Ausgerüstet mit den Eigenschaften Neugier und Intelligenz, hat die Menschheit gewaltige Teleskope gebaut und Raumschiffe ins All geschossen, um den Geheimnissen des Universums auf die Spur zu kommen. Heutzutage ist es kaum mehr als bloße Routine, eine Raumfähre in die Umlaufbahn eines Planeten zu dirigieren oder einen neuen Meteoriten zu entdecken. Viele elektronische Geräte, die uns das Leben erleichtern – z.B. Feuermelder, Satelliten-TV oder Barcode-Lesegeräte -, wurden zunächst in der Rüstungsindustrie oder der Raumforschung entwickelt, bevor sie Einzug in den Alltag der Menschen hielten. Auch manche medizinischen Verfahren wie Computertomographie und Magnetresonanztomographie zur Diagnose von Krankheiten stammen ursprünglich aus diesen Bereichen.
Das moderne Leben allgemein stützt sich maßgeblich auf die Technologie. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die Natur und die Gesetze des Universums so ausgestaltet wurden, dass sie uns MenschenGeisteswissenschaft dienen. Im Mittelpunkt dieses Beitrags werden vier Fragen zur Bedeutung der Mathematik im Alltag stehen:
- Warum bleibt uns gar nichts anderes übrig, als mathematisch zu denken, wenn wir verstehen möchten, wie das Universum funktioniert?
- Welches sind die zentralen Probleme des neuen Jahrtausends, und welche Lösungen schweben den Wissenschaftlern vor?
- Welche Rolle spielt die Mathematik in der Welt von heute?
Die zeitgenössische wissenschaftliche Forschungsmethodik kennt kein objektiveres Hilfsmittel als die Mathematik, wenn es darum geht, aus einzelnen Forschungsergebnissen allgemeingültige Schlüsse zu ziehen. Die Mathematik darf als eine Manifestationsform des Wissens des Allwissenden Gottes betrachtet werden. Dieses charakteristische Merkmal der Mathematik wurde erstmals von muslimischen Gelehrten des Mittelalters entdeckt und von anerkannten prominenten Gelehrten wie Ghazali, Al-Biruni, Nasir ad-Din Tusi, Al-Huyandi und Al-Khwarizmi bestätigt. Galileo Galilei, der dem Weg der muslimischen Gelehrten folgte und heute in dem Ruf steht, der Vorkämpfer der modernen Wissenschaft schlechthin gewesen zu sein, schrieb in seinem zweiten, 1623 veröffentlichten Buch Il Saggiatore, dass „es unmöglich ist, das Universum zu verstehen, ohne die wahre Logik des Universums völlig zu durchschauen und seineseine Eigentümlichkeiten zu entschlüsseln. Das Universum wurde mit mathematischer Logik erschaffen, und ohne die Mathematik werden wir nie begreifen, was es uns sagen will.“ Dieses Zitat führt uns zu einer wichtigen Wahrheit: Die Mathematik auf dem heutigen Entwicklungsstand mag die vielschichtige Vollkommenheit des Universums zumindest teilweise erfassen. Andererseits aber sind wir noch weit davon entfernt, mathematische Systeme oder Gleichungen zu ersinnen, die sämtliche Vorgänge im Universum abbilden würden. Und selbst wenn wir sie vorgesetzt bekämen, würden wir sie wohl nicht verstehen. Dazu ist das Universum einfach viel zu komplex.
In der Geschichte der Wissenschaft wurden die Struktur und der Wirkmechanismus des Universums zum Teil mit der Mathematik erklärt. Physiker haben die Struktur der Materie und die in der Natur wirkenden Kräfte in Gleichungen gefasst. Der Forscher, der ein künstliches Herz entwickelt, berücksichtigt bei seiner Arbeit die Gleichung, die mit Hilfe von Variablen den Blutstrom durch die Arterien darstellt. Der Konstrukteur der NASA wiederum nutzt Gleichungen, die die Bewegungen von Satelliten oder von Raumfähren beschreiben. Die Mathematik spielt also in der Welt von heute zweifellos eine ganz entscheidende Rolle, was den Millionär, Philanthropen und Gründer des ‚Clay-Mathematics-Institute‘ Landon Clay dazu veranlasste, eine Liste von sieben Jahrtausendproblemen zu erstellen, für deren Lösung er jeweils eine Millionen Dollar als Belohnung aussetzte. Bis heute hat er noch keinen Cent auszahlen müssen oder vielmehr dürfen.
