Die Welt von heute ermöglicht uns, viel einfacher und schneller mit Menschen aus völlig anderen Kulturen und mit völlig anderen Glaubensvorstellungen in Kontakt zu treten, als früher. Leider hat diese Tatsache aber nicht zu besseren Beziehungen der Menschen untereinander geführt. Im Gegenteil, die Globalisierung hat die Zahl der Konflikte in der Welt eher noch wachsen lassen. Konflikte der Gegenwart entzünden sich vor allem zwischen Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen kulturellen, religiösen und philosophischen Hintergründen. Obwohl es im Interesse aller Menschen liegen müsste, sie friedlich beizulegen, gelingt dies nur sehr selten. Gefragt sind also ‚neue‘ Konzepte, die sich auch in die Praxis umsetzen lassen. In dieser Hinsicht ist die Verfassung von Medina eine wahre Fundgrube.
Die Verfassung von Medina begründete im Jahr 623 den Stadtstaat Medina auf der Arabischen Halbinsel. Sie war die erste Verfassung des Islam und möglicherweise auch die erste schriftlich fixierte und gültige Verfassung der Welt. Vor der Ankunft des Propheten Muhammad aus Mekka hatte die Stadt Yathrib (die später unter dem Namen Mekka bekannt wurde) 10.000 Einwohner, die ca. 22 Stämmen angehörten. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung war jüdischen Glaubens. Unabhängig von Religionszugehörigkeiten strebten die Stämme nach Macht, indem sie andere Stämme militärisch zu dominieren versuchten. Zahlreiche Allianzen, die im Zuge dessen geschmiedet wurden, sorgten permanent für eine aggressive Atmosphäre. Ständig flackerten Kämpfe auf, die ihr Tribut von den Stämmen forderten. Einige von ihnen vertrauten deshalb auf militärische Unterstützung von außen, andere wiederum sahen ein, dass es besser sein würde, ein gemeinsames Oberhaupt zu wählen, um der ständigen Unsicherheit ein Ende zu bereiten. Unklar war allerdings, ob sich auch wirklich alle Stämme einem einzigen Oberhaupt fügen würden und ob dieses Oberhaupt dann in der Lage sein würde, eine politische Organisation zu schaffen, die Stadt gegen Angriffe zu verteidigen, Stammesfehden zu schlichten, Rechte und Pflichten zu definieren und die Bedürfnisse der wachsenden Zahl der Flüchtlinge und Immigranten aus Mekka zu stillen.
Damals war es unter den Arabern durchaus gängige Praxis, Konflikte Außenstehenden anzuvertrauen. Also bat man den Propheten Muhammad, als neutraler Vermittler die Konflikte zwischen den Stämmen zu beseitigen. Dabei profitierte er von seinem guten Ruf als Vermittler und Streitschlichter, den er sich in Mekka erworben hatte. Dort hatte man ihm bereits den Titel ‚der Aufrichtige‘ verliehen.
Während der Prophet die Verfassung ausarbeitete, konsultierte er die Führer jedes einzelnen Stammes und demonstrierte damit seine Bereitschaft, den Sorgen aller Stämme ein offenes Ohr zu schenken. Die Methoden, derer er sich dabei bediente, ähneln modernen Techniken zur Konfliktlösung. Sie verdeutlichen auch sehr gut, welche Konzepte zu Vermittlung und Konfliktlösung der Islam anbietet – Konzepte, die den Dialog innerhalb muslimischer Gesellschaften, zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Gesellschaften und auch innerhalb nichtmuslimischer Gesellschaften fördern können.
Die Verfassung von Medina verankerte Grundregeln für die Staatsverwaltung. Sie trug den sozialen Belangen der Gemeinschaft Rechnung, und räumte so auf mit dem Chaos und den Streitigkeiten, die die Region seit Generationen plagten. Die Verfassung skizzierte die Rechte und Pflichten der Bürger Medinas und sicherte Muslimen und Nichtmuslimen gleichermaßen umfassende Sicherheiten zu. Wo man zuvor geglaubt hatte, Gerechtigkeit nur in militärischen Auseinandersetzungen herstellen zu können, wurden nun erstmals das Gesetz und die Gemeinschaft als Quellen der Gerechtigkeit definiert. Die Verfassung mit ihren insgesamt 47 Artikeln berücksichtige die Machtstrukturen, die den Konflikten in Yathrib zu Grunde lagen. Die in die Konflikte involvierten Parteien wurden namentlich benannt. Die ersten 23 Artikel waren an die muslimischen Immigranten aus Mekka und an die Muslime Yathribs gerichtet, während die zweite Hälfte des Dokuments die Juden der Gemeinschaft ansprach.
Der Prophet Muhammad klärte auch einige substanzielle Fragen, die die Stadt betrafen. In Artikel 2 wurde die Bevölkerung der Stadt als eine „Gemeinschaft in Unterscheidung zu den anderen Menschen“ definiert. Zuvor waren die Grenzen Yathribs nicht klar umrissen gewesen. Jeder Stamm hatte ein bestimmtes Gebiet besetzt, und die Gesamtheit dieser besetzten Gebiete war nicht als eine vereinte zusammenhängende Stadt betrachtet worden.
Dann wandte sich der Prophet den Themen Gerechtigkeit und Schutz der Gemeinschaft zu. Die Verfassung gab der Gesetzgebung in Yathrib die Richtung vor. Die Verfügungen des Propheten im Hinblick auf Gerechtigkeit und Schutz der Gemeinschaft stärkten das kollektive Verantwortungsgefühl. Die Verfassung von Medina erkannte auch zum ersten Mal religiöse Trennlinien innerhalb des Stammesgefüges der Stadt an. Während der Prophet nur wenig dafür tat, auf die Organisation von Stämmen, die über keine einheitliche Religion verfügten, einzuwirken, berief er sich auf die tief verankerten Werte von Islam und Judentum, um seiner Verfassung ein festes Fundament zu geben. Dieser Schachzug schenkte allen, die sich zu dieser Verfassung bekannten, die Möglichkeit, über Stammesloyalitäten hinauszuschauen, und nahm den Stammeszugehörigkeiten ein Stück Bedeutung.
