Nasreddin Hodscha gehört zu den berühmtesten Philosophen des Humors in der Weltgeschichte. Die Anekdoten von ihm, die über ein weit verbreitetes Gebiet von Deutschland bis nach Japan erzählt werden, enthalten Lektionen, die darauf abzielen, ein Schlaglicht auf eine menschliche Unzulänglichkeit oder auf einen schwachen Punkt zu werfen und so die Leute dazu zu bringen, diese besser zu verstehen und auszumerzen. Nasreddin Hodscha ist in verschiedenen Ländern unter verschiedenen Namen bekannt. In Armenien wird er Artin genannt, in Deutschland Eulenspiegel, in Schottland MacAntash, in Arabien Dschuha sowie in weiteren Ländern Ero, Coso, Iter Pejo usw. Dies liegt möglicherweise daran, dass es in jedem Land ein Pendant zum Hodscha gab oder die Anekdoten vom Hodscha einer Figur bedurften, der sie zugeschrieben werden konnten.
Eine wirkliche Persönlichkeit oder ein Produkt volkstümlicher Fantasie?
Wie dies bei allen anderen Volkshelden der Fall ist, ist auch das Leben Nasreddin Hodschas von allerlei Legenden umrankt. Über ihn seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts angestellte Forschungen stimmen jedoch alle darin überein, dass er in Sivrihisar, einem Distrikt in der Provinz Eskisehir in der Zentraltürkei, geboren wurde. Der Angabe von O. S. Gökyay in dessen Artikel in „Islam Ansiklopedisi“ (Enzyklopädie des Islam) (Istanbul 1986) zufolge schreibt Fuat Köprülü (Nasreddin Hoca, Istanbul, 1918), dass einer der verstorbenen Muftis von Sivrihisar namens Hasan Effendi in seinem unvollständigen Buch mit dem Titel „Majmu´a-i Ma´arif“ (Enzyklopädie der Erziehung) bemerkt, dass Nasreddin Hodscha in einem Dorf namens Horto in der Nähe von Sivrihisar geboren wurde und dort einige Zeit lang als Imam (Gebetsleiter) diente, nachdem sein Vater, der auch Imam gewesen war, gestorben war. Er wanderte nach Aksehir, einem Distrikt in der Provinz Konya in der Zentraltürkei, aus und vollendete dort sein Leben.
Es gibt jedoch einige, die behaupten, dass Nasreddin Hodscha ein späteres Produkt volkstümlicher Erfindung sei. Derartigen Behauptungen zufolge gab es einen Mann namens Nasr al-Mahmud, der das Vertrauen von Geyhatu, dem damaligen Kommandeur der mongolischen Armeen in der Türkei, erlangt hatte und ihn daran hinderte viel Unrecht zu tun und Blut zu vergießen. Weil jener Mann weise und bei den Leuten sehr beliebt war, leiteten seine klugen Aussprüche die Leute dazu an, einen Nasreddin Hodscha zu erfinden. Derartige Behauptungen wurden jedoch von ernsthaften Forschern zurückgewiesen. Unter ihnen bemerkt Ismaïl Haqqi Konyali, der ein umfangreiches Werk über Nasreddin Hodscha und Aksehir mit dem Titel „Nasreddin Hoca´nin sehri Aksehir: Tarihi, Turistik Kilavuz (Ein historischer und touristischer Führer für Aksehir, der Stadt von Nasreddin Hodscha)“, Istanbul, 1945, verfasst hatte, dass es vier Nasru-d-Dins gegeben habe, die zur selben Zeit gelebt und dieselbe Arbeit verrichtet hätten wie Nasru-d-Din Mahmud; dieselben Behauptungen könnten über sie vorgebracht werden. Nasreddin Hodscha kann keiner von ihnen sein. Er ist einer, der tatsächlich in Aksehir gelebt hatte.
