„Der Philosophie zufolge ist das wichtigste Regulativ [die wichtigste ausgleichende Kraft] im Zusammenleben der Menschen die Macht. Als das Ziel des Lebens beschreibt sie die Verwirklichung der eigenen Interessen und als das alles entscheidende Prinzip den Konflikt.“[i] Zu jener Zeit, als der muslimische Gelehrte Said Nursi diese Zeilen verfasste, sah er sich mit einer europäischen Philosophie konfrontiert, die der Spiritualität jeden Anspruch auf die Interpretation der Beziehung zwischen Mensch und Universum verwehrte. Diese Philosophie besaß, ähnlich wie ein Zyklop, nur ein einziges Auge, und das konzentrierte sich allein auf die materialistische Dimension der Schöpfung. Said Nursi stellte sich dieser schier übermächtigen materialistischen Gesinnung des 19. Jahrhunderts entgegen. Er selbst verfocht einen Ansatz, der offen für die Metaphysik war und sowohl spirituelle als auch rationale Facetten besaß. Später nannte er seine Philosophie ‚die Vereinigung von Herz und Geist’.
Die eingangs von Nursi beschriebene materialistische Philosophie, die der Macht absolute Priorität einräumte, prägte die gesellschaftlichen und politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Menschen, die über die nötigen Ressourcen an Mensch und Kapital verfügten, ließen riesige Produktionsstätten bauen, in denen die unteren Gesellschaftsschichten für einen geringen Lohn für sie schufteten. So sammelte sich in den Händen einer immer wohlhabender werdenden kleinen Minderheit immer mehr Kapital an, während die meisten Mitglieder der ‚aufstrebenden’ Gesellschaften kaum genug Geld besaßen, um davon leben zu können. Nur selten floss ein Strom der Barmherzigkeit von der Spitze der Pyramide zum breiten Sockel hinab. Stattdessen stiegen von unten dunkle Wolken des Hasses nach oben empor. Egoistisch und rücksichtslos wurde versucht, persönliche Interessen oder Gruppeninteressen durchzusetzen. Dies aber konnte nur dann gelingen, wenn man sich so viel Macht wie möglich aneignete und sie dann auch ausspielte.
Gab es Konflikte zwischen gegensätzlichen Interessen, wurde die Macht zum Schiedsrichter erhoben. Revolutionen erbrachten keine Verbesserungen. Zwar verschoben sie einzelne Steine der Pyramide von hier nach dort, doch die Form der Pyramide blieb dabei stets unangetastet. Die ‚natürliche Selektion’, ein fragwürdiges Konzept, das man in der Natur beobachtet zu haben meinte, wurde zum Fundament von Zivilisationen gemacht. Die politische Bühne wimmelte stets nur so von Darstellern, die sich die Taschen voll machten. Den Massen der gewöhnlichen Menschen hingegen blieb nur die Rolle, offen oder versteckt formulierte Anweisungen entgegenzunehmen, über die ihnen mitgeteilt wurde, was sie mit ihrem Leben anstellen sollten.
Ökonomisch schwache Staaten wurden unterdrückt, ihre Menschen und Ressourcen systematisch ausgeplündert, und ihre Zukunft der Ungewissheit preisgegeben. Die Welt wurde Zeuge der blutigsten Kriege aller Zeiten, und die Menschheit stürztein die tiefsten Abgründe – Asfal as-Safilin – hinab.
In der gesamten Sozialgeschichte der Menschheit hat es kein einziges Ereignis gegeben, das nicht von irgendeiner Denkschule beeinflusst gewesen wäre. Die Intellektuellen des vergangenen Jahrhunderts neigten dazu, die Menschen ihrer spirituellen Dimensionen zu berauben und sie quasi zu Robotern zu degradieren, die gerade einmal sprechen und laufen können. Von jedem dieser Roboter wurde erwartet, dass er ständig Güter produzierte, damit der steigende Bedarf der Menschheit gedeckt werden konnte. Gleichzeitig wurden Bedürfnisse geweckt, die bis zu den entlegensten Orten des Vorstellungsvermögens reichten. Sie zu befriedigen, wurde immer schwieriger.
