Die Globalisierung hat dafür gesorgt, dass die Menschheit heute mobiler ist denn je. Immer mehr Menschen verlassen ihr Land und suchen ihr Glück in der Fremde. Zu ihren Beweggründen zählen der Durst nach Wissen und Bildung, die Sehnsucht nach einem besseren Leben, die Aussicht auf einen besser bezahlten Job oder die Flucht vor Konflikten, Unterdrückung und Naturkatastrophen. Die Motive unterscheiden sich also sehr stark voneinander, und ganz sicher birgt die Migration nicht nur Chancen, sondern auch Risiken. Mit einem Problem ist jedoch jeder Migrant konfrontiert, der auf der Suche nach einer neuen Heimat fündig geworden ist und sich langfristig dort niederlässt: Wie bewahre und pflege ich meine Muttersprache, und wie gelingt es mir, sie auch an meine Kinder weiterzugeben? In dem folgenden Beitrag möchte ich Ihnen verdeutlichen, warum es sich lohnt, wenn Eltern ihren Kindern zuerst die eigene Muttersprache beibringen, und warum sich auch Pädagogen dafür einsetzen sollten, dass Kinder zunächst diese Sprache erlernen und anwenden.
Ich selbst lebe fernab der Heimat meiner Vorfahren und mache mir oft Sorgen, dass meine Kinder ihre Muttersprache erst gar nicht richtig lernen oder schnell wieder verlernen könnten. Und auch in meinem Beruf als Lehrerin ermuntere ich meine Schüler immer wieder, in ihrer Muttersprache lesen und schreiben zu lernen und stolz auf ihr Herkunftsland und dessen Kultur zu sein. Jede gesprochene Sprache in der Welt steht für eine ganz besondere Kultur, Melodie und Farbe, besitzt ihre eigene Wertigkeit; und für jeden Menschen ist die Muttersprache sicherlich einer der kostbarsten Schätze in seinem Leben. Folglich sind wir dazu verpflichtet, unsere Muttersprache zu hüten und zu bewahren und sie von Generation zu Generation weiterzugeben.
Wenn wir eine zusätzliche Sprache erlernen – egal ob aus einer Notwendigkeit heraus oder aus anderen Gründen -, profitieren wir in vielerlei Hinsicht davon. Jede neue Sprache öffnet ein neues Fenster in unserem Weltbild und führt uns vor Augen, dass wir anderen Kulturen, Lebensweisen, Bräuchen und Überzeugungen gegenüber offen und respektvoll sein sollten. Außerdem ist längst bewiesen, dass uns das Erlernen weiterer Sprachen auch dabei hilft, uns in unserer Muttersprache besser zu verständigen. Studien haben untermauert, dass viele Kinder im Laufe ihrer Schulzeit eine zweite oder sogar noch mehr Sprachen so fließend wie ihre Muttersprache sprechen lernen. Was zahlreichen Migrantenfamilien jedoch nicht bewusst ist, ist die Tatsache, dass ihre Kinder Gefahr laufen, ihre Muttersprache zu verlieren.
Die Muttersprache fördert die emotionale und geistige Entwicklung
Die Muttersprache prägt die Entwicklung des Individuums ganz maßgeblich. Schon vor unserer Geburt im Mutterleib lauschen wir ihren schönen Klängen und werden mit ihr vertraut; und in den ersten Lebensjahren spielt sie eine überaus wichtige Rolle bei der Ausformung unserer Gedanken und Gefühle. Was uns als Kleinkindern in der Muttersprache mitgeteilt wird, entscheidet darüber, in welche Richtung sich unsere Psyche und Persönlichkeit entwickeln. Psychologen weisen in diesem Zusammenhang gern darauf hin, dass Eltern sehr genau darauf achten sollten, welche Formulierungen und Wörter sie in der Kommunikation mit ihren Kindern verwenden. Die erste Kontaktaufnahme des Kindes mit der Außenwelt, das Erlernen erster Fähigkeiten und die erste Wahrnehmung seines Umfelds – all das erfolgt mit Unterstützung der Sprache, mit der es zuerst in Berührung kommt: der Sprache seiner Mutter. Mit ihr bringt das Kind zum ersten Mal seine Gefühle, Freuden und Ängste zum Ausdruck, und in ihr formuliert es schließlich seine ersten Worte. Die Muttersprache prägt unser Denken, unsere Emotionen, ja unsere ganze geistige Welt, weil sie der wichtigsten Phase unseres Lebens, der Kindheit, ihren Stempel aufgedrückt hat. Starke Bindungen zwischen Eltern (besonders der Mutter) und Kind wachsen durch Liebe, Mitgefühl und Körpersprache, vor allem aber durch die verbale Sprache. Das Sprechen der Muttersprache verbindet das Herz mit dem Gehirn und der Zunge. Sie ist es, die unsere Persönlichkeit und unseren wahren Charakter enthüllt, die unsere sichtbaren und verborgenen Eigenschaften wie auch unsere Schwächen und Fähigkeiten offenbart.