In seinem Artikel „A propos de quelques tentatives d´identification de Nasreddin Hodja“ (für den internationalen Kongress der Volkserzählungsforscher, Kiew und Kopenhagen, 1959) schreibt Pertev Naili Boratav, dass einigen später erstellten Genealogien zufolge Khidr Celebi, ein berühmter Qadi (Richter) in Istanbul während der Herrschaft von Mehmed II und des Vaters von Sinan Pascha, dem Autor von „Tadarru´name (Ein Flehen zu Gott)“, aus Sivrihisar kommen und von der Familie des Nasreddin Hodscha abstammen soll. Weiterhin weist Boratav darauf hin, dass in einem Manuskript, das er in der Pariser Bibliothèque Nationale entdeckt hatte, einige der Nasreddin Hodscha zugeschriebenen Anekdoten auch mit den Leuten von Sivrihisar sowie mit einem Mann namens Hadschi in Verbindung gebracht werden. Westliche Forscher wie zum Beispiel H Ethé, M. Hartmann und A. Wesselski behaupten, dass die Nasreddin Hodscha zugeschriebenen Anekdoten anonyme Anekdoten seien, die in fast jedem Winkel der Welt erzählt würden, und dass deshalb Nasreddin Hodscha eine Erfindung sei. Andere wie etwa R. Basset und Christensen vertreten die Meinung, dass die Nasreddin Hodscha zugeschriebenen Anekdoten Bearbeitungen der dem arabischen Dschuha zugeordneten weisen Aussprüche und Anekdoten seien, der seinerseits im 10. Jahrhundert im Irak gelebt hatte und sehr berühmt geworden war. Derartige Behauptungen entstehen jedoch aus einer fehlerhaften Verallgemeinerung. Weil Weise oder kluge Männer wie Nasreddin Hodscha in fast jedem Land gelebt haben, sind möglicherweise mittels verschiedenartiger Kommunikationswege die Anekdoten über Nasreddin Hodscha in andere Länder übertragen worden. Es gilt als sicher, dass ein Mann namens Nasreddin Hodscha wirklich existierte und ein sehr scharfsinniger sowie weiser Mann war, der die Schwachpunkte und Unzulänglichkeiten im menschlichen Charakter wahrzunehmen in der Lage war und versuchte, sie durch Humor und Geisteswitz zu kurieren.
Das Grab von Nasreddin Hodscha befindet sich in Aksehir. Ismaïl Haqqi Konyali merkt an, dass er mit eigenen Augen auf einer der sechs Säulen, die die innere Kuppel stützen, eine Inschrift gesehen habe. Dieser Inschrift zufolge besuchte einer der Soldaten des im Jahre 1403 gestorbenen osmanischen Herrschers Bayezid I, der den Namen Mehmed führte, jenes Grab im Jahre 1393. Und in einem Verzeichnis von Stiftungen und öffentlichen Ländereien, das Gedik Ahmed Pascha, der 1476 Aksehir im Namen der Osmanen erobert hatte, anzulegen befahl, finden sich ein Grab von Nasreddin Hodscha sowie eine Medrese, die von ihm für das öffentliche Wohl gestiftet wurde.
Historischer Hintergrund und Anekdoten
Die meisten der über Nasreddin Hodscha angestellten Forschungen stimmen darin überein, dass er im 13. Jahrhundert lebte. In der Grabinschrift auf einem in Sivrihisar gefundenen Grabstein, der zu Hodschas Tochter Fatima gehört, steht geschrieben, dass Fatima im Jahre 1327 starb. Lamii (gestorben 1533) schreibt in seinem Werk „Lata´if“, dass Nasreddin Hodscha ein Zeitgenosse vom Volksdichter Schayyad Hamza war, der im 13. Jahrhundert lebte. Ismaïl Haqqi Konyali berichtet, dass der Hodscha ein Zeitgenosse von Pir Abi und Khadja Dschihan war und zusammen mit ihnen vom im Jahre 1221 gestorbenen Khadadscha Fakih unterrichtet wurde. Diesen und weiteren ähnlichen Berichten zufolge lebte Nasreddin Hodscha im 13. Jahrhundert.
