Eines der meistdiskutierten Themen der zeitgenössischen westlichen Gesellschaften ist die kulturelle Vielfalt. Im weitesten Sinne versteht man unter diesem Begriff das Vorhandensein unterschiedlicher Werte, Glaubensvorstellungen und Verhaltensmuster, die verschiedenen Kulturen oder Gruppen zuzuordnen sind. Kulturelle Vielfalt setzt aber auch die Anerkennung dieses Vorhandenseins und die Kommunikation mit Menschen anderer Kulturen und Gruppen voraus.
Kulturelle Vielfalt hat zwei große Vorteile: Erstens lernen sich Individuen verschiedener Gruppen und Kulturen kennen. Das fördert Respekt und Rücksichtnahme auf Glauben, Werte und Way of Life anderer. Für Länder wie Deutschland, in denen viele unterschiedliche Kulturen und Gruppen leben, ist kulturelle Vielfalt daher ein Muss. Aber selbst relativ homogene Länder müssen sich dieser Sichtweise der Dinge anpassen, da die Menschen sehr schnell zu Bewohnern ein und desselben globalen Dorfs werden. Die Menschheit braucht Gesellschaften, die als Vorbild für multi-kulturelle Gemeinschaften dienen können.
Der zweite Vorteil liegt im Austausch von Wissen und Erfahrung. In mehreren Fernsehfilmen und Serien spielt ein weiser Asiate (wie z.B. Kung Fu Caine), den nichts aus der Ruhe bringen kann und der auf alle Fragen überzeugende menschenfreundliche Antworten zu geben weiß, die Hauptrolle. Zwar handelt es sich bei Filmen wie diesen natürlich um fiktive Geschichten, aber auch sie können uns eine Ahnung davon vermitteln, wie wir von unterschiedlichen Perspektiven und Philosophien profitieren können.
Die Tatsache, dass alle Individuen, die diese Welt bevölkern und in den unterschiedlichsten Gesellschaften zusammen leben, Menschen sind, wird von den Einzelnen, von Gemeinschaften und sogar von Sozialwissenschaftlern, die es eigentlich wissen müssten, gerne übersehen. Grund dafür ist vor allem die Konzentration auf die eigene Person. Zweifellos sind alle Individuen Menschen; das Einzige, was sie trennt, sind äußere Umstände. Auch die Probleme der Menschen gleichen sich, nur der Kontext ist ein anderer. Ein König fühlt die gleiche Wut in sich wie ein Bettler. Letzterer lässt sie vielleicht an seiner Frau aus und schlägt sie, der König aber führt sein Volk in den Krieg. Ein Taschendieb transferiert illegal Geld, ein Computer-Hacker tut im Prinzip nichts anderes.
Im Verlaufe ihrer Geschichte waren Kulturen und Gruppen mit den gleichen Problemen konfrontiert, denen wir heute zu Beginn des neuen Jahrtausends begegnen. Da zeitgenössische Kulturen ererbte Perspektiven und Philosophien widerspiegeln, können Jahrhunderte alte Kulturen und Zivilisationen für die Lösung heutiger Probleme von unschätzbarem Wert sein.
Leider steht der kulturelle Austausch weder bei Privatpersonen noch bei Institutionen so hoch im Kurs, wie es eigentlich angebracht wäre. Anderen Ländern könnte z.B. im Geographieunterricht noch viel mehr Beachtung geschenkt werden. Viel deutlicher werden Defizite dieser Art jedoch, wenn wir nach Amerika schauen. Dort dreht sich noch viel mehr als in Deutschland alles um das eigene Land und das eigene Selbstverständnis. Selbst wenn sich die USA im Krieg mit einer fremden Macht befinden, werden in den Hauptnachrichten zunächst lokale Ereignisse analysiert. Vielleicht stammt diese ethnozentrische Sichtweise des Weltgeschehens ja daher, dass das Land die einzig verbliebene Supermacht ist.
Gelegentlich kommt es vor, dass Menschen innerhalb eines Systems, das insgesamt auch gut funktionieren mag, plötzlich nicht mehr in der Lage sind, bestimmte soziale oder individuelle Probleme zu lösen, da sie sich dem Fluss der Ereignisse nicht länger entziehen können. Die am häufigsten genutzte Methode zur Problembeseitigung ist die Ausübung von Macht, vor allem dann, wenn diese greifbar nahe ist. Die Ausübung von Macht wird oft auf Grund der Leichtigkeit ihrer Handhabung als beste Antwort auf offene Fragen betrachtet. Denn kurzfristig erlaubt sie, potenziell unangenehme Begleiterscheinungen zu übertünchen.
Je nach Art des Problems kann ausgeübte Macht physischer, ökonomischer, militärischer oder technologischer Natur sein. Ein mächtiger Löwe, der sich im Netz eines Jägers verfangen hat, sollte demütig genug sein, die Hilfe einer winzigen Maus anzunehmen. Deren Zähne könnten im Stande sein das zu leisten, was seine stattlichen Tatzen nicht schaffen.
Ich möchte Ihnen ein simples aber einleuchtendes Beispiel dafür, wie unterschiedliche Perspektiven zur Lösung eines Problems beitragen können, liefern: Zu einer Zeit, als schwierige Verhandlungen zwischen politischen Parteien in der Türkei zwecks Bildung einer Koalition anstanden, erregte ein einfacher, aber vollkommen zufrieden stellender Vorschlag eines türkischen Journalisten meine Aufmerksamkeit: Beide Parteien hatten etwa gleich viele Abgeordnete im Parlament sitzen. Es gelang ihnen jedoch nicht die Ministerien untereinander aufzuteilen, da die Ministerposten ein sehr unterschiedliches politisches Gewicht besaßen. Der Vorschlag des Journalisten war nun nicht von einem ähnlich gelagerten Fall in der zeitgenössischen Politik abgeleitet, sondern stammte von einer Parabel, die König Salomon einmal zur Lösung eines vergleichbaren Problems herangezogen hatte: Zwei Erben wurden sich nicht einig, wie sie ihr Erbe gleichmäßig aufteilen sollten, denn sie hatten unterschiedliche Auffassungen über den Wert der vererbten Gegenstände. König Salomos Urteil in diesem Fall sah so aus, dass der eine das Erbe aufteilen sollte, der andere daraufhin aussuchen durfte, welche Hälfte er nimmt. Eine uralte Parabel lieferte somit den Lösungsansatz zu einem Konflikt in der zeitgenössischen Demokratie. Ob seine Empfehlung Berücksichtigung fand oder nicht, ist hier nicht weiter von Belang.
Bücher von zeitgenössischen und alten Philosophen aus vielen verschiedenen Kulturen lassen sich in jedem Buchladen finden, wer aber ließt sie heute noch? Die Öffentlichkeit, vor allem die Jugend, sollte sich dieser Ressourcen bewusst sein. Sie sollte dazu angeleitet werden, die historische Erfahrung der Menschheit zu nutzen. Man fand zum Beispiel heraus, dass Kräuter, die in einigen Teilen der Welt seit Jahrhunderten eingesetzt werden, um bestimmte Krankheiten zu heilen, teilweise größere Wirkung erzielen als künstlich hergestellte Arzneimittel. Zudem sind sie ohne Zusätze und haben keine Nebenwirkungen. Kulturen und Zivilisationen haben jedoch noch weit mehr anzubieten als Kräuter. Ich hoffe, dass wir im Stande sind die Weisheit zu suchen, die uns andere anzubieten haben.
M.A. Oztürk