Die Wahrnehmung des Islams wird in den letzten Jahren verstärkt durch den politischen Islam geprägt. Zu dieser prekären Variante des Islams gibt es mittlerweile zahlreiche Veröffentlichungen, die über die damit verbundenen Herausforderungen und Probleme informieren. Das neue Buch „Gottes falsche Anwälte“ des Islamwissenschaftlers und Soziologen Prof. Mouhanad Khorchide (Münster) setzt sich von diesen Veröffentlichungen durch seine außerordentlich engagierte und stringente Argumentation ab: Die Hauptthese des Buches besteht darin, dass es sich bei der heutigen Version des Islams um eine Manipulation handelt, die die ursprünglichen Intentionen des Islams grundlegend verfälscht und in die falsche Richtung gelenkt hat. Dadurch wird eine Diskussion angestoßen, die die geschichtliche (Fehl-) Entwicklung des Islams ins Zentrum stellt.
Das Buch besteht insgesamt aus zwei Teilen. Im ersten Teil werden die Manipulation und ihre geschichtlichen Hintergründe sowie die Auswirkungen dieser Verfälschung bis in die Gegenwart bei den heute in Deutschland lebenden Muslimen behandelt. Dabei werden im Einzelnen verschiedene zentrale Aspekte des politischen Islam kritisch erörtert, wie z.B. der Machtspruch, das Verständnis von Politik, das Konzept der Unterwerfung, das Verhältnis von Frauen und Männern und das verzerrte Gottesbild. Der zweite Teil behandelt dann die Frage, wie sich Muslime aus dieser Manipulation befreien können, und bietet Lösungsansätze, wobei hier auf die vielfältigen Probleme eingegangen wird, mit denen Muslime heute sowohl innerislamisch als auch gesellschaftlich zu kämpfen haben. Der Autor fasst diese Lösungsansätze unter der Überschrift „aufgeklärter Islam“ zusammen.
Die Manipulation geht laut Khorchide bis in die Anfänge der Umayyaden-Dynastie1 zurück. Ihr Begründer, Mu´awiya2, riss im Jahr 661 mit militärischer Gewalt die Macht an sich. Gelehrte bezeichnen diese Machtübernahme auch als „Umwandlung des Kalifats in ein Königreich“. (S. 24) Die daraus resultierende Verzerrung begründet der Autor damit, dass die Religion als Machtinstrument durch das „Kalifatentum“ instrumentalisiert wurde, um ihren Machtanspruch zu legitimieren. Dieses politische Instrumentarium sei durch die Eroberungen der beiden Großreiche von Byzanz und der Sassaniden im 7. Jahrhundert in den Islam eingeflossen und hätte das Verständnis von Freiheit und Unabhängigkeit zum Zwecke der Machtausübung abgeschafft:
„Die politische Mentalität der Sassaniden galt für die Sultane als Ideal, dessen Verwirklichung sie anstrebten. Dadurch trugen die Gelehrten dazu bei, das koranische Prinzip der „Schura“ (Beratung/Mitspracherecht) auszuhöhlen und das Verständnis vom Kalifen als Stellvertreter Gottes auf Erden zu festigen.“ (S.53)
Das Buch liest sich sehr gut. Seine Argumentation ist klar und schlüssig. Allerdings fällt auf, dass der Autor den Gedanken der Barmherzigkeit Gottes und der Freiheit des Menschen sehr oft wiederholt. Beim Lesen entsteht insofern der Eindruck, dass der Autor diese Aspekte des Islams etwas einseitig betont und ständig herausstellt. Fast in jedem Absatz werden diese beiden Eigenschaften des Islams erwähnt und im Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Verfälschung als Ausweg benannt. Auf der anderen Seite ist es jedoch kein Wunder, dass der Autor vor allem diese Eigenschaften des Islams zur Sprache bringt. Vor allem angesichts der Lesarten des Islams, die in vielen Punkten nicht mit den universellen Werten in Einklang zu bringen sind. Diese Lesarten sind laut Khorchide vor allem auf Politiker und Gelehrte zurückzuführen, die Normen so auslegen, dass man den Eindruck gewinnt, dass es sich beim Islam nur um eine Religion der Unterdrückung handele. Im Großen und Ganzen hat der Autor deshalb bei diesen Themen recht, wenn er sagt, dass der Islam in seiner Grundidee verdreht und machtpolitisch wurde sowie heute noch missbraucht wird. Der Autor macht aus heutiger Sicht den politischen Islam für den Verrat des Islams verantwortlich, weil dieser die Gesellschaft, die Kultur, den Staat und die Politik anhand von Normen, die als islamisch angesehen werden, umgestalten möchte. (S.95) Tatsächlich ist in den meisten islamisch geprägten Ländern, wo die Scharia als Gesetz gilt, zu beobachten, dass diese Normen zur Machterhaltung und zu Abschreckung von Menschen dient. Diese Art des Islammissbrauchs führt dazu, dass die Bevölkerung sich aufgrund von Sanktionen, die bis zu Todesstrafen reichen können, nicht gegen Ungerechtigkeiten wehren können.
