Buchbesprechung
Die „Psychologie der Massen“ (1911) von Gustave Le Bon ist ein wissenschaftliches Buch, das große Diktatoren und Despoten des 20. Jahrhunderts die Lektüre für ihre Propagandatechniken genutzt haben sollen. Le Bon untersucht in seinem Hauptwerk das Phänomen, das man in sämtlichen Diktaturen und Demokratien des 20.- und vermutlich auch 21. Jahrhunderts beobachten kann.
Das Buch fand große Resonanz und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Es galt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als Standardwerk der Massenpsychologie. Das Buch erläutert wissenschaftlich, wie man die Schwächen der Menschenmassen ausnutzen, sie manipulieren und aufhetzen kann.
Hier sind einige Auszüge vom Buch:
Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein.
Die Geschichte lehrt uns, dass in dem Augenblick, da die moralischen Kräfte, das Rüstzeug einer Gesellschaft, ihre Herrschaft verloren haben, die letzte Auflösung von jenen unbewussten und rohen Massen, welche recht gut als Barbaren gekennzeichnet werden, herbeigeführt wird. Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen, intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen. Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung. (S.25)
Zweifellos gibt es verbrecherische Massen, aber es gibt auch tugendhafte, heroische und noch viele andersartige Massen.
Napoleon erfasste wunderbar das Seelenleben der französischen Massen, aber er verkannte oft völlig die Massenseele fremder Massen. (S.26)
Masse: Unter bestimmten Umständen besitzt eine Versammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die die Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. (S.29)
Das Schwinden der bewussten Persönlichkeit und die Orientierung der Gefühle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung, die ersten Vorstöße der Masse auf dem Weg, sich zu organisieren, erfordern nicht immer die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer einzelner an einem einzigen Ort. (S.30)
Die psychologischen Massen lassen sich einteilen: Das Studium dieser Einteilung wird uns zeigen, dass eine heterogene, d.h. aus ungleichartigen Elementen zusammengesetzten Massen mit homogenen, d.h. aus mehr oder minder ähnlichen Elementen zusammengesetzten Massen allgemeine Kennzeichen gemein hat und außerdem noch Besonderheiten aufweist, durch die sie sich voneinander unterscheiden lassen. (S.31)
Das Überraschendste an einer psychologischen Masse ist: welcher Art auch die einzelnen sein mögen, die sie bilden, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigungen, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zu Massen besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde. (S.32)
Menschen von verschiedenartigster Intelligenz haben äußerst ähnliche Triebe, Leidenschaften und Gefühle. In allem, was Gegenstand des Gefühls ist: Religion, Politik, Moral, Sympathien und Antipathien usw. überragen die ausgezeichnetsten Menschen nur selten das Niveau der gewöhnlichen einzelnen.
In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandesfähigkeiten und damit auch die Persönlichkeit der einzelnen. Das Ungleichartige versinken im Gleichartigen, und die unbewussten Eigenschaften überwiegen. (S.34)
Das Auftreten besonderer Charaktereigentümlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt. Die erste dieser Ursachen besteht darin, dass der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die er für sich allein notwendig gezügelt hätte. Er wird ihnen um so eher nachgeben, als durch die Namenlosigkeit und demnach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefühl, das die einzelnen stets zurückhält, völlig verschwindet. (S.35)
Eine zweite Ursache, die geistige Übertragung (contagion mentale), bewirkt gleichfalls das Erscheinen der besonderen Wesenszüge der Masse und zugleich ihre Richtung. Die Übertragung ist leicht festzustellen, aber noch nicht zu erklären; man muss sie den Erscheinungen hypnotischer Art zuordnen, mit denen wir uns sogleich beschäftigen werden. In der Masse ist jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar, und zwar in so hohem Grade, dass der einzelne sehr leicht seine persönlichen Wünsche den Gesamtwünschen opfert. Diese Fähigkeit ist seiner eigentlichen Natur durchaus entgegengesetzt, und nur als Bestandteil einer Masse ist der Mensch dazu fähig. (S.36)
Wir wissen heute, dass ein Mensch in einen Zustand versetzt werden kann, der ihn seiner bewussten Persönlichkeit beraubt und ihn allen Einflüssen des Hypnotiseurs, der ihm sein Bewusstsein genommen hat, gehorchen und Handlungen begehen lässt, die zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in schärfstem Gegensatz stehen. Sorgfältige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen, dass ein einzelner, der lange Zeit im Schoße einer wirkenden Masse eingebettet war, sich alsbald — durch Ausströmungen, die von ihr ausgehen, oder sonst eine noch unbekannte Ursache — in einem besonderen Zustand befindet, der sich sehr der Verzauberung nähert, die den Hypnotisierten unter dem Einfluss des Hypnotiseurs überkommt. Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist, wird er der Sklave seiner unbewussten Kräfte, die der Hypnotiseur nach seinem Belieben lenkt. Die bewusste Persönlichkeit ist völlig ausgelöscht, Wille und Unterscheidungsvermögen fehlen, alle Gefühle und Gedanken sind in die Sinne verlegt, die durch den Hypnotiseur beeinflusst werden.