Die meisten dieser Bedürfnisse nahmen die Form fleischlicher Begierden an, und so verschrieben sich die Menschen ganz der Aufgabe, diese bis zum Letzten zufrieden zu stellen, obwohl das doch eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Beziehungen innerhalb der Familien, in der Nachbarschaft und auf Länderebene begannen sich zu verschlechtern. Scheidungen, häusliche Gewalt, Betrug, Mord und andere Verbrechen – genug, um jedes Herz zum Schweigen zu bringen – erschienen bald so normal, dass die Öffentlichkeit sie kaum noch registrierte. Ein Prozess war in Gang gesetzt worden, der drohte, Mensch und Umwelt zu zerstören. Said Nursi warnte die Öffentlichkeit schon früh: „Macht weckt Aggressionen; das Streben nach den eigenen Interessen beschwört Kämpfe um materielle Ressourcen herauf. Konflikte schüren Zwietracht.“[ii]
Da man meinte, im Leben ginge es allein um die Verwirklichung persönlicher Interessen, rückte das Selbst immer mehr in den Mittelpunkt. Über dem Individualismus wurde die Siegesfahne geschwenkt, während die Bindungen, die die Individuen zusammengeschweißt hatten, langsam aber sicher verschwanden. Land, Religion, Familie, der Kulturgedanke, ja praktisch alle emotionalen und historischen Kräfte, die zwischen der kosmischen Ewigkeit und dem Individuum gestanden und ihm eine Vorstellung von seinem Platz innerhalb des großen Ganzen vermittelt hatten, wurden fortan ausschließlich vernunftgemäß gedeutet und verloren dadurch viel von ihrer Dynamik.[iii]
Anstatt – wie in den vergangenen beiden Jahrhunderten geschehen – dem Faktor Macht eine überragende Position zuzugestehen, betrachtet der Koran das Recht als das wichtigste Regulativ im Zusammenleben der Menschen. Abu Bakr, der erste Kalif des Islams nach dem Propheten Muhammad, brachte in einer seiner ersten Reden den koranischen Ansatz auf den Punkt. Er sagte: „Der Schwächste unter euch ist in meinen Augen solange der Stärkste, bis ihm seine Rechte gewährt wurden; und so Gott will, werde ich dies verwirklichen. Und der Stärkste unter euch ist in meinen Augen solange der Schwächste, bis er die Rechte ihrem wahren Besitzer hat zukommen lassen; und so Gott will, werde ich mich dafür einsetzen.“[iv]
Eine der fünf Säulen des Islams ist die vorgeschriebene Sozialabgabe, die Zakat. Dem Koran zufolge ist jeder Muslim, der finanzielle Mittel in angemessener Höhe besitzt, dazu verpflichtet, ein Vierzigstel seines Vermögens den Bedürftigen zu geben. Dieser Anteil am Wohlstand der Besitzenden gilt als ein Recht, das den Bedürftigen von Gott zugesprochen wurde. Der Punkt ist deshalb so bemerkenswert, weil der Koran hier innerhalb des Kreises der Mächtigen einen Kreis um die Rechte der Machtlosen zieht.
Damit bringt der Koran die brutale Gewalt zum Schweigen und erteilt den Rechten das Wort. Er erzieht die Gläubigen und weist sie an, den Interessen der Gemeinschaft Vorrang gegenüber den eigenen Interessen einzuräumen. Tatsache ist, dass hinter allen Zerwürfnissen im Zusammenleben der Menschen vor allem zwei Mentalitäten stecken: „Du musst arbeiten, damit ich essen kann!“, und: „Wenn andere an Hunger sterben, ist mir das so lange egal, wie mein eigener Magen voll ist.”[v] Diese Aussagen symbolisieren eine Welt, in der Arbeitskraft und Kapital einander feindlich gegenüberstehen und die moralische Pflicht, die Zakat zu entrichten, vernachlässigt wird. Ist der Mensch hingegen wohltätig und reinigt mit seiner Sozialabgabe sein Vermögen – so wie Gott es von ihm verlangt -, dann kann er zur Stärkung von Wohlergehen und Ordnung in der Gesellschaft beitragen.
