Im ersten Teil habe ich einige Fragen im Hinblick auf die Herangehensweise der Muslime an die Demokratie hervorgehoben und dabei eine kurze Bewertung im Hinblick auf den historischen Prozess vorgenommen. Jetzt kann man das Thema noch konkreter machen, indem wir uns die gegenwärtige Situation ansehen, in der wir leben. Deutschland zum Beispiel ist ein Land, in dem die demokratische Rechtsstaatlichkeit weitgehend gut funktioniert. Nun können wir die in den Büchern beschriebenen utopischen und theoretischen Diskurse beiseitelegen und die Frage aus der Sicht, der hier im Land Lebenden klären: Warum verhalten sich Gemeinschaften, die die muslimische Identität betonen, immer noch gleichgültig und sind nicht bereit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ernsthaft zu verteidigen? Warum kämpfen sie nicht entschieden für solche universellen Werte? Dazu kann man einige der Hauptgründe in einigen Punkten zusammenfassen:
Religion als normbildende Kraft
Man hört oft urteilende Beiträge, die folgendermaßen beginnen: „Im islamischen Recht …“ oder „Dem Islam zufolge …“. Geleichzeitig verwenden die gleichen Menschen aber auch Begriffe wie „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Freiheiten“ im modernen Sinne. Mit dem Verweis auf den Islam versucht man durch ausschließlich religiöse Referenzen, die auf Offenbarung und Jenseitsglaube beruhen, ein bestimmtes Menschenbild oder eine Gesellschaftsstruktur zu begründen. Wenn man eine (politisch) islamistische Auffassung hat, liegt es nahe, von einem islamischen Staat zu träumen. Bei der Formulierung mit „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit usw.“ geht es um eine Auffassung einer weltlichen Gesellschaft und eines säkularen Staates auf der Grundlage von Vernunft und Wissenschaft. Zweifellos dauern die Debatten zwischen Religion und Staat/Sultanat lange an. Dies setzt sich heute in einer anderen Dimension im Kontext von Modernität und Demokratie fort. An der Schnittstelle dieser beiden religiösen und säkularen Ansätze gibt es einen Konflikt, ein Paradox, vielleicht ein Dilemma! Warum? Es ist schwierig, aus der Pattsituation herauszukommen, ohne diese Ansätze wissenschaftlich in Frage zu stellen.
Genau hier haben wir zwei Situationen, in denen wir uns positionieren und anhand derer wir Ereignisse erklären und unsere Gedanken formen sollen: Unsere säkularen (irdischen/weltlichen) und politischen Gedanken basieren einerseits auf Religion und andererseits auf Vernunft und Wissenschaft. Tatsächlich gibt es eine klare Linie zwischen diesen Bereichen: Es ist der Unterschied zwischen „Religion“, die im Wesentlichen nur Werte definiert, und „säkularer Zivilisation“, die durch formale Regeln und Durchsetzungsmechanismen Normen hervorbringt. Aufgrund einiger Gemeinsamkeiten zwischen Werten und Normen aus islamischer Sicht wird diese Linie jedoch unscharf oder verschwindet sogar. Wenn das Thema im Kontext der Religion behandelt wird, müssen zwei wichtige Ansätze angesprochen werden, die ich aus der Erfahrung der christlichen Theologie entlehnt habe: einer ist eine Apologetik (d.h. die Verteidigung einer bestimmten Theologie oder religiösen Doktrin gegen externe Kritik und Herausforderungen) und das andere ist die Wahrnehmung des Korans und der Sunna nicht als ein moralisch wertschöpfender Ansatz, sondern auch als eine rechtlich „normbildende Norm“ (wie die Bibel als norma normans in Luthers Theologie zu sehen). Ich denke, aufgrund dieser beiden im Gedächtnis tief verankerten Auffassungen, die unter vielen Muslimen gängig sind, sind sie auf universeller Ebene mit der geistigen Entwicklung der Gegenwart nicht im Einklang. Die „vom Menschen geschaffenen“ Systeme und Erkenntnisse werden (eventuell unabsichtlich) in den Hintergrund gerückt. Angesichts religiöser Werte, die Vorkehrungen für das Leben im Jenseits treffen, werden säkulare zivile Werte, die durch die Organisation des weltlichen Lebens geprägt sind, trivialisiert. Obwohl Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheiten uns direkt betreffen, dominieren daher religiöse Diskurse. Daraus entwickeln sich unglaubliche Abwehrmechanismen, die teilweise psychotische Züge annehmen können. Manche denken, dass es eine Macht gegen sie gäbe, die versucht, ihren Glauben und den Islam zu zerstören, und sie führen in allen Bereichen Krieg gegen sie. In der deutschen Demokratie gehört jedoch jeder Glaube zur Privatsphäre und die Religionsfreiheit fällt unter der Garantie des Grundgesetzes. Man kann nicht anders als zu fragen: Bringt denn eine tiefverwurzelte Mentalität, die im historischen Prozess von Überzeugungen und orientalischer Kultur geprägt wurde, Muslime vom demokratischen Denken ab? Dann ist die Situation noch schlechter.