Viele von uns haben ihren Mathematikunterricht in der Schule als extrem langweilig in Erinnerung; wahrscheinlich vor allem deshalb, weil er keinen Bezug zum wahren Leben herstellen konnte. Mathematik beginnt erst dann Spaß zu machen, wenn Variablen und Gleichungen eine Bedeutung erhalten und Lösungen gefunden werdenmacht. Es mag zwar mühsam sein, nach Gleichungen zu suchen, die bestimmte Sachverhalte genau auf den Punkt bringen, aber wenn man es schafft, dann ist das ein schöner Erfolg. Lässt sich eine Gleichung zur Lösung eines speziellen mathematischen Problems auch im praktischen Leben anwenden, sodass sie zum Beispiel dazu beiträgt, eine Raumfähre zu bauen oder ein medizinisches Instrument zu entwickeln, dann darf diese Gleichung völlig zu Recht als Erfindung bezeichnet werden. Eine Erfindung im herkömmlichen Sinne hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich entweder in einer ganz neuen Gleichung korrekt darstellen lässt oder dass eine bereits existierende Gleichung auf sie anwendbar ist. Allerdings benötigt diese Gleichung natürlich auch eine Lösung. Und wenn es eine solche nicht gibt, so existiert doch stets eine annähernde Lösung, die die Realisierung der Erfindung ermöglicht.
Die Gleichungen für zwei der Jahrtausendprobleme stammen aus der Physik. Eines von ihnen liegt darin, eine allgemeine Lösung für die Navier-Stokes-Gleichungen zu finden, die Grundgleichungen der Strömungsmechanik. Diese Gleichungen wurden erstmals in den 1820er Jahren formuliert, um mit ihnen die Bewegungen von Flüssigkeiten und Gasen zu beschreiben: zum Beispiel den Wasserstrom um ein Boot, den Luftstrom über den Flügeln eines Flugzeugs Ebene und den Blutstrom vom Herzen zu den Gefäßen. Auf den ersten Blick ähneln die Navier-Stokes-Gleichungen einigen simpleren Gleichungen, die in den Ingenieurwissenschaften im Grundstudium gelehrt werden. Dieser Eindruck täuscht aber, denn niemand ist jemals auch nur in die Nähe gekommen, eine allgemeine Lösung für diese Gleichungen zu finden. Doch auch wenn bislang also keine solche Lösung gefunden wurde, gewähren die Navier-Stokes-Gleichungen den Forschern ein besseres Verständnis der angeführten Phänomene. Sie helfen den Marinearchitekten dabei, bessere Schiffe zu bauen, den Raumfahrtingenieuren, bessere Flugzeuge und Raumfähren zu konstruieren, und den Ingenieuren der Biomedizin, künstliche Organe zu entwickeln.
Ein weiteres Jahrtausendproblem bildet die Suche nach Lösungen für die Gleichungen von Chen-Ning Yang und Robert Mills aus dem Jahr 1954. Diese Gleichungen beschreiben die grundlegenden Kräfte der Natur. Sie geben Aufschluss über die Rohmaterie, aus der alles im Universum erschaffen worden ist. Physiker haben zwar bereits auf der Grundlage von Yang-Mills-Gleichungen basierende exakte Ergebnisse vorweisen und ihre Berechnungen auch unter Laborbedingungen mit Hilfe von Computern überprüfen können; doch obwohl diese Gleichungen den Physikern beinahe alle notwendigen Informationen liefern, ist es bis jetzt niemandem gelungen, sie mit bekannten Methoden zu lösen.
Letztendlich ist die Lösung der Gleichungen aber auch gar nicht das Entscheidende; viel wichtiger ist es, sich eine Vorstellung davon zu machen, welche Bedeutung die Lösung besitzen könnte. Das Einsetzen von Zahlen in die Gleichungen und das Anstellen von Berechnungen kommen erst an zweiter Stelle.