Die Rechte des Menschen, Huquq-Al-Ibad, genießen im Koran einen hohen Stellenwert. Einem frommen Gläubigen, der sich stets darum bemüht hat, ein tugendhaftes Leben zu führen, werden möglicherweise alle seine Sünden vergeben werden. Ausgenommen von einer solchen Vergebung sind jedoch Verstöße gegen die Rechte anderer Menschen. Denn diese müssen zwischen dem, der verletzt hat, und dem, der verletzt wurde, geregelt werden. Die Geschädigten können Muslime ebenso wie Nichtmuslime sein. Ethnische Zugehörigkeit, Glaube und Weltsicht spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Ein schönes Beispiel für den Stellenwert von Rechten im Islam bildet folgende Begebenheit, die sich zur Zeit des dritten Kalifen, Umar, im Jahr 635 in der Stadt Homs (Syrien) ereignete: Die Armee der Muslime musste vor einem herannahenden riesigen römischen Heer zurückweichen und die Stadt verlassen. Doch zuvor befahl der Befehlshaber der muslimischen Armee seinen Männern, den Stadtbewohnern ihre Steuern zurückzuzahlen. Also informierten die Steuerbeamten die christliche Bevölkerung der Stadt darüber, dass die Muslime die Stadt nicht vor dem römischen Heer würden schützen können und dass sie deshalb auch kein Recht hätten, Steuern einzubehalten. Schließlich seien diese Steuern speziell aus dem Grund erhoben worden, um den Schutz der Stadt zu garantieren.[vi]
Meint der Mensch etwa, dass er sich selbst überlassen bleibt (um herumzulaufen, wie es ihm gefällt)? (75:36), heißt es im Koran. Wir Menschen besitzen die Willenskraft und es ist uns bestimmt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Wir allein sind für unsere Entscheidungen und Handlungen verantwortlich und werden einst für sie zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Tatsache sollte jeden, der diese Botschaft vernimmt, dazu bewegen, seine Position innerhalb der Gesellschaft zu überdenken.
Der Koran rät jedem Menschen, rechtschaffen zu sein und Sünden entgegenzutreten. Diese Anweisung ist aber nicht auf die Interaktion des Einzelnen mit seiner Umwelt beschränkt. Vielmehr ist jeder Mensch auch für sein persönliches körperliches und psychisches Wohlergehen verantwortlich. Niemandem ist es gestattet, Selbstmord zu begehen, den eigenen Körper zu schädigen, sich tiefer Verzweiflung zu überlassen oder sich der Gesellschaft den Rücken zu kehren.
Vom Standpunkt eines Muslims aus betrachtet finden sich auch in den Heiligen Schriften, die dem Koran vorangingen, Rechte, die für die Stärkung von Gerechtigkeit und Harmonie in der Gemeinschaft von größter Bedeutung sind. Im Koran heißt es:
Wir haben dir (o Gesandter) das Buch mit der Wahrheit (die es versinnbildlicht und ohne das geringste Falsche darin) herabgesandt, um zu bestätigen (dass Gott dessen Verfasser ist, und dass das), was immer von dem Buch zuvor offenbart wurde, (noch immer Wahrheiten enthält) und um (über all die wahren Lehren in ihm) zu wachen. (5:48)
Wenn wir in einer sichereren und glücklicheren Welt leben wollen, in der jeder Mensch die Menschenrechte genießen darf, sollten die Anhänger der Heiligen Schriften die lehrreiche und fruchtbare Nähe zur Offenbarung suchen. Sie sollten Recht über Macht stellen und die Rechtmäßigkeit zum Gradmesser für alle Entscheidungen machen, die das Schicksal der Menschheit berühren. Rechte sollten auf allen gesellschaftlichen Ebenen verfochten werden – eine Vision, die nur dadurch verwirklicht werden kann, dass die metaphysischen Dimensionen des Menschseins wieder Berücksichtigung finden. Schon ist zu sehen, wie die Menschen rund um den Erdball in den warmen Schoß der Religion zurückkehren und wie sich Mitglieder unterschiedlicher Glaubensrichtungen darum bemühen, einander besser zu verstehen. Und schon sind auch ganz andere freudige Klänge kaum noch zu überhören: Gefeiert wird die Hochzeit zwischen Herz und Geist, und die Rechte thronen dabei auf den Schultern der Macht.
Yasin Ceren
Fußnoten
[i] Nursi, Said; The Words; New Jersey 2005, S. 146-7
[ii] Ebenda
[iii] Bloom, Allan; The Closing of the American Mind; 1988, S.85
[iv] Hz. Muhammed (s.a.s.) ve Hayati, Diyanet Yayinlari, Ankara: 1996, S. 435
[v] Nursi, Said, The Letters, 22nd Letter; London 1995, S. 74
[vi] Belazuri; Futuh al-Buldan; Beirut 1987, S. 187