Ungefähr in diesem Zustand befindet sich der einzelne als Glied einer Masse. Er ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewusst. Während bei ihm, wie beim Hypnotisierten, gewisse Fähigkeiten aufgehoben sind, können andere auf einen Zustand höchster Überspannung getrieben werden. Unter dem Einfluss einer Suggestion wird er sich mit unwiderstehlichem Ungestüm auf gewisse Taten werfen. Und dies Ungestüm ist in den Massen noch unwiderstehlicher als bei den Hypnotisierten, weil die für alle einzelnen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit wächst. Die einzelnen in einer Masse, die eine hinreichend starke Persönlichkeit haben, um dem Einfluss zu widerstehen, sind in zu geringer Anzahl vorhanden, und der Strom reißt sie mit. Höchstens können sie vermittels eines anderen Einflusses eine Ablenkung versuchen. Ein glücklicher Ausdruck, ein im rechten Augenblick angewandter bildlicher Vergleich hat oft die Massen von den blutigsten Taten abgehalten.
Die Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also: Schwinden der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewussten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen. Der einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat.
Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar. Er hat die Unberechenbarkeit, die Heftigkeit, die Wildheit, aber auch die Begeisterung und den Heldenmut ursprünglicher Wesen, denen er auch durch die Leichtigkeit ähnelt, mit der er sich von Worten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verführen lässt, die seine augenscheinlichsten Interessen verletzen. In der Masse gleicht der einzelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sandkörner, das der Wind nach Belieben empor wirbelt.
Nicht nur in seinen Handlungen weicht das Glied der Masse von seinem normalen Ich ab. Schon bevor es jede Unabhängigkeit einbüßte, haben sich seine Gedanken und Gefühle umgeformt, und zwar so, dass der Geizige zum Verschwender, der Zweifler zum Gläubigen, der Ehrenmann zum Verbrecher, der Hasenfuß zum Helden wird. Der Verzicht auf alle seine verbrieften Vorrechte, den der Adel in einem Augenblick der Begeisterung in der berühmten Nacht vom 4. August 1789 leistete, wäre sicherlich von seinen Mitgliedern als einzelnen niemals angenommen worden.
