder Monarchien gefällt werden. Im Gegenzug bedeutet dies jedoch nicht, dass Wahlen zwangsläufig gute Entscheidungen erbringen.
Mustafa: Das leuchtet mir ein; wenn aber doch alles so klar ist, warum haben sich dann so viele klassische muslimische Denker gegen die Demokratie ausgesprochen?
Alper: Zunächst einmal sollte man klassische Denker nicht an modernen Vorgaben messen. Historische Ideen müssen in ihrem jeweiligen historischen Kontext bewertet werden. Man darf nicht vergessen, dass bis zur Französischen Revolution die Monarchie das dominante politische System war. Hinzu kommt, dass viele klassische islamische Denker (z.B. al-Baqilani und al-Mawardi) betonten, dass jeder neue Kalif über Wahlen gefunden und bestätigt werden müsse. Ein System, das auf Vererbung basiert, lehnten sie ab. Schließlich sind die undemokratischen Elemente der klassischen Gedankenwelt Resultate historischer sozio-politischer Begleitumstände, und keine Resultate der Grundlagen islamischen Denkens. Das islamische politische Denken hat überhaupt keine Probleme damit, sich demokratischer Systeme zu bedienen, sie zu übernehmen und zu legitimieren.
Mustafa: Wenn Islam und Demokratie so gut zusammenpassen, warum haben dann so viele muslimische Länder so undemokratische Regierungssysteme?
Alper: Wie ich bereits gesagt habe, widersetzt sich der Islam dem Konzept der Demokratie grundsätzlich nicht. Er ist nicht dafür verantwortlich zu machen, dass es in der muslimischen Welt so viele undemokratische Systeme gibt. Auf der Suche nach Gründen für den offensichtlichen Mangel an Demokratie in jenen Ländern sollte man andere Faktoren wie z.B. deren ökonomische und kulturelle Bedingungen oder ihre internationalen Beziehungen in Betracht ziehen, die ja alle zusammen ihre politischen Systeme prägen.
Der Islam kann aus verschiedenen Perspektiven heraus betrachtet werden. Einerseits verlangt er Gehorsam gegenüber den Herrschenden (4:59), andererseits ruft er aber auch zum Widerstand auf. Vom Propheten stammt die Aussage: Der beste Dschihad besteht darin, einem Tyrannen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Nicht-demokratisch legitimierte muslimische Herrscher haben ihre eigenen Ansichten, wie der Islam zu interpretieren ist. Diese Ansichten sind stets sehr stark von der Situation beeinflusst, in der sie sich befinden. Die Praktiken dieser Herrscher spiegeln nicht die theoretischen Prinzipien und die wesentlichen Punkte des Islam und deren Verhältnis zur Demokratie wider.
Mustafa: Klingt interessant. Ist die Demokratie deiner Meinung nach denn das einzige politische System, das mit dem Islam vereinbar ist?
Alper: Nein. Obwohl es im Islam absolute und universelle Werte gibt, können Muslime durchaus unterschiedliche Meinungen vertreten und ihre Meinungen ändern. Die wesentlichen Punkte des Islam stellen unabänderliche und ewige Werte dar. Politische Ideen sind jedoch immer an äußere Umstände gebunden. Sie sind nie absolut und verändern sich mit den sozio-politischen und ökonomischen Gegebenheiten. Daher befürworten Muslime oft ganz unterschiedliche politische Linien. Ich persönlich ziehe die Demokratie allen anderen politischen Systemen vor. Wenn sich aber herausstellen sollte, dass andere Systeme die Menschheit weiter nach vorn bringen, würde ich meine Meinung durchaus ändern.