Wenn man sich insbesondere die Verse 1-6 der Sure 9, aber auch einige andere relevante Koranverse anschaut, so findet man dort manche wichtige Prinzipien zum Thema Islam und Krieg. Hier nur ein kurzer Überblick:
- Im Islam dient der Krieg nicht dem Ziel, Menschen zu töten. Im Gegenteil, der Islam misst dem Leben größte Bedeutung zu. Er betrachtet die Tötung eines einzigen unschuldigen Menschen als genauso schwerwiegend wie die Tötung der ganzen Menschheit, während die Errettung eines einzigen menschlichen Lebens mit der Errettung der ganzen Menschheit gleichgesetzt wird. Er sorgt sich also um jedes einzelne Leben und möchte die Menschen zur Wahrheit führen, indem er sie erzieht.
- Selbst wenn bereits Krieg herrscht, sollen die Muslime jederzeit dazu bereit sein, Frieden zu schließen und eine Übereinkunft mit dem Gegner zu erzielen.
- Eine muslimische Regierung muss sich an die Verträge halten, die sie abgeschlossen hat.
- Wenn die Gegenseite ihrerseits gegen die Verträge verstößt, muss die muslimische Regierung ihr öffentlich und offiziell erklären, dass diese daraufhin nicht länger gültig sind. Zwar kann sie dem Gegner anschließend sofort den Krieg erklären. Doch sie sollte ihm eine Frist gewähren und die Gelegenheit bieten, die neue Situation zu bewerten.
- Wenn die Gegenseite ihre Feindseligkeiten fortsetzt und ihre Haltung auch nach Ablauf der Frist nicht ändert, befindet man sich im Kriegszustand.
- Um durchsetzen zu können, dass der Feind seine Feindseligkeiten einstellt, oder um ihn im Krieg zu besiegen, wird den Muslimen dringend geraten, Entschlossenheit und Stärke zu zeigen. Andererseits müssen sie die Regeln des Krieges, wie in Anhang 2 dargelegt, achten.
- Die in 9:5 gewählten Worte zielen ausschließlich auf Menschen ab, die Gewalt anwenden und die sich – was auch aus dem folgenden Vers ersichtlich wird – an keine Regel und kein Gesetz halten, die also keine andere Sprache als den Krieg verstehen. Diese Passage dient, genau wie einige Artikel des islamischen Strafrechts, vor allem der Abschreckung. Der zweite Teil des Verses, in dem es um Reue und um die Tatsache geht, dass Gott der Vergebende, der Barmherzige ist, enthüllt die eigentliche Zielrichtung des Verses. Ein zweites Thema dieses Verses ist die historische Vertreibung der gewalttätigen und verbrecherischen Götzenanbeter aus Mekka und Medina und damit auch die Sicherheit des Zentrums des Islams.
- Die Vorgabe, Menschen zu töten und andere Länder zu erobern, gibt es im Islam nicht. Wenn also die Gegenseite dazu bereit ist, Frieden zu schließen und einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, dann wird den Muslimen empfohlen, ebenfalls diesen Weg zu beschreiten. Außerdem werden sie dazu ermuntert, Asyl zu gewähren und den Asylsuchenden weder in persönlicher noch in materieller Hinsicht irgendeinen Schaden zuzufügen.
- Der Krieg ist eine Rechtsangelegenheit zwischen zwei Völkern. Der Islam hingegen ist in erster Linie eine Religion, die das Verhältnis zwischen Gott und der Menschheit regelt; und dieses Verhältnis basiert auf aufrichtigem Glauben. Insofern wendet er sich zuallererst an die aufrichtigen Gläubigen. Ein Teil der Botschaft des Islams bezieht sich daneben auf das Leben des Menschen als Individuum und in der Gemeinschaft. Auch dafür gibt der Islam Gebote und Verbote vor; dies ist seine rechtliche Seite. In rechtlichen Begriffen gesprochen ist ein Muslim ein Mensch, der seinen Glauben erklärt und im Gebet Teil der muslimischen Gemeinschaft ist, der außerdem die reinigende Sozialabgabe entrichtet und damit seine finanzielle Pflicht als muslimischer Bürger erfüllt. Natürlich ist es möglich, dass ein solcher Mensch in Wirklichkeit kein Gläubiger, sondern ein Heuchler ist. Trotzdem wird er im rechtlichen Sinne als Muslim betrachtet. Wenn sich also ein Individuum, das sich im Kriegszustand mit Muslimen befindet, zum Glauben bekennt, dann endet damit der Kriegszustand. Gleiches gilt für eine Gruppe, die sich im Kriegszustand mit Muslimen befindet und sich dann kollektiv zum Glauben bekennt. Dem Islam zufolge darf niemand zum Glauben gezwungen werden. Wenn sich aber jemand freiwillig zum Islam bekennt und in einer muslimischen Gemeinschaft lebt, dann wird er als jemand betrachtet, der die Wahrheit erkannt hat und zu einem aufrichtigen Gläubigen geworden ist. Er gilt fortan solange als Muslim, bis er selbst erklärt, wieder vom Glauben abgefallen zu sein.
