Sie ist ein Gebäude aus Stein, das dafür verehrt wird, das erste Haus der Menschheit auf Erden gewesen zu sein. Lange bevor das Fundament der Kaaba von einem aufrechten Propheten gelegt wurde, wurde sie in einer Sphäre jenseits der Himmel konzipiert – zu einer Zeit, in der Mörtel, Steine und Ziegel noch gänzlich unbekannt waren. Schon Jahre, bevor die Welt mit dem Propheten Adam beehrt wurde, war der Ort, an dem sie schließlich erbaut wurde, vorherbestimmt und für sie reserviert worden. Das wissen wir deshalb so genau, weil die Engel dem Propheten Adam verrieten: „Wir haben die Kaaba bereits bevor du erschaffen wurdest viele Male umschritten.“ Nach der Sintflut wurde das Gebäude, das bis auf die Grundmauern zerstört worden war, neu aufgebaut:
„Und als Abraham mit Ismael die Grundmauern des Hauses errichtete (sagte er): ‚Unser Herr, nimm von uns an; denn wahrlich, Du bist der Hörende, der Allwissende.‘“ (2:127)
Die Kaaba ist die greifbare Projektion einer leuchtenden Säule, die aus dem Zentrum der Erde bis hinauf zum am weitesten entfernten Lotusbaum (Sidrat al-muntaha) wächst und um die die Menschen, die Dschinn und die Engel unablässig kreisen. Sie ist ein unvergleichlicher Schrein, dessen Wert dem der Himmel gleichkommt. Milliarden reiner Seelen – sichtbarer wie unsichtbarer – sehnen sich nach diesem Allerheiligsten und vereinigen sich dort. Deshalb wird die Kaaba sowohl in den Himmeln als auch auf Erden Bayt Allah – das Haus Gottes – genannt.
Jahr für Jahr strömen die Gläubigen per Flugzeug, Schiff, Auto oder einem anderen Transportmittel der grünen und warmen Aura der Kaaba entgegen – ebenso wie ihren immateriellen Toren, die einen Blick auf das Jenseits gestatten. Im Augenblick des Abschieds von Zuhause, in dem Moment, in dem die Pilger ihre makellosen weißen Gewänder anlegen, befreien sie sich von allen weltlichen Sorgen und Nöten. Fortan ähneln sie Engeln und wecken in ihren Mitmenschen eine unbeschreibliche Sehnsucht.
Jeder Reisende auf dieser gesegneten Pilgerfahrt fühlt, dass er an den Gestaden einer anderen wunderbaren Welt wandert. Die Haltung der Pilger ist so aufrecht wie die Statur einer Eiche, so eindrucksvoll wie das Schweigen der Wälder und so Ehrfurcht gebietend wie das weite Meer. In völliger Hingabe und Aufrichtigkeit legen sie gewaltige Distanzen zurück. Die Wege zur Kaaba sind weit und oft beschwerlich. Diese gesegnete Reise bringt Entbehrungen mit sich und stellt die Gläubigen auf die Probe. Sie ähnelt der spirituellen Reise eines Sufis, dem Leid der Läuterung. So sind Gipfel zu erklimmen, hinter denen das Paradies wartet, und Abgründe zu meiden, in deren Tiefen sich die Hölle verbirgt. Doch diese Fährnisse helfen den Reisenden, die notwendige spirituelle Spannung aufzubauen und sich innerlich vorzubereiten. Jeder Pilger unterzieht sich also – ganz seinen Fähigkeiten entsprechend – einer praktischen Übung, einem Prozess, in dem er sich gewissermaßen auflädt. Und bei Ankunft an der Kaaba erreichen seine Begeisterung und seine Leidenschaft ihren Höhepunkt.
In der Vergangenheit pflegte man die Pilgerfahrt auf dem Rücken eines Pferdes oder eines Kamels zu unternehmen. Unterwegs besuchte man Hunderte ehrwürdiger Orte und Gräber und durchwanderte jene Länder, in denen einst die bedeutendsten Propheten lebten. Man konnte sich bildlich vorstellen, wie es wäre, mit ihnen zusammenzutreffen. Auf diesen gesegneten Reisen der Vergangenheit suchten die Pilger die Gesellschaft der verstorbenen rechtschaffenen Menschen und ließen sich von ihrer leuchtenden Aura inspirieren. Sie hatten das Gefühl, über eine überwältigende friedvolle Prachtstraße zu flanieren. Es schien ihnen, als überschüttete man sie mit Schönheit, als trüge man ihnen ein romantisches Gedicht vor. Sie stimmten sich darauf ein, Gunstbeweise aus der Welt der Bedeutungen zu empfangen; und kraftvoll klopften sie an das Tor des Allmächtigen.