Positivistische und materialistische Ansätze zu Wissen und Wissenschaft haben dafür gesorgt, dass die meisten Menschen nur noch um ihres persönlichen materiellen Vorteils und ihrer Bequemlichkeit willen Interesse an Wissenschaft und Technik verspüren. Solange die Degradierung dieser Disziplinen aber nicht gestoppt wird, wird die Welt darunter leiden müssen. Auf der anderen Seite ist die Mathematik eine universelle Sprache, die dem mathematischen Denken entspringt. Und diese Art zu denken ist eine der Qualitäten jener ‚Erben der Erde‘, die im Buch The Statue of our Souls (2005) beschrieben wird. Dort heißt es:
„In der Vergangenheit haben die Menschen in Zentralasien und späterspäter dann auch im Westen Blütezeiten dadurch eingeleitet, dass sie die Gesetze des mathematischen Denkens für sich nutzten. So hat der Mensch schon Licht ins Dunkel vieler ungewisser und unbekannter Sachverhalte aus der mysteriösen Welt der Zahlen bringen können. Zwar möchte ich hier nicht soweit gehen wie die Hurufis [eine Sufibewegung aus dem 14. Jahrhundert), doch lässt sich wohl mit Fug und Recht behaupten, dass man ohne die Mathematik unmöglich verstehen kann, in welchem Verhältnis zueinander der MenschGeisteswissenschaft und die natürlichen Phänomene stehen. Die Mathematik beleuchtet unsere Wege und zeigt uns die Verbindungslinie, die sich vom Universum zum Leben erstrecktdehnt. Sie macht uns erkennbar, was sich jenseits des menschlichen Horizonts befindet, und lotet sogar die Tiefen der Welt der Wahrscheinlichkeiten aus, über die nachzudenken uns extrem schwer fällt. Außerdem lässt sie uns unseren Idealvorstellungen begegnen.
Ein mathematischer Mensch zu sein bedeutet jedoch nicht, dass man sich in allen Bereichen, die irgendeinen Bezug zur Mathematik aufweisen, auskennt; sondern es bedeutet, mathematisch zu denken, innerhalb mathematischer Gesetze zu denken und sich der Tatsache bewusst zu sein, dass die Mathematik alles durchdringt – von den Gedanken des Menschen bis hin zu den Tiefen des Seins, von der Physik bis hin zur Metaphysik, von der Materie bis hin zur Energie, vom Körper bis hin zur Seele und vom Gesetz bis hin zum nSufismus. Wenn wir das Sein vollständig begreifen wollen, müssen wir der dualen Methode von sufistischem Denken und wissenschaftlicher Forschung vertrauen. Der westlichen Welt mangelt es an der Essenz, daher hat sie versucht, diesen Verlust so weit wie möglich auszugleichen, indem sie Zuflucht im Mystizismus suchte. Unsere Welt hingegen, die der Seele des Islams immer recht nah verbunden war, ist nicht darauf angewiesenBedarf, nach irgendetwas Fremdem oder Unbekanntem zu suchen oder irgendwo Zuflucht zu nehmen. Unsere Kraftquellen liegen innerhalb unseres Systems von Denken und Glauben. Das genügt, solange wir nicht vergessen, wie überaus reichhaltig diese Quellen eigentlich sind. Dann werden wir einige der rätselhaften Querverbindungen im Sein erkennen. Wir werden sehen, wie harmonisch sie verlaufen, und wir werden zu einem neuen Verständnis der Beobachtung und der Freude an den Dingen gelangen.“
Kurz gesagt: Wenn wir das Universum, in dem wir leben, und die Funktionsprinzipien, die ihm zugrunde liegen, verstehen möchten, dann müssen wir mathematisch denken. Die Mathematik kann uns ein wertvolles Werkzeug sein. Sie kann uns die Augen öffnen und uns die Wahrheit zeigen. Auch der Beruf des Mathematikers sollte in der Zukunft an Ansehen gewinnen – dann nämlich, wenn es den Wissenschaftlern gelingt, Herz und Geist harmonisch miteinander zu verbinden und wenn sie die Wissenschaft und ihre Früchte zum Wohle der Menschheit zu nutzen.
Namik Sercan