Aus den vorstehenden Beobachtungen ist zu schließen, dass die Masse dem alleinstehenden Menschen intellektuell stets untergeordnet ist. Hinsichtlich der Gefühle aber und der durch sie bewirkten Handlungen kann sie unter Umständen besser oder schlechter sein. Es hängt alles von der Art des Einflusses ab, unter dem die Masse steht. Das haben die Schriftsteller, die die Masse nur vom kriminellen Gesichtspunkt studiert haben, vollständig verkannt. Gewiss ist die Masse oft verbrecherisch, oft aber auch heldenhaft. Man bringt sie leicht dazu, sich für den Triumph eines Glaubens oder einer Idee in den Tod schicken zu lassen, begeistert sie für Ruhm und Ehre, dass sie sich, wie im Zeitalter der Kreuzzüge, fast ohne Brot und Wasser zur Befreiung des göttlichen Grabes von den Ungläubigen, oder wie im Jahre 1793 zur Verteidigung des vaterländischen Bodens fortreißen lässt. Gewiss ein unbewusstes Heldentum, aber durch solche Heldentaten vollzieht sich die Geschichte. Wollte man nur die mit kalter Überlegung ausgeführten Großtaten auf das Aktivkonto der Völker schreiben, so würden in den Weltannalen nur wenige verzeichnet sein. (S.36-37)
Verschiedene besondere Eigenschaften der Massen, wie Triebhaftigkeit (impulsivité), Reizbarkeit (irritabilité), Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle (exagération des sentiments) und noch andere sind bei Wesen einer niedrigeren Entwicklungsstufe, wie beim Wilden und beim Kinde, ebenfalls zu beobachten. (S.40)
Die mannigfachen Triebe, denen die Massen gehorchen, können je nach dem Anreiz edel oder grausam, heldenhaft oder feige sein, stets aber sind sie so unabweisbar, dass der Selbsterhaltungstrieb vor ihnen zurücktritt. (S.41)
Die Masse ist nicht nur triebhaft und wandelbar. Gleich dem Wilden lässt sie nicht zu, dass sich zwischen ihre Begierde und die Verwirklichung dieser Begierde ein Hindernis erhebt, umso weniger, als ihre Überzahl ihr das Gefühl unwiderstehlicher Macht gewährt. Für den einzelnen in der Masse schwindet der Begriff des Unmöglichen. Der alleinstehende einzelne ist sich klar darüber, dass er allein keinen Palast einäschern, keinen Laden plündern könnte, und die Versuchung dazu kommt ihm kaum in den Sinn. Als Glied einer Masse aber übernimmt er das Machtbewusstsein, das ihm die Menge verleiht, und wird der ersten Anregung zu Mord und Plünderung augenblicklich nachgeben. Ein unerwartetes Hindernis wird wütend zertrümmert. Wenn der menschliche Organismus dauernde Wut zuließe, so könnte man die Wut als den normalen Zustand der gehemmten Masse bezeichnen. (S.42)
Die Entstehung von Legenden, die so leicht in den Massen umlaufen, ist nicht nur die Folge vollkommener Leichtgläubigkeit, sondern auch der ungeheuerlichen Entstellungen, welche die Ereignisse in der Phantasie der Menschenansammlungen erfahren. Der einfachste Vorfall, von der Masse gesehen, ist sofort ein entstelltes Geschehnis. Sie denkt in Bildern, und das hervorgerufene Bild löst eine Folge anderer Bilder aus, ohne jeden logischen Zusammenhang mit dem ersten. Diesen Zustand verstehen wir leicht, wenn wir bedenken, welche sonderbaren Vorstellungsreihen zuweilen ein Erlebnis in uns hervorruft. Die Vernunft beweist die Zusammenhanglosigkeit dieser Bilder, aber die Masse beachtet sie nicht und vermengt die Zusätze ihrer entstellenden Phantasie mit dem Ereignis. Die Masse ist unfähig, das Persönliche von dem Sachlichen zu unterscheiden. Sie nimmt die Bilder, die in ihrem Bewusstsein auftauchen und sehr oft nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der beobachteten Tatsache haben, für Wirklichkeit.
Die Entstellungen, mit denen eine Masse ein Ereignis umformt, dessen Zeuge sie gewesen ist, scheinen unzählig und von verschiedener Art zu sein, da die Menschen, aus denen die Masse besteht, von sehr verschiedenem Temperament sind. Aber so ist es nicht. Infolge der Übertragung sind die Entstellungen durch die einzelnen einer Gemeinschaft alle von gleicher Art und gleichem Wesen. Die erste Entstellung, die ein Glied der Gesamtheit vorbringt, formt den Kern des ansteckenden Einflusses. Bevor der heilige Georg allen Kreuzfahrern auf den Mauern von Jerusalem erschien, war er sicher zuerst nur von einem von ihnen wahrgenommen worden. Durch Beeinflussung und Übertragung wurde das gemeldete Wunder sofort von allen angenommen.