Eine logische Konsequenz einer solchen Reise war eine geschärfte Wahrnehmung von Herz und Seele, und wenn die Pilger ihr Ziel erreichten, erkannten sie, dass die Kaaba sie voller brennender Leidenschaft willkommen hieß und von ihrer angestammten Heimat über den Himmeln auf sie herab blickte. Erfüllt von einem überschäumenden Verlangen nach Wiedervereinigung warfen sie sich in ihre ausgebreiteten Arme. Ein Blick auf das würdevolle Antlitz der Kaaba, auf ihren Schatten auf dem angrenzenden Marmorboden und auf ihre glühende Umgebung ließ die Pilger wissen, dass die Bedeutung dieses Schreins bis in die Himmel empor reicht. Und mit ihrer Intuition erfassten die Pilger die Realität, die sich hinter diesem unergründlichen Antlitz verbarg. Im Gebet ging ihnen dann endgültig auf, welch unendlich große, nie zuvor verspürte Freude ihnen diese Reise schenkte.
Die Kaaba harmoniert so perfekt mit ihrer Umgebung, dass dem aufmerksamen Beobachter sofort die enge Beziehung zwischen dieser Region und ihrem Heiligtum ins Auge sticht. Sie prunkt dort, als sei sie nicht aus irgendeinem gewöhnlichen Material erbaut worden, sondern in genau dieser Form wie von selbst aus dem Erdboden geschossen – oder, noch wahrscheinlicher: als sei sie von den Engeln in den Himmeln erbaut und anschließend auf die Erde gebracht worden.
Inmitten all der kleinen und großen verdorrten Hügel und Berge, inmitten all dieser Steinhaufen, wirkt die Kaaba, als leite sie ein Bittgebet. Jedes Objekt, einfach alles in ihrem Umfeld, stimmt in dieses mit Gebet ein, öffnet die Hände gen Himmel und lauscht der Kaaba in ehrfurchtsvoller Stille.
Die Kaaba ist ein Heiligtum, in dem vertraute Freunde begrüßt werden, und ihre Umgebung gleicht einer Empfangshalle. Die Hügel Safa und Marwa sind Observatorien, die einen Blick auf den Schauplatz der Wahrheit gestatten. Die Stätte Abrahams ist eine gesegnete Treppe, die in die Himmel hinauf führt, und der Brunnen Zamzam ist ein Mundschenk in der Versammlung der Liebe. Von all diesen Orten willkommen geheißen, eignen sich die Pilger – die Reisenden im Namen der Liebe – eine außerweltliche Persönlichkeit an und beginnen, diesen Bezirk der Herrschaft Gottes genauer in Augenschein zu nehmen. Dabei hisst ihre Vorstellungskraft die Segel und bricht auf zu so weiten Horizonten, dass die Pilger den Eindruck gewinnen, als genügte ein weiterer Schritt, und sie beträten die Sphäre der Welt des Jenseits.
Die Kaaba ist ein Bauwerk von dieser Welt, und die Baustoffe, die zu ihrer Errichtung benötigt wurden, stammten aus der Umgebung. Und doch erweckt sie den Anschein, als sei sie eine Lotosblume, die fest in den Himmeln verwurzelt ist und die Geheimnisse all dessen, was existiert, in ihrer Seele trägt. Ihre Verbindung sowohl mit der Erde als auch mit den Himmeln ist ganz offenkundig. Sie ist der erhabenste und älteste Diamant. Sie trägt Spuren jeder vergangenen Epoche und ähnelt einem alten Gebäude, das nie an Glanz verliert und dessen Wert beständig wächst.
So wie Adam eine wertvolle Quelle für Geist, Charakter und Verhalten von Menschen aller Generationen war, ist die Kaaba ein geheimnisvolles Haus, das den Geist, die Bedeutung und den Inhalt aller Gebäude auf Erden und der Disziplin der Baukunst in sich trägt.
Quelle: Aksoy, Ömer Faruk (2007), Die heiligen Stätte des Islams: Mekka und Medina, Fontäne-Verlag/Offenbach