Totalitäre Mentalität und totales Religionsverständnis
Wenn eine Mentalität im historischen Prozess nur von religiösen Quellen und Überzeugungen geprägt wird, ist es offensichtlich, dass sie nicht für die Demokratie stehen wird. Denn ein demokratischer Ansatz entwickelt sich nicht aus totalitären Ideen, die mit religiösen Bezügen verbunden sind. Wann immer die Notwendigkeit besteht, werden nur die sich überschneidenden Aspekte des Islams mit der Demokratie vor Augen geführt. Man begnügt sich mit den Bemühungen, durch einige Werte und das vermeintliche Konzept der „Wahl“ eine Verbindung zur Demokratie herzustellen. Zum Beispiel mit der Behauptung, dass die ersten vier Kalifen nach dem Tod des Propheten Muhammad durch Wahlen an die Macht gekommen seien, und die fünf Prinzipien, die geschützt werden sollten, sowie die Beratung (Istischara). Einige islamische Werte können natürlich mit demokratischen Werten zusammenfallen. Die meisten Muslime sind jedoch nicht in der Lage, dieses historische Erbe zu identifizieren und zu isolieren und sich für Demokratie, Recht und Freiheit einzusetzen. Für sie steht es nicht auf der Tagesordnung, es sei denn, sie werden direkt in ihrem eigenen Lebensraum eingegriffen. Da diese Debatten sofort als antiislamisch oder säkularistisch interpretiert werden, werden sie in der Regel einfach ignoriert. Der „demokratische Staat“ und die persönlichen „demokratischen Haltungen“, die das irdische Leben und die Beziehungen zu Mensch, Gesellschaft und Staat definieren, sind jedoch keine religiösen, sondern säkulare Bereiche. Und nur durch die Unterfangen wie Lesen, Denken, Diskutieren, Kritisieren usw. kommen wir in diesem Bereich weiter. Ebenso können wir ja das Problem der „Herz-Kreislauf-Erkrankung“, die durch „Verhärtung der Arterien“ (Atherosklerose) verursacht wird, nur durch eine wissenschaftliche Herangehensweise lösen.
In dieser Hinsicht schließe ich die (politischen) Islamisten, die die Demokratie als „dämonisches Regime“ proklamieren, und die Beziehungen der Regime in verschiedenen islamischen Ländern zur Demokratie aus. Ich spreche eher von muslimischen Gruppen, die in unterschiedlichen Formaten und Strukturen gebildet wurden und tolerant zur Demokratie zu sein scheinen. Eine dauerhafte soziale Transformation kann nur erreicht werden, wenn universelle Werte hauptsächlich in diesen Communitys verinnerlicht werden. Dort wird oft behauptet, dass sie nicht gegen Demokratie seien. Die Demokratie solle sogar verinnerlicht werden; es sind aber reine Lippenbekenntnisse. Es wird argumentiert, dass Islam und Demokratie nicht miteinander in Konflikt stehen. Es wird sogar behauptet, dass sich der Islam mit demokratischen Praktiken überschneidet, die auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit beruhen. Grundlage dieser Behauptung ist jedoch nicht das Urteil „Demokratie ist gut“, da sie einige islamische Werte enthält, sondern die Idee, „dem Islam Priorität einzuräumen, zu dem auch demokratische Werte gehören“. Es ist so, als ob ein muslimischer Ingenieur oder Arzt einige gute Werte und Konzepte (wie demokratische Einstellungen und Haltungen) in seinem täglichen Leben verteidigt – und zwar nicht wegen säkularer demokratischer Werte, sondern aus religiösen Gründen als islamischen Wert. Wenn dies so als eine Anforderung des Islams wahrgenommen wird, führt es meiner Meinung nach dazu, dass die Befürwortung bzw. Verteidigung der Demokratie unter den (demokratischen) Muslimen schwach bleibt oder gar nicht existiert.