Die Verfassung entschärfte bestehende Feindseligkeiten zwischen den Stämmen, indem sie ihnen das Gefühl gab, nicht mit militärischen Rivalen, sondern mit verbündeten Anhängern der gleichen Religion zu tun zu haben. So wurde dem Bedürfnis, die eigene Identität zu wahren, entsprochen. Bei Konflikten konnten die Unterzeichner ihr Gesicht wahren, ohne dass es sofort zu Kämpfen zwischen den Stämmen kommen musste. Was religiöse Streitigkeiten betrifft, wurde festgelegt, dass die Unterzeichner einander wohlwollend und mit Entgegenkommen behandeln sollten.
Vor Unterzeichnung der Verfassung von Medina war Yathrib eine Gemeinschaft gewesen, in der einander feindlich gegenüberstehende unabhängige Stämme permanent für Spannungen gesorgt hatten. Dem Propheten Muhammad gelang es jedoch, die Machtkämpfe zu stoppen, indem er gemeinsame Ziele formulierte, die der ganzen Gemeinschaft zu Gute kamen. Mit der Aufforderung, dass sich Muslime und Juden gegenseitig konsultieren und beraten sollten, und dem Hinweis darauf, dass Loyalität vor Verrat und Treulosigkeit schützt, legte die Verfassung den Unterzeichnern besonders ans Herz, immer auch den Rat anderer einzuholen und auf sie zu hören. So verpflichtete die Verfassung die Vertragspartner, einander bei Angriffen von außen auf die Stadt beizustehen. Sie gab aber auch ein konkretes Beispiel für wechselseitige Zusammenarbeit: „Wenn die Juden zu einem Friedensschluss aufgerufen werden, so tun sie es und halten ihn ein. Und wenn sie die gleiche Forderung an die Gläubigen stellen, so tun diese es ebenso.”
In beiden Teilen der Verfassung ist auch von einer übergeordneten Autorität die Rede. „Immer wenn zwischen den Leuten dieser Urkunde etwas geschieht oder zwischen ihnen Streit entsteht, woraus Unheil zu befürchten ist, so ist dies Gott und Muhammad, Seinem Gesandten, vorzulegen.” Die Vertragspartner legten damit die Macht in die Hände einer externen Instanz, an die sie sich wenden konnten, wenn ihnen ihre eigene Macht zu gering erschien.
Da der Vertrag auf Gott hin ausgerichtet war, balancierte er das Machtgefüge sorgfältig aus. Potenziellen Störungen dieses Gefüges wirkte die Verfassung von Medina entgegen, indem sie die Vertragspartner an ihre gegenseitige Abhängigkeit erinnerte. Sie duldete nicht, dass einzelne Gruppen der Vertragspartner den Schutz Gottes und den Frieden der Gläubigen für sich allein beanspruchten. Auch dadurch wurde der Gedanke einer zusammengehörenden Gemeinschaft unterstrichen; und die Vertragspartner wurden gewissermaßen gezwungen zu erkennen, dass ihre gemeinsame Macht unteilbar war.
Die Verfassung von Medina beantwortet auch auf Fragen der Gegenwart in Hinblick auf Dialog und Konflikt: Denn genau wie Yathrib im 7. Jahrhundert ist auch unsere globalisierte Welt eine plurale Gesellschaft. Die Verfassung schuf eine föderalistische Struktur mit einer Autorität an der Spitze, die einerseits – z.B. was die Sicherheit des Staates betraf – zentralistisch war, andererseits den Stämmen aber auch ein großes Maß an Autonomie in sozialen und religiösen Belangen zugestand. Der Prophet Muhammad griff nur in Fällen ein, in denen die Stämme nicht in der Lage waren, Meinungsverschiedenheiten mit Hilfe der Gesetze der Verfassung beizulegen. Der Stadtstaat Medina gewährte allen seinen Bürgern gleiche Rechte, Schutz vor Aggressionen und Mitsprache in der Regierung. Er erklärte sich zu einer Gemeinschaft der Gläubigen und unterstützte seine Bürger sogar, wenn sie (zur Auslösung Gefangener) Blutgeld zu zahlen hatten. Um Kriminelle zu bestrafen, wurden Gesetze wie das Verbot, einem Mörder Hilfestellung zu leisten, erlassen. Darüber hinaus wurde, ganz wie der Koran es vorsieht, allen Mitgliedern der Gemeinschaft Religionsfreiheit gewährt.
Wenn wir in einer friedvollen Welt leben möchten, müssen wir bestimmte Grenzen respektieren. Im Zeitalter von Wissenschaft und Technik kann die Verfassung von Medina entscheidend dazu beitragen, Konflikte zwischen Gruppen, die auf unterschiedliche Kulturen und Glaubensvorstellungen zurückzuführen sind, zu vermeiden bzw. zu schlichten. Aus dieser Verfassung sprechen Recht, Rechtschaffenheit und Vernunft. Der Verfassung vorangestellt ist die Formel „Im Namen des barmherzigen und gütigen Gottes!” Denn Gott ist das rechtschaffenste aller Wesen und das höchste Prinzip der Vernunft. Die Verfassung von Medina kann uns Wege aufzeigen – Wege zu einem fruchtbaren Dialog in der Gesellschaft und Wege zu guten politischen und sozialen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Gruppen.
Dr. Yetkin Yildirim