So vollzieht sich der Vorgang von Kollektivhalluzinationen, die in der Geschichte so häufig sind und alle klassischen Merkmale der Echtheit zu haben scheinen, da es sich hier um Erscheinungen handelt, die von Tausenden von Menschen festgestellt wurden. (S.44-45)
Die eingebildete Vorstellung kann dann zum Kern einer Art Kristallisation werden, welche den Bereich des Verstandes ergreift und allen kritischen Geist lähmt. (S.49)
Aus dem Vorstehenden folgt klar, dass die Geschichtswerke als reine Phantasiegebilde zu betrachten sind. Es sind Phantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachträglich ersonnenen Erklärungen. Hätte uns die Vergangenheit nicht ihre Literaturdenkmäler, ihre Kunst- und Bauwerke hinterlassen, so wüssten wir nicht die geringste Tatsache von ihr. Kennen wir ein einziges wahres Wort über das Leben der großen Männer, die in der Menschheit eine hervorragende Rolle spielten? Höchstwahrscheinlich nicht. Im Grunde hat übrigens ihr tatsächliches Leben recht wenig Interesse für uns. Die legendären Helden, nicht die wirklichen Helden haben Eindruck auf die Massen gemacht.
Es bedarf nicht des Ablaufs von Jahrhunderten, damit sich die Heldenlegende in der Phantasie der Massen wandelt; diese Wandlung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre. Wir haben in unsern Tagen erlebt, wie sich die Legende eines der größten Helden der Geschichte in weniger als fünfzig Jahren wiederholt verändert hat. Unter den Bourbonen wurde Napoleon zu einer idyllischen, menschenfreundlichen und freisinnigen Persönlichkeit, einem Freunde der Armen, die, wie der Dichter sagt, sein Andenken in ihrer Hütte für lange Zeit bewahren würden. Dreißig Jahre später war der gutmütige Held zu einem grausamen Despoten geworden, zu einem Usurpator von Macht und Freiheit, der drei Millionen Menschen nur zur Befriedigung seines Ehrgeizes geopfert hatte. (S.52)
Die Einseitigkeit und Überschwänglichkeit der Gefühle der Massen bewahren sie vor Zweifel und Ungewissheit. Den Frauen gleich gehen sie sofort bis zum Äußersten. Ein ausgesprochener Verdacht wird sogleich zu unumstößlicher Gewissheit. Ein Keim von Abneigung und Missbilligung, den der einzelne kaum beachten würde, wächst beim Einzelwesen der Masse sofort zu wildem Hass.
Die Heftigkeit der Gefühle der Massen wird besonders bei den ungleichartigen Massen durch das Fehlen jeder Verantwortlichkeit noch gesteigert. Die Gewissheit der Straflosigkeit, die mit der Größe der Menge zunimmt, und das Bewusstsein einer bedeutenden augenblicklichen Gewalt, bedingt durch die Masse, ermöglichen der Gesamtheit Gefühle und Handlungen, die dem einzelnen unmöglich sind. In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht; an seine Stelle tritt das Bewusstsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.
Da die Masse nur durch übermäßige Empfindungen erregt wird, muss der Redner, der sie hinreißen will, starke Ausdrücke gebrauchen. Zu den gewöhnlichen Beweismitteln der Redner in Volksversammlungen gehört Schreien, Beteuern, Wiederholen, und niemals darf er den Versuch machen, einen Beweis zu erbringen.