Der Klang der Muttersprache im Ohr und ihre Bedeutung im Herzen schenken uns Vertrauen und Zuversicht. Nelson Mandela hat einmal gesagt: „Wenn du zu einem Menschen in einer Sprache sprichst, die er versteht, geht das in seinen Kopf. Wenn du zu ihm in seiner eigenen Sprache sprichst, geht das in sein Herz.“ Vor kurzem stieß ich auf einen interessanten Artikel, der diese These unterstützt. Im Rahmen einer Studie wurde ein Versuch mit 15 italienischen Dolmetschern durchgeführt, deren Gehirnaktivität begleitend gemessen wurde. Diese Dolmetscher arbeiteten für die Europäische Union und fertigten dort Übersetzungen in englischer und italienischer Sprache an. Sie sprachen also allesamt ein exzellentes, fließendes Englisch. Nun legte man ihnen nacheinander eine Reihe von Wörtern vor, in ihrer Muttersprache oder in einer anderen Sprache (die sie ebenfalls sprachen). Bei der Messung ihrer Gehirnaktivität stellte sich heraus, dass diese überraschende Unterschiede aufwies. Etwa 170 Millisekunden nachdem ihnen ein Wort gezeigt wurde, verzeichneten die Forscher eine Spitze in der elektrischen Aktivität ihrer linken Gehirnhälfte; und zwar in einer Region, wo Buchstaben schon als Bestandteile von Wörtern erkannt werden, noch bevor ihre Bedeutung interpretiert wird. Wenn es sich um ein italienisches Wort handelte, wiesen diese Gehirnwellen viel höhere Amplituden (Ausschläge) auf. Und Italienisch war ja die Sprache, die jeder dieser Dolmetscher vor dem siebten Lebensjahr gelernt hatte.
„Die Ergebnisse zeigen, wie unterschiedlich das Gehirn Sprachen absorbiert und erinnert, je nachdem, ob sie bereits in der frühen Kindheit oder erst im späteren Leben erlernt wurden“, erklärt Alice Mado Proverbio, Professorin für kognitive Elektrophysiologie an der Universität Mailand, die Ergebnisse. Sie führt diese Unterschiede auf die Tatsache zurück, dass das Gehirn die Muttersprache in der gleichen Lebensphase absorbiert, wo es auch frühes visuelles, akustisches, emotionales und anderes nichtsprachliches Wissen speichert. Folglich löse die Muttersprache im Gehirn eine Menge Assoziationen aus, die sich in erhöhter elektrischer Aktivität niederschlagen. „Unsere Muttersprache ist die Sprache, die wir verwenden, wenn wir denken, träumen und Emotionen fühlen“, sagt die Forscherin.
Die Muttersprache ist ein Indikator für kulturelle Identität
Die Muttersprache ist das Bindeglied zwischen den Kindern und ihren Eltern, ihrer Familie, ihren Verwandten, ihrer Kultur, Geschichte, Identität und Religion. Die Muttersprache verbindet die Kinder mit der Kultur der Gesellschaft, aus der sie stammen, und formt ihre Identität. Viele Kinder aus Migrantenfamilien, die ihre Muttersprache kaum beherrschen, drohen daher früher oder später in eine Identitätskrise zu geraten. Wenn ein Kind seine Muttersprache nicht gut spricht, wird es auch nur wenig von der Kultur seines Herkunftslandes profitieren; denn Sprache und Kultur sind untrennbar miteinander verknüpft.