Es ist jedoch nicht klar, was nach Khorchide zum strittigen Begriff „politischer Islam“ gehört, außer dass es sich dabei um eine Ideologie handelt, die die Gesellschaft, die Kultur, den Staat und die Politik nach islamischen Normen umgestalten will. Im Verlauf der Ausführungen dazu entsteht der Eindruck, dass religiöse Praktiken, die innerhalb der muslimischen Mehrheit verbreitet sind, wie das Fasten und das koschere Essen (islamisch halal = erlaubtes) vor allem dem politischen Islam, sozusagen als dessen besonderes Kennzeichen, zugeordnet werden. Bezugnehmend auf diese beiden Praktiken unterstellt Khorchide, dass es in ihnen nur darum ginge, geistige und gesellschaftliche Parallelstrukturen aufzubauen, die verhindern sollen, dass sich Muslime mit der Gesellschaft identifizieren. (S.106) Hierzu muss man sagen, dass nicht nur Muslime auf koscheres Fleisch und Gummibärchen achten, sondern auch gläubige Juden. Es wäre eine Anmaßung diese Praktiken an sich als böswillige Absicht einer partikularisierten Lebensstruktur zu bezeichnen, zumal es als Teil einer religiösen Überzeugung verstanden werden kann. Denn Muslime, die ihren Glauben ernstnehmen, achten auch auf diese Essenvorschriften und haben deshalb nicht zwingend mit dem politischen Islam zu tun. Auch Gelatine wird in diesem Zusammenhang thematisiert, wozu unter Muslimen keine einhellige Meinung vertreten wird. Denn der Islam lässt bei Geboten, die nicht eindeutig sind, Auslegungsspielraum bzw. Anstrengung in der Findung einer Rechtsnorm (idschtihād)3 zu, so dass hier nicht auf eine politische Richtung geschlossen werden kann. Beispielsweise wird Yusuf al-Qaradawi gerne von Vereinigungen zitiert, die den Muslimbrüdern nahestehen. Dieser vertritt jedoch im Gegensatz zur Behauptung im Buch die Ansicht, dass bei Gelatine eine Umwandlung (istihala) stattfindet, so dass die Gelatine als halal betrachtet werden kann.4 Bei der Beurteilung dieser Praktiken scheint der Autor von einer größtenteils arabisch geprägten muslimischen Community auszugehen, denn zum Thema koscheres Fleisch gibt es – je nach den vier traditionellen Rechtsschulen -unterschiedliche Auslegungen (Siehe auch Fußnote 3). Beispielsweise erlaubt die schāfiitische5 Rechtsschule, dass man in den Ländern, in denen man kein koscheres Fleisch findet, Fleisch essen darf, wenn man die basmala6 aufgesagt hat. Demnach dürfte die Behauptung, dass Anhänger des politischen Islams sich durch Gelatine und Koscher-Fleisch gerne abgrenzen, nicht für alle Muslime gelten. Das hat eher mit der Lebenspraxis von Muslimen und nicht mit dem politischen Islam zu tun. Muslime sind keine homogene Gruppe von Menschen und es gibt nicht den Islam, von daher gibt es auch nicht die Muslime. Es gibt verschiedene Lesearten und verschiedene Auslegungsformen, so dass man hier aufgrund der Glaubenspraxis schwer sagen kann, zu welcher Gruppe ein Muslim gehört. Hier wäre eine differenzierte Herangehensweise wünschenswert gewesen, da man sonst der Gefahr einer Stigmatisierung verfällt und somit Menschen dem politischen Islam zuordnet, obwohl diese damit überhaupt nichts zu tun haben. Eine präzisere Definition des politisierten Islam würde mehr Muslime „mitnehmen“, wenn es darum geht, gegen diesen Missbrauch der Religion vorzugehen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Muslime, die an sich reserviert gegenüber dem politischen Islam sind, Partei für diesen politisch missbrauchten Islam ergreifen.