Die gleiche Übertreibung der Gefühle verlangt die Masse von ihren Helden. Ihre Eigenschaften und hervorragenden Tugenden müssen stets vergrößert werden. Im Theater fordert die Masse von dem Helden des Dramas Tugenden, einen Mut und eine Moral, wie sie im Leben niemals vorkommen. (S.54)
Ich brauche nicht besonders zu betonen, dass der Überschwang der Massen sich nur auf die Gefühle und in keiner Weise auf den Verstand erstreckt. Die Tatsache der bloßen Zugehörigkeit des einzelnen zur Masse bewirkt, wie ich bereits zeigte, eine beträchtliche Senkung der Voraussetzungen seines Verstandes. (S.55)
Die Massen kennen nur einfache und übertriebene Gefühle. Meinungen, Ideen, Glaubenssätze, die man ihnen einflößt, werden daher nur in Bausch und Bogen von ihnen angenommen oder verworfen und als unbedingte Wahrheiten oder ebenso unbedingte Irrtümer betrachtet. So geht es stets mit Überzeugungen, die auf dem Wege der Beeinflussung, nicht durch Nachdenken erworben wurden. Jedermann weiß, wie unduldsam die religiösen Glaubenssätze sind und welche Gewaltherrschaft sie über die Seelen ausüben.
Herrschsucht und Unduldsamkeit sind für die Massen sehr klare Gefühle, die sie ebenso leicht ertragen, wie sie sie in die Tat umsetzen. (S.56)
Wenn nun die Masse imstande ist, Mordtaten, Brandstiftungen und Verbrechen aller Art zu begehen, so ist sie ebenso zu Taten der Hingabe, Aufopferung und Uneigennützigkeit fähig, sogar in höherem Maße als der einzelne. Besonders wirkt man auf den einzelnen in der Masse, wenn man sich auf die Gefühle für Ruhm und Ehre, Religion und Vaterland beruft. Die Geschichte ist voller Beispiele dieser Art, wie sie die Kreuzzüge bieten und die Freiwilligen von 1793. Nur die Gesamtheiten sind großer Uneigennützigkeit und Aufopferung fähig. Wie viele Massen haben sich für Überzeugungen und Ideen, die sie kaum verstanden, heldenhaft hinschlachten lassen! Massen, die in Streik treten, streiken oft wohl mehr, um einem Kampfruf zu folgen, als um einen Lohnzuschlag zu erlangen. Das persönliche Interesse ist bei den Massen selten eine mächtige Triebkraft, während es bei dem einzelnen fast den ausschließlichen Antrieb bildet. Es ist wahrlich nicht der Eigennutz, der die Massen in so viele Kriege führte, die für ihren Verstand unbegreiflich waren, und in denen sie sich so leicht niedermetzeln ließen, wie die Lerchen, die durch den Spiegel des Jägers hypnotisiert werden. (S.60)
Man kann sie in zwei Klassen einteilen. Zu der einen zählen wir die zufälligen und flüchtigen Ideen, die unter dem Einfluss des Augenblicks entstehen: z. B. die Vorliebe für eine Person oder eine Lehre. Zu der anderen die Grundideen, denen Umgebung, Vererbung, Glaube große Dauerhaftigkeit verleihen, wie z. B. die religiösen Glaubenssätze von ehemals, die demokratischen und sozialen Ideen von heute.
Man kann sich die Grundideen als die Wassermasse eines langsam dahinströmenden Flusses, die flüchtigen Ideen als die kleinen, immer wechselnden Wellen vorstellen, die seine Oberfläche erregen und, obwohl ohne wirkliche Bedeutung, sichtbarer sind als der Flusslauf selbst. (S.62)
Der völlige Mangel an kritischem Geist lässt sie die Widersprüche nicht sehen. (S.63)
Die von den Massen in Verbindung gebrachten Ideen verketten sich wie die des Eskimo, der aus Erfahrung weiß, dass das Eis, ein durchsichtiger Körper, im Munde schmilzt, und der daraus schließt, dass Glas, ebenfalls ein durchsichtiger Körper, auch im Munde schmelzen müsse; oder wie die des Wilden, der sich einbildet, wenn er das Herz eines tapferen Feindes verzehre, erwerbe er dessen Tapferkeit; oder auch wie die des Arbeiters, der von seinem Arbeitgeber ausgebeutet wurde und daraus schließt, dass alle Unternehmer Ausbeuter seien.