Andererseits wird oft von vielen muslimischen Theologen orthodoxer Auffassung verkündet, dass sie über den vollkommensten Glauben verfügen, dass sie die absolute Wahrheit besitzen, die zuverlässigste und glücklichste Gemeinschaft sind, die rationalsten Gedanken und den vernünftigsten Lebensstil haben. In Demokratien sind all diese Annahmen jedoch relativ und nur subjektive Urteile. Darüber hinaus werden all die unzähligen Wirklichkeiten als „soziale Daten“ betrachtet. Diese Akzeptanz des demokratischen Denkens führt natürlich zur Internalisierung des Pluralismus, zur Schaffung eines heterogeneren sozialen Lebensraums, in dem Unterschiede besser toleriert werden. In den muslimischen Kreisen wird dieser Ansatz oft übersehen. In der Praxis wird er je nach Bedarf betont, wenn der Bedarf von Zeit zu Zeit normativ und strategisch entsteht. Der Pluralismus wird oft ignoriert und sogar nicht selten als antireligiös angesehen.
Es ist ja eine positive Entwicklung, dass einige muslimischen Theologen, wenn auch nur wenige, Demokratie und Pluralismus befürworten. Dieselben Leute behaupten jedoch auch, dass „die Grundprinzipien der islamischen Metaphysik alle Lebensbereiche umfassen“ und dass wissenschaftliche Erkenntnisse nur akzeptiert werden können, solange sie mit den islamischen Kriterien übereinstimmen. Was für ein totalitäres Verständnis der Religion! Inwieweit und in welchem Umfang religiöse Werte diskutiert werden dürfen, ist auch theologisch umstritten. Vielleicht ist dies bis zu einem gewissen Grad an sich konsistent. Aber ist es nicht ein totalitärer Gedanke zu behaupten, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in dem Maße akzeptiert werden dürfen, in dem sie zu diesen theologischen Erkenntnissen passen? Was man hier außer Acht lässt, ist, dass das aus der Theologie gewonnene Wissen auch „menschlichen Ursprungs“ ist. Ich denke, das Hauptproblem hier ist, dass diese Erkenntnisse bzw. Interpretationen so präsentiert werden, als ob es sich um ein „göttliches Wissen“ handele. Denn wenn wir diese Haltung im islamischen Sprachstil ausdrücken: das Problem liegt darin, dass in der Hierarchie des „menschlichen Wissens“ „das aus dem Koran und der Sunna des Propheten erzeugte theologische menschliche Wissen“ über das „menschliche Wissen aus Forschung und Wissenschaft“ gestellt wird. Wenn beide Wissensquellen (Koran und Kosmos) aus islamischer Sicht göttlichen Ursprungs sind, sollte die eine der anderen in der Prioritätshierarchie nicht überlegen sein.
In diesem Zusammenhang ist es ebenso eine totalitäre Auffassung, wenn man behauptet, dass alle wirtschaftlichen Probleme der Welt mit dem Islam zu lösen seien. Die folgende Äußerung auf einer Webseite ist noch tragischer und gibt ein Beispiel dafür, in welch einer ideologischen Islamauffassung einige Muslime verfangen sein können: „Der Gesandter Gottes (Muhammad) und seine Gefährten führten in der „Ära der Glückseligkeit“ (gemeint ist in der Lebenszeit des Propheten) so ein erfülltes Leben, womit man sowohl die Wege, die den Menschen in jeder Hinsicht zu den Gipfeln seiner Vervollkommnung erhöhen können, als auch die Antworten aller möglichen Probleme, die bis zum Weltende erlebt werden, hier finden kann.“ Somit werden alle gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Menschheit bis heute ignoriert. Es stimmt hier irgendwas nicht, oder?