Der politische Islam grenzt sich hingegen vor allem dadurch ab, dass er immer wieder auf ein Feindbild wie den Westen (USA und Europa) sowie die Juden bzw. den Antisemitismus zurückgreift. Mit solchen Verschwörungstheorien will er vom eigenen Unvermögen und der Unfähigkeit ablenken, Antworten auf die heutigen Fragen zu finden. Dies thematisiert Khorchide auch im Unterkapitel „Die Opferrolle als kollektive Identität“, indem er schreibt:
„Eine eigene Gruppe muss aufgebaut werden als Opposition gegenüber dem Rest der Welt. Diese Gruppe muss zusammenhalten, zusammengeschweißt durch ihre Opferhaltung und ihren Anspruch auf Selbstbehauptung. Die Gefahr, die vom politischen Islam ausgeht, besteht in der Polarisierung der europäischen Gesellschaften: Wir Muslime und die anderen. Diese Polarisierung ist aber normativ konnotiert, im Sinne von: Wir Muslime sind die Guten, aber Opfer der Bösen, und die Bösen, das sind stets die „anderen“. (S.96)
Tatsächlich beruft sich der politische Islam immer wieder bei Diskussionen auf diese Opferrolle anstatt die Schuld bei sich zu suchen und verhindert dadurch eine kritische innerislamische Auseinandersetzung mit den eigenen Verfehlungen. Meist wird zu Abwehr auf den Begriff der Islamophobie zurückgegriffen, ohne zu reflektieren, woher diese Angst in der Gesellschaft kommt. Die Schuld wird beim Anderen gesucht, wie Khorchide richtig feststellt:
„Der Feind ist nicht in der Außenwelt zu finden, er ist in unserem Inneren. Genau deshalb stellen der Bruch mit diesen Unterdrückungsstrukturen und die Herausbildung neuer Strukturen der Freiheit die größte Herausforderung für uns Muslime heute dar. Wir beschäftigen uns viel zu sehr mit der Suche nach dem Schuldigen in der Außenwelt – sei es der Kolonialismus, der Westen, korrupte Regime in den islamischen Ländern, politische Unterwerfungsstrukturen, Patriarchalismus, Kapitalismus, Konsum oder Materialismus.“ (S. 174)
Die Thematisierung der mystischen Dimension des Islams, die im Gegensatz zur Politisierung steht, wird im Kapitel „Nein zu Gottesräubern! Nein zur schwarzen Pädagogik“ sehr gut umrissen. Demnach ist nur derjenige ein wahrhaftiger Gläubiger, der seinen Glauben aus Liebe, für die Liebe ausübt, und nicht um eine Belohnung im Jenseits zu erhalten. Liebe entsteht durch die Freiheit selbst entscheiden zu dürfen und nicht durch Unterdrückung, Angst und Drohungen, die den Willen des Menschen bestimmen, da dadurch kein Raum für Selbstbestimmung bleibt. (S. 179) Die größte Errungenschaft im Islam ist nicht das Paradies, sondern das Antlitz Gottes. Eine Reduzierung des Glaubens auf Paradies und Hölle verkürzt religiöse Ritten auf eine materielle Gegenleistung, die der Autor mit einem Zitat von Rabia al-Adawiyya7 (gest. 801) gut zum Ausdruck bringt. Diese sagte, dass sie gerne das Höllenfeuer auslöschen und das Paradies anzünden würde, damit die Menschen nicht aus Angst vor der Hölle oder für eine Belohnung im Paradies gut handeln. (S.180) Es wird im weiteren Verlauf des Buches deutlich, dass der Autor mit der Liebe zu Gott nicht nur den Glauben an Gott meint, sondern auch den Dienst am Menschen. Dieser spiegelt sich in der Frage wider, die sich jeder Muslim stellen sollte, indem er fragt: Wie kann ich die Gesellschaft, in der ich lebe, bereichern? Wie kann ich Hand Gottes auf Erden sein? Die Lösung besteht nach Khorchide darin, dass wir geistige und kulturelle Brückenbauer in einer modernen pluralen Gesellschaft benötigen, die die Kraft der Achtsamkeit und Spiritualität an den Tag legen. (S. 235)
Kontroverse Themen und Vorschläge, die im Buch zur Sprache gebracht werden, wie die Geschlechterrolle der Frau, auch als Vorbeterin, das Verhältnis zu Homosexualität, eine Pädagogik der Angst, die in den Moscheen weit verbreitet ist, bis hin zu einer Theologie der Liebe werden den innerislamischen Diskurs in den kommenden Jahren beschäftigen. Da Muslime derzeit einen Transformationsprozess durchlaufen, der sich zwischen Tradition und Moderne befindet, ist noch eine große Angst und Abneigung gegenüber Tabuthemen wie diesen vorhanden. Auf der einen Seite stehen die Traditionalisten, die sich an Werte klammern, die nicht mehr zeitgemäß sind. Auf der anderen Seite die Modernisten, die einen kompletten Bruch mit den islamischen Werten einfordern, weil sie Religion an sich nicht mehr für zeitgemäß und obsolet halten. In dieser Spannung stellt gegenwärtig die Findung einer gesunden Mitte eine große Herausforderung dar. Das Buch von Khorchide gibt in diesem Sinne wichtige, aufrüttelnde Anstöße für ebenso kontroverse wie hoffentlich fruchtbare Diskurse. Es ist zu hoffen, dass sich dadurch mehr Muslime solchen kontroversen Themen stellen und einladen lassen kritisch mitzudenken.
Fußnoten
1 Die Umayyaden (arabisch بنو أمية banū Umayya oder الأمويون waren ein Familienclan des arabischen Stammes der Quraisch aus Mekka, des Stammes, dem auch der Religionsgründer Mohammed entstammte. Angehörige der Familie herrschten von 661 bis 750 n. Chr.
2 Muʿāwiya (arabisch معاوية بن أبي سفيان) 603 in Mekka; † 18. April 680 in Damaskus) war der erste Kalif der Umayyaden (661–680) und Begründer dieser Dynastie. Er gilt als einer der bedeutendsten Herrscher der arabischen Geschichte.
3 Idschtihād (arabisch اجتهاد, iǧtihād ‚Anstrengung‘) ist ein terminus technicus der islamischen Rechtstheorie, der die Findung von Normen durch eigenständige Urteilsbemühung bezeichnet. Er steht verkürzt für den arabischen Ausdruck iǧtihād ar-raʾy („Bemühung um ein eigenes Urteil“)
4 http://www.halalwiki.net/index.php/Gelatine
5 Die Schāfiʿiten oder Schafiiten (arabisch الشافعية, DMG aš-šāfiʿīya) sind Angehörige einer der vier traditionellen Rechtsschulen (Madhahib) des sunnitischen Islams. Die schafiitische Rechtsschule gilt nach den Hanafiten als die zahlenmäßig zweitgrößte der Schulen.
6 Die Basmala (arabisch بسملة, DMG basmala) ist eine arabische Anrufungsformel, die mit einer Ausnahme am Anfang jeder Sure des Korans steht und bis heute eine äußerst wichtige Rolle im Gottesdienst und Alltag der Muslime spielt. Sie lautet: بسم الله الرحمن الرحيم / bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīmi / ‚Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes‘
7 Rābiʿa al-ʿAdawiyya al-Qaisiyya (arabisch رابعة العدوية القيسية, DMG Rābiʿa al-ʿAdawiyya al-Qaysiyya, * 714, 717 oder 718 in Basra; † 801 ebd.) war eine legendäre islamische Mystikerin, die als eine der ersten Sufistinnen gilt