Verknüpfung ähnlicher Dinge, wenn sie auch nur oberflächliche Beziehungen zueinander haben, und vorschnelle Verallgemeinerung von Einzelfällen, das sind die Merkmale der Massenlogik. Schlussfolgerungen solcher Art werden den Massen durch geschickte Redner immer wieder vorgesetzt. Von ihnen allein lassen sie sich beeinflussen. Eine logische Kette unumstößlicher Urteile würde für die Massen völlig unfassbar sein, und deshalb darf man sagen, dass sie gar nicht oder falsch urteilen und durch Logik nicht zu beeinflussen sind. Oft staunen wir beim Lesen über die Schwäche gewisser Reden, die ungeheuren Eindruck auf ihre Zuhörer gemacht haben; aber man vergisst, dass sie dazu bestimmt waren, Massen hinzureißen und nicht dazu, von Philosophen gelesen zu werden. Der Redner, der mit der Masse in inniger Verbindung steht, weiß die Bilder hervorzurufen, durch die sie verführt wird. Gelingt ihm das, so ist sein Ziel erreicht, und ein Band voll Reden wiegt die wenigen Phrasen nicht auf, durch die es gelang, die Seelen so zu verführen, dass sie sich überzeugen ließen. (S.67)
Man hat schon oft die Geschichte von jenem Volkstheater erzählt, das den Schauspieler, der den Verräter spielte, nach Schluss der Vorstellung schützen musste, um ihn den Angriffen der über seine vermeintlichen Verbrechen empörten Zuschauer zu entziehen. Das ist meiner Meinung nach eins der treffendsten Beispiele für den geistigen Zustand der Massen, und besonders für die Leichtigkeit, mit der man sie beeinflusst. Das Unwirkliche ist in ihren Augen fast ebenso wichtig wie das Wirkliche. Sie haben eine auffallende Neigung, keinen Unterschied zu machen. (S.69)
Auch die großen Staatsmänner aller Zeiten und Länder, die unumschränkten Gewaltherrscher einbegriffen, haben die Volksphantasie als Stütze ihrer Macht betrachtet. Niemals haben sie versucht, gegen sie zu regieren. „Ich habe den Krieg in der Vendée beendigt, indem ich katholisch wurde“, sagte Napoleon im Staatsrat, „in Ägypten habe ich dadurch Fuß gefasst, dass ich mich zum Mohammedaner machte, und die italienischen Priester gewann ich, indem ich ultramontan wurde. Wenn ich über ein jüdisches Volk herrschte, würde ich den Salomonischen Tempel wieder aufbauen lassen.“ Seit Alexander und Cäsar hat es vielleicht niemals ein großer Mann besser verstanden, Eindruck auf die Massenseele zu machen; es war Napoleons ständige Sorge, sie zu beeinflussen. Von ihr träumte er bei seinen Siegen, in seinen Reden, seinen Abhandlungen, bei all seinen Taten — und noch auf seinem Totenbett träumte er davon. (S.70)
Hundert kleine Verbrechen oder hundert kleine Unfälle werden auf die Phantasie der Massen oft nicht die geringste Wirkung ausüben; wohl aber wird sie durch ein einziges unerhörtes Verbrechen, ein einziges großes Unglück tief erschüttert, wenn es auch viel weniger blutig ist als die hundert kleinen Unfälle zusammengenommen. Die große Grippe-Epidemie, an der vor einigen Jahren in Paris fünftausend Menschen innerhalb weniger Wochen starben, machte auf die Volksphantasie wenig Eindruck. Freilich wandelte sich diese Hekatombe im wahrsten Sinne nicht in einige sichtbare Bilder, sondern nur in die täglichen statistischen Berichte um. (S.71)
Die Kunst, die Einbildungskraft der Massen zu erregen, ist die Kunst, sie zu regieren. (S.72)