Das Dilemma in der Beziehung zwischen Religion und Staat
Ist es richtig zu versuchen, eine Religion mit einem politischen System oder einem Wertekatalog abzugleichen, der die Grundlage dieses politischen Systems bildet? Ein solcher Ansatz ist in der Tat ein Vergleich eines politischen Systems, das durch die Produktion von religionshistorischen Wissen erreicht wird, und eines politischen Systems, das aus Erkenntnissen von Studien über Mensch und Gesellschaft gebildet wird. Hier werden in Wirklichkeit nicht Religion und weltliches Wissen verglichen, sondern zwei verschiedene „menschliche Systeme“, die aus Religion und Natur hervorgehen. Das Problem ist, dass eines sich als göttlich einstuft! Da Religion im Wesentlichen eine „gute Moral“ ist, die das Verhältnis des Menschen zum „Schöpfer“ regelt und das Leben sowohl im Diesseits als auch im Jenseits verbessern wird, kann als Hauptproblem hier das Verhältnis der Muslime zur Demokratie (also zu menschlichen Erkenntnissen) bezeichnet werden. Ich denke, der Grund dafür ist die Kontamination des (politischen) Islamismus in den Köpfen, die Überzeugung, dass Religion (in der Tat das produzierte theologische menschliche Wissen) im politischen und administrativen Bereich alleinbestimmend und unbestreitbar ist. Für diejenigen, die in allem für alle Bereiche des Lebens immer nach religiösem Bezug suchen, können wir Folgendes sagen: Alle Erkenntnisse, die ein Muslim, ein Rechtswissenschaftler oder ein Religionsgelehrter aus Koran und Hadithen ableitet, indem er sagt: „Ich habe es so verstanden“ und „Ich interpretiere es so“, gehören auch zum menschlichen Wissen. Hier handelt es sich um ein Wissen, „das zur Religion gehört“. Diese Art von abgeleitetem/menschlichem Wissen hat keine hierarchische Priorität oder Überlegenheit gegenüber anderen (säkularen) menschlichen Erkenntnissen, die über Mensch, Natur und Gesellschaft gewonnen werden. Gegen mögliche Einwände zu diesem Ansatz möchte ich nur daran erinnern, was Imam Malik gesagt hat, als der abbasidische Kalif Mansur sein bekanntes Buch „Muwatta“ zum Rechtsbuch des Staates machen wollte: „O Kalif, das ist meine Fatwas. (Dies ist nicht die Religion). Nicht jeder muss das verstehen, er muss nicht so denken wie ich. Wenn Sie das tun, werden Sie die Religion einfrieren. Niemand wird mehr denken. Religion gehört dann zum Staat. (Der Befehl des Kalifen wird zur Religion).“
Auf der anderen Seite zeigt sich angesichts der Beziehungen der in Saudi-Arabien, Pakistan und Iran lebenden Muslime zum Regime (aus religiösen Gründen), dass demokratische Forderungen nicht im Vordergrund stehen; vielleicht haben sie gar keine. Selbst das Fehlen einer demokratischen Diskussionsatmosphäre in fast allen Regimen islamisch geprägter Länder wird kaum in Frage gestellt. So wie die Mentalität der Völker des Orients nicht in Frage gestellt wird … Die Tatsache, dass einige muslimische Akademiker, die behaupten, dass sie die Demokratie verteidigen, im Einzelgespräch religiöse Normen über jedes System stellen und sie zur Verfassung des Staates machen wollen, zeigt auf überraschende Weise eine religiöse Politisierung und auch Opportunismus. Dies kann auch ihre persönliche Meinung sein. Natürlich kann man sich jedes Regime wünschen, ohne Gewalt anzuwenden und Hass zu schüren. In diesem Fall tritt jedoch ein Redlichkeitsproblem auf. Ist es nicht widersprüchlich, sich eine Gesellschaft/einen Staat vorzustellen, die/der auf religiösen Normen basiert und dann zu sagen „Ich will ein demokratisches System“? Ist das nicht so, als würde man behaupten, dass die Religion all unsere weltlichen Probleme beantwortet, und dann greift man aber doch auf die weltliche Wissenschaft zurück, wie zum Beispiel auf die moderne Medizin bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen?