Im von der türkischen Stiftung für religiöse Angelegenheiten herausgegebenen Buch „Unser Hodscha Nasreddin“ in der deutschen Fassung von Achmed Schmiede heißt es hierzu: „Hodscha – d. h. geistiger Lehrer – Nasreddin ist nach den wenigen vorhandenen Überlieferungen im Jahre 605 der Hidschra, der Auswanderung des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina (umgerechnet 1208-1209 nach Christus), in Hortu bei Sivrihisar in Anatolien geboren und im Jahre 683 der Hidschra (1284-1285 n. Chr.) in Aksehir gestorben. Er soll ein oder zwei Frauen, zwei Töchter und einen Sohn gehabt haben. Viel mehr ist uns nicht bekannt und selbst das Wenige steht auf tönernen Füßen.“
In der türkischen Geschichte des Mittelalters stellt das 13. Jahrhundert ein sehr kritisches dar. Die mongolische Invasion nach den Kreuzzügen setzte dem bedeutenden Reich der Seldschuken ein Ende und bewirkte das Entstehen der Türkei. Des Weiteren machten interne Aufstände und Konflikte das Leben der Leute sehr schwer. In dieser kritischen Zeit treffen wir auf drei wichtige zeitgenössische Persönlichkeiten. Unter ihnen war Maulana Dschalalu-d-Din Ar- Rumi ein Sufimeister, der über sehr großen Einfluss in den gebildeten und herrschenden Kreisen verfügte. Als ein Verfechter islamischer Liebe und Toleranz hinterließ er nicht nur in der muslimischen Geschichte, sondern auch in der Welthistorie unauslöschliche Spuren. Maulanas Pendant unter den einfachen Leuten ist Junus Emre. Er brachte in einfachen türkischen Worten zum Ausdruck, was Maulana in einem sehr anspruchsvollen Stil in Persisch äußerte und setzte sich für die Verringerung der Leiden der Leute und das Entfernen von internen Unstimmigkeiten und Feindseligkeiten unter ihnen ein. Nasreddin Hodscha, die dritte Persönlichkeit von diesen dreien, war ein Weiser, ein Philosoph der Leute und ein Moralist. Er verfügte jedoch über einen sehr ausgeprägten Sinn für Humor und wies auf die moralischen Entstellungen der Menschen hin; ohne die Gefühle von jemandem zu verletzen kritisierte er die Leute wegen ihrer Unzulänglichkeiten in einer zuvorkommenden und cleveren Art und Weise. Seine Erwiderungen und Anekdoten sind voller geistreicher Bemerkungen und moralischer Weisheit.
Man kann unmöglich akzeptieren, dass alle dem Hodscha zugeschriebenen Anekdoten auch wirklich von ihm stammen. Es ist eine Tatsache, dass der Ruhm sich normalerweise etwas aneignet, was nicht zu ihm gehört. Das heißt, es handelt sich um eine ganz natürliche Neigung, einem berühmten Individuum auch das zuzuschreiben, was nicht wirklich zu ihm gehört. Aus diesem Grund kann eine beträchtliche Anzahl von Anekdoten, die dem Hodscha zugerechnet werden, nichts mit ihm zu tun haben. Es gibt zum Beispiel unter den Anekdoten einige, die sich zwischen dem Hodscha und Amir Timur, der den osmanischen Herrscher Bayezid I im Jahre 1402 besiegt hatte und in die Türkei einmarschiert war, abgespielt haben sollen. Es ist jedoch für den Hodscha unmöglich, mit Timur zusammengetroffen zu sein. Im Laufe der Zeit hat volkstümliche Fantasie dem Hodscha einige Anekdoten zugeordnet, die seinen eigenen ähneln.
Die dem Hodscha zugeschriebenen Anekdoten sind vom 16. Jahrhundert an in schriftlicher Form erschienen. Die ersten Bücher, die über den Hodscha und dessen Anekdoten verfasst wurden, wurden jedoch im zweiten Viertel des vergangenen Jahrhunderts veröffentlicht. Die ersten Übersetzungen in europäische Sprachen erschienen fast ein Vierteljahrhundert nach der Veröffentlichung in der Türkei. Unter den berühmtesten sind besonders „La Litérature Populaire Turque“ von Edmond Saussey (Paris, 1936) sowie „Nasreddin Hoca et ses histories Turques“ von Jean Paul Garnier (Paris, 1958) erwähnenswert.