Mit dem religiösen Gefühl sind gewöhnlich Unduldsamkeit und Fanatismus verbunden. Sie sind unausbleiblich bei allen, die das Geheimnis des irdischen und himmlischen Glückes zu besitzen glauben. Die beiden Eigenschaften sind bei allen in einer Gruppe vereinigten Menschen wiederzufinden, wenn irgendein Glaube sie erhebt. Die Jakobiner der Schreckenstage waren ebenso tief religiös wie die Katholiken der Inquisition, und ihr grausamer Eifer entsprang der gleichen Quelle. (S.74)
Alle Stifter religiöser und politischer Glaubensbekenntnisse haben sie nur dadurch begründet, dass sie es verstanden, den Massen jene Gefühle des religiösen Fanatismus einzuflößen, die bewirken, dass der Mensch sein Glück in der Anbetung findet, und ihn dazu treiben, sein Leben für sein Idol zu opfern. So war es zu allen Zeiten. In seinem schönen Buch über das römische Gallien macht Fustel de Coulanges darauf aufmerksam, dass das römische Kaiserreich sich keineswegs durch seine Kraft, sondern durch die religiöse Bewunderung erhielt, die es einflößte. (S.75)
Sie gleicht jenem Nihilisten, dessen Geschichte der tiefgründige Dostojewskij uns erzählt. Vom Geiste erleuchtet, zerbrach er eines Tages die Bildwerke der Gottheiten und Heiligen, die den Altar seiner Kapelle schmückten, löschte die Kerzen aus und ersetzte, ohne einen Augenblick zu zögern, die zerstörten Bilder durch die Werke einiger atheistischer Philosophen; dann zündete er pietätvoll die Kerzen wieder an. Der Gegenstand seines religiösen Glaubens war ein andrer geworden, aber kann man behaupten, dass sich seine religiösen Gefühle geändert hatten? (S.77)
Zwei verschiedene Arten von Triebkräften bestimmen diese Meinungen und Glaubenslehren: mittelbare und unmittelbare Triebkräfte. Die mittelbaren Triebkräfte befähigen die Massen zur Annahme gewisser Überzeugungen und verhindern das Eindringen anderer. Sie bereiten den Boden, auf dem man plötzlich neue Ideen hervorsprießen sieht, deren Kraft und Wirkung Staunen erregen, die aber nur scheinbar plötzlich sind. Der Ausbruch und die Verwirklichung gewisser Ideen bei den Massen zeigen oft eine blitzartige Plötzlichkeit. Doch das ist nur die oberflächliche Wirkung, hinter der man meistens eine lange Vorarbeit suchen muss. (S.79)
Zu den mittelbaren Triebkräften gehören allgemeine Faktoren, die allen Glaubensbekenntnissen und Anschauungen zugrunde liegen, das sind: die Rasse, die Überlieferungen, die Zeit, die Einrichtungen und die Erziehung. (S.80)
Kein Beispiel könnte besser die Macht der Gewohnheit über die Menschenseele zeigen. Die furchtbarsten Idole werden nicht in den Tempeln beherbergt, und die gewalttätigsten Tyrannen wohnen nicht in den Palästen. Sie wären leicht zu stürzen. Aber die unsichtbaren Herren, die unsere Seelen beherrschen, entziehen sich jedem Angriff und geben nur der langsamen Abnutzung durch die Jahrhunderte nach. (S:83)
So ist England das demokratischste Land der Welt, obwohl es eine monarchistische Regierung hat, während in den spanisch-amerikanischen Republiken trotz ihrer demokratischen Verfassung die härteste Despotie herrscht. Nicht die Regierung, sondern der Charakter der Völker bestimmt ihre Schicksale. (S.86)
Napoleon sagte im Staatsrat: „Ich habe den Krieg in der Vendée beendigt, indem ich katholisch wurde. In Ägypten habe ich dadurch Fuß gefasst, dass ich mich zum Mohammedaner machte, und die italienischen Priester gewann ich, indem ich ultramontan wurde. Wenn ich über ein jüdisches Volk herrschte, würde ich den Salomonischen Tempel wieder aufbauen lassen.“