Rhetorik und Mentalitätsproblematik
Islamische Quellen und Werte, seien sie rhetorisch oder narrativ, sind sehr reich voran. Wie sieht aber die Praxis aus? Negative Beispiele sind weit verbreitet. Hier scheint ein klares Bild der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis zu existieren. Probleme werden oft im Handumdrehen gelöst, hauptsächlich indem alle Negativität vom Religiösen/Heiligen ferngehalten wird. Man sagt nämlich: „Es gibt keine Gewalt im Islam!“ oder „Ein Muslim kann kein Terrorist sein.“ So wird jede Unstimmigkeit schlicht und bequem beseitigt. Denn es ist erwünscht, dass man auf das Heilige nichts kommen lässt. Schlechte Beispiele werden mit Historizität und in einer selektiven Lesart der Geschichte erklärt und trivialisiert. Auch hier gibt es eine Inkonsistenz: Wenn Fehler der frühen Generationen aus dem Leben in jenem Abschnitt der Geschichte vorkommen, d.h. wenn religiöses Verständnis und religiöse Praktiken in gewissem Maße von historischer Dynamik und historischem Verständnis geprägt sind, sollte nicht auch heute dasselbe gelten? In unserer Zeit soll das Produkt der Zivilisation und der Erkenntnisse der Menschheit eine pluralistische, demokratische Gesellschaft mit Menschenrechten, also ein Rechtsstaat sein. Warum will man dann wieder zum Alten (zur nichtdemokratischen Gesellschaft) zurückkehren? Trotz reicher Werte im Islam wird also oft nicht in Frage gestellt, warum oft korrupte und unmoralische Haltungen unter Muslime zu sehen sind. Schlechte Dinge werden entweder auf den Teufel bezogen oder ignoriert. So versucht man das Problem einfach zu vertuschen. Es wird nicht in Frage gestellt, ob es eventuell ein Problem mit unserem Religionsverständnis oder unserer Mentalität gibt. Wenn alles so perfekt und in Ordnung ist, wie kann der zerrüttete Zustand muslimischer Gemeinschaften bzw. Gesellschaften erklärt werden? Das heißt, neben der Religion spielen auch andere Faktoren eine bedeutende Rolle für die psychische Ausgeglichenheit von Individuum und Gesellschaft. Muss man denn extra betonen, dass außer Religion auch Bereiche wie wissenschaftliches und kritisches Denken, empirische Forschung, Wirtschaft, Kultur, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Philosophie, Logik und Sprache auch in direktem Zusammenhang mit menschlichem Leben stehen? In der Tat besteht das etwa wesentlichste Problem darin, dass konkrete organisatorische Institutionen wie politische, rechtliche, wirtschaftliche, bildungsbezogene usw. formale Mechanismen, Regeln und mathematische Formeln, die für das Individuum, die Gesellschaft und den Staat erforderlich sind, nicht einfach durch die Verherrlichung der religiösen Werte festgelegt werden können. Alle diese Aktivitäten liegen ja hauptsächlich im säkularen Bereich. Diese können nicht durch eine Religion gesamtgesellschaftlich gemeistert werden.
Eine schönfärbende Rhetorik ist fast die einzige Methode, die in islamischen Kreisen unermüdlich angewendet wird. Es ist eine Rhetorik, die bei fast jedem Thema Melancholie und Überlegenheitsgefühle bedient. Und diese „Überlegenheitspsyche“ sieht die einzige Erlösung der Welt in der Verklärung des Islams, während sie keines ihrer eigenen Probleme gelöst hat. Viele muslimische Gläubige und Theologen glauben sogar, dass die Welt den Islam braucht, um jede Krise loszuwerden, in die sie geraten ist. Die Vergangenheit, die nur aus einer Utopie besteht, wird ständig idealisiert. