Wieder einmal flammt eine hitzige Debatte über die (leidige) Leitkultur auf… Einerseits wird dabei stets „die deutsche Kultur“ in anmaßender Weise über die Kultur der Flüchtlinge, Muslime oder Türken gestellt, andererseits beschwert man sich darüber, wieso diese „unwürdige“ Minderheit sich nicht mit Deutschland und seiner Kultur identifiziert.
Irgendwie kann ich mich mit den Begriffen Leitkultur, Integration und Migrationshintergrund nicht anfreunden. Denn sie suggerieren eine dichotomische Denkweise: Wir und die Anderen – etwa so ähnlich wie bei Salafisten!
Solche Debatten haben bis jetzt nichts gebracht. Nehmen wir nur den folgenden Standpunkt vom Zehnpunktekatalog für eine deutsche Leitkultur, wird sofort klar sein, dass dies auch für jede Gruppe aus anderen Kulturkreisen gilt.
„Wenn wir uns klar darüber sind, was uns ausmacht, was unsere Leitkultur ist, wer wir sind und wer wir sein wollen, wird der Zusammenhalt stabil bleiben, dann wird auch Integration gelingen – heute und in Zukunft.“
Wie kann Integration so gelingen? Ich frage mich immer wieder: Wie? Nicht der Inhalt, sondern die Art und Weise beunruhigt mich, wenn ich dauernd mit solchen Gedanken konfrontiert werde. Ich glaube, das ist ein deutsches oder gar eurozentrisches Phänomen. Und höchst wahrscheinlich hat dies mit eigener Identitätsproblematik zu tun.
Ich denke, wir werden ein gemeinsames Wir nicht über auf Assimilation ausgerichtete Identitätsdebatten erreichen, sondern über eine aufrichtig verstandene und konkrete Wertedebatte. Wenn aber in diesem Kontext ständig die Rede von den nachfolgenden politischen Topoi Leitkultur, Integration sowie Migrationshintergrund ist, kommt es bei den Adressaten genau so an, dass sie als Mensch in ihrem Sein nicht anerkannt, oder besser gesagt, wertgeschätzt werden. Denn sehen wir andere als Mitmenschen an, dann führen wir die Debatte nicht auf der Basis einer Leitkultur, sondern auf der Grundlage des Individuums unabhängig von Nationalität und Religionszugehörigkeit. Klammern wir also bewusst die Bedingungen aus, worauf wir seit unserer Geburt keinen Einfluss hatten. Wer kann schon von Geburt an selbst bestimmen, Deutscher, Türke, Amerikaner, Franzose, Marokkaner, Afrikaner, Jude, Christ, Muslim, Buddhist etc. zu sein oder Deutsch, Türkisch, Englisch, Arabisch, Japanisch, Russisch, Swahili etc. zu sprechen oder in Deutschland, Berlin, Paris, New York, Diyarbakir, Addis Abeba, Syrien, Sudan, Tokyo, Sidney zur Welt gekommen zu sein. Kurz gesagt: Wo Nationalität oder Religion als gemeinsamer Nenner für eine Gesellschaft positioniert oder gefordert wird, dort erfolgt zwangsläufig Spaltung, Streit und ebenso Schikane. Dafür gibt es unzählige Beispiele.
Demgegenüber halte ich entgegen, dass Werte, besonders wenn sie universeller Natur sind, etwas alle Menschen Verbindendes haben und damit zugleich eine Verpflichtung für unser Zusammenleben haben. In diesem Sinne denke ich, dass sich die Geschichte der Menschheit zivilisatorisch stetig weiter entwickelt. Die menschliche Erfahrung von heute ist daher eine Fortschrittlichere als die Gestrige. Wer diese gemeinsame fortschrittliche Erfahrung als gemeinsames Produkt akzeptiert, dem fällt es auch leichter, daran teilzuhaben und ein Teil von ihr zu werden. Zu dieser zivilisatorischen Erfahrung, die ich als gemeinsames Erbe der Menschheit verstehe, zähle ich auch Demokratie, Menschrechte, Pressefreiheit, universelle Ethik, Meinungsfreiheit, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte bilden auch den gemeinsamen Nenner unserer hiesigen Gesellschaft.
Ich weiß, dass sich viele Muslime mit diesen Begriffen schwer tun. Es bleibt daher bloß oftmals beim reinen Lippenbekenntnis und geht häufig nicht über eine Floskelhaftigkeit hinaus. Nehmen wir also an, dass die genannten Werte wie Demokratie, Meinungsfreiheit, Pluralismus oder Rechtsstaatlichkeit ernst gemeint sein würden, dann müssten die Gemeinden ja in ihren Strukturen diesen Platz einräumen, was leider nicht der Fall ist.
Ich sehe es daher als sinnvoll an, auch die Salafismus-Debatte in diesem Kontext zu führen. Prof. Dr. Mouhanad Khorchide von der Universität Münster hat an einer Gesamtschule einen Vortrag über „Salafismus: Wie können Jugendliche geschützt und aufgeklärt werden?“ gehalten. Ich fand die Veranstaltung sehr treffend. Er hat zurecht dieses Problem hinsichtlich der Sozialisation, Gesellschaft und Theologie wissenschaftlich aufgegriffen und besprochen. In diesen Bereichen sind große Herausforderungen zu bewältigen. Wenn ein See aus nahezu unendlich vielen kleinen Tropfen besteht, müssen wir dafür sorgen, dass so viele Tropfen überall fallen. Wenn in jeder Schule solche Tropfen sprudeln würden, dann haben wir eine Chance für unsere Zukunft. Denn die Schule ist einer der effektivsten Orte, wo man nachhaltig etwas bewegen kann. Nun redet man über Salafismus. Man versucht zu begreifen, was überhaupt mit Islam und Muslimen los ist. Wichtiger wäre aber, dass diese oben genannten Werte zum Hauptthema in muslimischen Gemeinden werden könnten. Allein die Nichtteilnahme an solchen so wichtigen Veranstaltungen zeigt, dass muslimische Gemeinden den Ernst der Lage noch nicht begriffen haben. Wenn das Kind erst in den Brunnen gefallen ist, ist es nämlich ohnehin zu spät.
Das christliche Abendland hat nach einer über mehrere Jahrhunderte andauernden langen Phase einer dramatischen und tragischen Leitkultur im Mittelalter die Aufklärung geschafft und bewältigen können. Es konnte erst nach einem heftigen Kampf gegen „Aberglaube, Vorurteile und Autoritätsdenken“ eine neue, will sagen, moderne, weil zeitgemäße Zivilisation gegründet werden. Wir brauchen derzeit keinen Schritt zurück zu einer wie auch immer verstandenen Leitkultur, sondern die Richtung sollte nach vorne mittels der gemeinsamen menschlichen Werte erfolgen. Muslime sind dabei angehalten, genauso von dieser wertvollen Erfahrung zu profitieren.
Dies wird gelingen, wenn wir uns alle auf eine neue gemeinsame Werte-Debatte einlassen, die natürlich unverhandelbare Aspekte wie Menschenwürde und Menschenrechte enthält. Ansonsten lassen sich viele Werte auf aufrichtiger Augenhöhe durchaus produktiv führen.
Mit extremistischen Randgruppen, die sich ja in allen Gesellschaften befinden, müssen wir uns daher ebenfalls auseinandersetzen, aber freilich ohne dabei die Gesellschaft in eine unbewegliche Angststarre zu versetzen. So gesehen ist Präventionsarbeit sehr wichtig, dafür brauchen wir Aufklärung, aber keine Leitkultur.
Muhammet Mertek