Die Muttersprache ist eines der effektivsten Instrumente zur Bewahrung und Weitergabe von Kultur und kulturellen Bindungen. Kinder, die keinerlei Bezug zu ihrer Kultur, ihrer Sprache und ihrer Geschichte haben, verlieren fast zwangsläufig das Vertrauen in sich selbst, ihre Familie, die Gesellschaft, in der sie leben, und das Land, aus dem sie stammen. Oft sehen sie dann keine andere Möglichkeit, als sich nach einer alternativen Identität umzuschauen. Kinder identifizieren sich immer mit der Sprache und der Kultur, mit der sie am besten vertraut sind. Wenn Migranteneltern also verhindern wollen, dass sich ihre Kinder von ihrer eigenen Sprache und Kultur abwenden, dann sollten sie ihnen dabei helfen, ihre Muttersprache zu pflegen und zu verbessern. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass sie die Kultur des Landes, in dem sie nun leben, oder andere Kulturen schlecht machen sollen. Wir leben in einer Gesellschaft mit vielen Kulturen. Deshalb sollten wir unseren Kindern vermitteln, dass sie ein Interesse für andere Kulturen entwickeln und sie respektieren.
Die Muttersprache ist die Basis für das Erlernen weiterer Sprachen
Auch Jim Cummins, einer der weltweit führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Mehrsprachigkeit, lässt keinen Zweifel daran, wie wichtig die Pflege der Muttersprache ist: „Kinder, die fest in ihrer Muttersprache verankert sind, wenn sie in die Schule kommen, entwickeln auch in der Sprache, die in der Schule gesprochen wird, eine bessere Lese- und Schreibfähigkeit. Wenn Eltern oder Bezugspersonen dazu in der Lage sind, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, ihnen Geschichten zu erzählen oder sich in einer Weise mit ihnen zu unterhalten, die der Verbesserung ihrer Muttersprache dient, dann kommen die Kinder gut vorbereitet in die Schule, lernen die Sprache ihres Einwanderungslandes schneller, und auch ihre Ausbildung gestaltet sich erfolgreicher.“
Durch den Gebrauch der Muttersprache lernt das Kind, sich angemessen zu artikulieren. Die Muttersprache macht das Kind mit den Nuancen des sprachlichen Ausdrucks vertraut. Sie vermittelt ihm, wie es eine Sprache lernen und sich ihrer bedienen kann. Und das ermöglicht dem Kind später, auch andere Sprachen zu erlernen. Je solider seine Basis in der Erstsprache, desto leichter erlernt es die in der Schule gesprochene Sprache; denn die Lese- und Schreibfähigkeiten in der Muttersprache kommen ohne jeden Zweifel auch der Schulsprache zugute.
Wenn Kinder in ihrer Grundschulzeit konsequent dazu angehalten werden, sich in beiden Sprachen (der Muttersprache und der Schulsprache, oder sogar in weiteren Sprachen) zu verbessern, dann entwickeln sie dadurch schnell ein tieferes Verständnis von Sprache und erkennen, welch vielfältige Artikulationsmöglichkeiten ihnen ihre Mehrsprachigkeit gibt. Dazu gehört, dass sie die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Sprachen erforschen. Leider haben viele zweisprachige Kinder, die zu Hause in ihrer Muttersprache wenig Unterstützung finden, das Problem, dass diese Muttersprache rasch nach der Einschulung von der Sprache verdrängt wird, die in der Schule gesprochen wird. Manche Eltern und Pädagogen gehen außerdem fälschlicherweise davon aus, dass die Kinder die Sprache der Mehrheitsgesellschaft nicht nur in der Schule benutzen sollten, sondern auch zu Hause; dann würden sie sich diese Zweitsprache schneller aneignen und erfolgreicher sein. Richtig ist jedoch das Gegenteil. Kinder können problemlos zwei oder mehr Sprachen gleichzeitig erlernen. In Ländern, in denen mehr als eine Sprache gesprochen wird, lernen die Kinder automatisch, zwei oder drei Sprachen fließend zu sprechen.