- Der Islam wird sich niemals bei einer anderen Religion, bei einer Ideologie oder bei einem System dafür entschuldigen, seinen Anhängern gestattet zu haben zu kämpfen. Im Gegenteil sind alle Religionen, Ideologien und Systeme dem Islam zu Dank verpflichtet. Denn der Islam, der einerseits universellen Frieden etablieren möchte, erkennt andererseits auch die Realität der Geschichte des Menschen an und akzeptiert, dass die Wahrung des Friedens manchmal auch erfordert zu kämpfen. Im Koran heißt es: (Obwohl das Töten etwas ist, das euch mit Widerwillen erfüllt) ist Unordnung (die aus der Auflehnung gegen Gott und daraus hervor geht, dass keine Gesetze anerkannt werden) schlimmer als Totschlag. (2:191) Und weiter: Aufruhr (die durch die Auflehnung gegen Gott und die Nichtbeachtung von Gesetzen verursacht wird) ist noch schwerwiegender und sündhafter als Totschlag. (2:217) In diesen Versen werden demnach die Auslöser von Krieg und Aufruhr als noch gravierender betrachtet als das Töten selbst und damit auch der Krieg. Kein Krieg ist erstrebenswert. Aber wenn er dazu beiträgt, diese Auslöser zu beseitigen, dann ist er rechtmäßig.
Weil im Christentum keine Regeln für die Kriegsführung festgelegt wurden, waren die von Christen geführten Kriege blutiger und rücksichtsloser. Anerkannte Forscher wie Graham Fuller und Ian Lesser (Graham E. Fuller & Ian O. Lesser, 41-42) zeigen eine erschreckende Realität auf: In den 14 Jahrhunderten der islamischen Geschichte wurden weniger Christen von Muslimen getötet, als allein im 20. Jahrhundert Muslime von Christen getötet wurden. Die ersten Angriffe der Christen auf den Islam erfolgten schon zu einer Zeit, als der Islam noch eine kleine, weitgehend auf Medina beschränkte Gemeinschaft war. Im 8. Jahr der Hidschra sah sich die erste Generation der Muslime in Mu’ta mit einer byzantinischen Übermacht von 100.000 gegen 3.000 Soldaten konfrontiert. Ein Jahr später war der Gesandte Gottes gezwungen, alle Kräfte gegen die Christen zu mobilisieren: Der Feldzug von Tabuk wird in Sure 9 ausführlich dargestellt. Weitere 3 Jahre später traten die muslimischen und die byzantinischen Streitkräfte erneut gegeneinander an, diesmal in Yarmuk, wo die Byzantiner eine vernichtende Niederlage einstecken mussten. Im Folgenden zwei Passagen zur Kriegführung, wie sie im Alten Testament beschrieben wurde:
Sihon rückte mit seinem ganzen Volk gegen uns aus, um bei Jahaz zu kämpfen. Der Herr, unser Gott, lieferte ihn uns aus. Wir schlugen ihn, seine Söhne und sein ganzes Volk. Damals eroberten wir alle seine Städte. Wir weihten die ganze männliche Bevölkerung, die Frauen, die Kinder und die Greise der Vernichtung; keinen ließen wir überleben. Als Beute behielten wir nur das Vieh und das, was wir in den eroberten Städten geplündert hatten… Und der Herr, unser Gott, gab auch Og, den König des Baschan, und sein ganzes Volk in unsere Gewalt. Wir schlugen ihn und ließen keinen überleben. Damals eroberten wir alle seine Städte. Es gab keine befestigte Stadt, die wir ihnen nicht genommen hätten: sechzig Städte, den ganzen Bezirk von Argob, das Königreich des Og im Baschan. Alle diese Städte waren durch hohe Mauern, Torflügel und Torbalken befestigt. Hinzu kamen die zahlreichen offenen Landstädte. Wir weihten sie der Vernichtung, wie wir es mit Sihon, dem König von Heschbon, getan hatten. Wir weihten die ganze männliche Bevölkerung und die Frauen, Kinder und Greise der Vernichtung. Alles Vieh und das, was wir in den Städten geplündert hatten, behielten wir als Beute.(Deuteronomium, 2:32-35; 3:3-7)
Für die Gegenwart seien hier nur kurz einige Fakten aufgezählt: Den Islam trifft nicht die geringste Schuld an den Dutzenden Millionen von Toten, die die kommunistischen Revolutionen gefordert haben; genauso wenig wie an der Unterdrückung der Befreiungsbewegungen überall auf der Welt auf Kosten ebenfalls von Millionen von Toten und auch nicht am Eindringen mächtiger Staaten in viele kleinere Länder der Erde, bei denen in Kriegen oder auf indirekte Art und Weise weit mehr als eine Million Menschen starben. Der Islam hat nicht den Tod von über 70 Millionen Menschen, größtenteils Zivilisten in zwei Weltkriegen auf dem Gewissen. Er hat auch nicht unzählige weitere Millionen heimatlos oder zu Witwen und Waisen gemacht. Der Islam hat weder totalitäre Systeme wie Kommunismus, Faschismus und Nazismus hervorgebracht noch Kriegstreiber wie Hitler, Stalin und Mussolini. Der Islam ist nicht verantwortlich dafür, dass wissenschaftliche Erkenntnisse dazu missbraucht wurden, Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen zu bauen, nicht für die Ausrottung von Dutzenden Millionen von Eingeborenen in vielen Teilen der Welt durch die Kolonialmächte und auch nicht für den Sklavenhandel, der ebenfalls Dutzende Millionen von Menschenleben forderte. Nicht der Islam und auch nicht die Muslime waren es, die in einigen muslimischen Ländern despotische Regime an die Macht gebracht haben, die für ihre Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Blutrünstigkeit berüchtigt sind. Und genauso wenig ist der Islam für den modernen Terrorismus, für Mafiaorganisationen und für den weltweiten Waffen- und Drogenschmuggel verantwortlich zu machen.
(Aus dem Buch „Der Koran und seine Übersetzung mit Kommentar und Anmerkungen“, 2009)