Um sich ein Bild vom Gedankengut des Hodscha machen zu können, sollen hier einige nachstehende, ausgewählte Geschichten über Nasreddin Hodscha zeigen, welcher Art der Geist und Humor dieses Mannes waren. Sicherlich werden sie den Leser schmunzeln, vielleicht sogar lauthals lachen, aber auch zuweilen Nachdenklich werden lassen.
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Eines Tages näherte sich ein Mann dem Hodscha auf der Straße.
„Hodscha! Friede sei mit dir!“
– „Und Friede und Gottes Barmherzigkeit seien mit dir!“
– „Hodscha! Gerade vor ein paar Sekunden sah ich einen Mann, der mit einem vollen Tablett Baklava (Süßwaren) vorbeiging!“
– „Das geht mich nichts an!“
– „Aber Hodscha! Der Mann war im Begriff, zu deinem Haus zu gehen!“
– „Dann geht es dich nichts an!“
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Der Hodscha saß einmal so auf einem Esel, dass er mit dem Gesicht rückwärts blickte. Diejenigen, die ihn sahen, lachten und riefen: „Nun schaut euch bloß den Hodscha an! Er sitzt auf dem Esel verkehrt herum!“ Der Hodscha lächelte und murmelte: „Gepriesen sei Gott! Jedermann sagt, der Hodscha sitze auf dem Esel verkehrt herum. Aber niemand kommt und sagt, dass der Esel unter dem Hodscha verkehrt herum steht!“
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Eines Tages saß der Hodscha an einem See und schüttete in diesen Joghurt hinein. Einige Leute kamen gerade dort vorbei. Sie sahen den Hodscha und hielten an. „Hodscha, warum machst du das denn?“ – „Wie ihr seht, bringe ich den See zur Gärung!“ – „Ach du liebe Güte! Kann denn ein See jemals zur Gärung gebracht werden?“ – „Warum denn nicht? Was ist, wenn er tatsächlich einmal gärt?“
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Der Hodscha saß einmal in einem Melonenfeld unter einem riesigen Walnussbaum. Voller Erstaunen sagte er: „O Gott! DEINE Weisheit soll ja nicht in Zweifel gezogen werden! Aber ich frage mich doch, warum DU an einem so riesigen Baum derart winzige Walnüsse erschaffst, während DU jene Rankenpflanze so große Melonen hervorbringen lässt!“ Er hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als auf seinen Kopf eine Walnuss fiel. Da rief er unter Schmerzen: „O Gott! Mach nur weiter das, was auch immer DU willst! Was wäre bloß passiert, wenn das, was auf meinen Kopf gefallen ist, eine Melone gewesen wäre?“
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Der Hodscha pflegte mit seinen lieben Nachbarn die verschiedensten Späße zu treiben. Eines Tages borgte er sich bei seinem Nachbarn einen Kessel. Als er ihn nicht mehr benötigte, setzte er in ihn einen kleineren Topf und brachte beides dem Nachbarn. „Nanu, Hodscha“, wunderte sich der. „Was hat das zu bedeuten?“ – „Herzlichen Glückwunsch, lieber Nachbar!“, sagte der Hodscha. „Euer Kessel muss schwanger gewesen sein: Während er sich bei uns befand, hat er einen Topf zur Welt gebracht!“ Der Nachbar nahm Kessel und Topf wortlos entgegen. Nach einiger Zeit bat der Hodscha den Nachbarn erneut um den Kessel. Der Nachbar lieh ihm erneut den Kessel, weil er gespannt war, was der Hodscha wohl diesmal bei der Rückgabe hineinlegen würde. Lange Zeit hörte der Nachbar nichts von seinem Kessel. Schließlich klopfte er beim Hodscha und verlangte ihn zurück. Der Hodscha machte ein betrübtes Gesicht: „Ach lieber Nachbar!“, sagte er. „Herzliches Beileid! Euer Kessel hat das Zeitliche gesegnet!“
– „Was?“, wunderte sich der Nachbar. „Kann denn ein Kessel sterben?“ – „Nachbar, Nachbar!“, drohte der Hodscha neckisch mit dem Finger. „Dass der Kessel ein Kind bekommen hat, hast du geglaubt. Und dass er gestorben ist, willst du nun nicht glauben?“
***
V. Ayhan