Forschungen zeigen, dass Kinder aus Migrantenfamilien die Umgangssprache der Gesellschaft, in der sie leben, schon nach den ersten Schuljahren weitgehend beherrschen (das Erlernen der akademischen Sprache dauert länger). Doch ähnlich schnell kommt ihnen auch die Fähigkeit wieder abhanden, sich in ihrer Muttersprache vernünftig auszudrücken. Ja selbst im häuslichen Umfeld besteht die Gefahr, dass sie die Muttersprache wieder verlernen, nämlich wenn sie zu Hause oder unter Gleichaltrigen gleicher Herkunft nicht ständig angewandt wird. In diesem Fall können die Kinder ihre Muttersprache zwar noch verstehen, ziehen es aber vor, mit Geschwistern, Freunden und Eltern die Sprache der Mehrheitsgesellschaft zu sprechen. Der Hauptgrund für diese traurige Entwicklung ist, dass die Kinder es nicht gelernt haben, sich wirklich fließend in ihrer Muttersprache auszudrücken. Es fehlt ihnen an den nötigen Vokabeln und Formulierungen, und so greifen sie kurzerhand auf die Sprache der Mehrheit zurück, die gerade solche Kinder allerdings auch meistens nicht eben fehlerfrei beherrschen. Nach einigen Jahren sind die Eltern dann häufig mit der Erkenntnis konfrontiert, dass sich zwischen ihnen und ihren Kindern eine sprachliche Kluft auftut, was letztlich auch eine emotionale Entfremdung zur Folge hat.
Wie fördert man die Muttersprache am effektivsten?
Es ist gar nicht so einfach, in einem fremden Land die eigene Muttersprache zu pflegen, sondern eine ausgezeichnete Leistung, die vor allem der Familie großes Engagement und Entschlossenheit abverlangt. Die Eltern sollten stets im Hinterkopf haben, wie sehr ihr Kind von seiner Muttersprache profitiert, und sie deshalb so konsequent wie möglich fördern.
Hier einige Ideen, wie man dabei vorgehen kann:
- Zunächst einmal sollten Eltern dafür sorgen, dass ihr Kind seine Muttersprache liebgewinnt; dazu sollten sie herausfinden, wie sie es am besten zum Erlernen der Muttersprache motivieren und ermuntern können.
- Es empfiehlt sich, die zweite Sprache gewissermaßen draußen vor der Tür zu lassen. Das heißt, zu Hause sollten sich Eltern und Kinder ausschließlich in ihrer Muttersprache unterhalten.
- Bis ein Kind allein und selbstständig in seiner Muttersprache lesen und schreiben kann, sollte man regelmäßig jeden Tag mit ihm üben.
- Erzählen Sie Ihrem Kind interessante Geschichten, zum Beispiel aus Ihrer eigenen Kindheit. Kinder lieben es zu hören, wie ihre Eltern als Kinder gelebt haben. Oder berichten Sie ihm davon, wie in Ihrer Heimat Feste und Feierlichkeiten begangen werden. Dadurch erweitert sich der aktive und passive Wortschatz des Kindes.
- Besorgen Sie Ihrem Kind Bücher und andere Medien in der Muttersprache.
- Denken Sie sich ein Belohnungssystem für die Anwendung der Muttersprache aus, und wenn Sie mehrere Kinder haben, dann veranstalten Sie Sprachwettbewerbe unter ihnen.
- Sehen Sie sich gemeinsam mit Ihrem Kind Serien oder Zeichentrickfilme in der Muttersprache an.
- Hören Sie auch gemeinsam Lieder in der Muttersprache.
- Schicken Sie Ihr Kind in Kulturzentren, die Kurse in der Muttersprache anbieten.
- Geben Sie Ihrem Kind die Gelegenheit, seine Muttersprache zu praktizieren: bei Besuchen in Ihrem Herkunftsland oder bei gemeinsamen Picknicks, Kulturveranstaltungen oder Feiern mit anderen Familien gleicher Herkunft.
- Abonnieren Sie Zeitschriften in Ihrer Muttersprache.
- Sprechen Sie mit den Lehrern Ihres Kindes darüber, was Sie sich von der Benutzung der Muttersprache versprechen. Denn auch die Lehrer können Ihrem Kind wichtige Impulse und Unterstützung geben, seine Muttersprache zu bewahren und zu pflegen.
Hurisa Güvercin
Literatur
- Cummins, Jim; Bilingual Children’s Mother Tongue Why Is It Important for Education?; auf: http://www.iteachilearn.com/cummins/mother.htm.
- International Herald Tribune, 23. Mai 2008. “Brain Activity Reveals Mother Tongue”; auf: http://www.iht.com/articles/ap/2008/05/23/europe/EU-FEA-GEN-Italy-Language-Of-Thoughts.php.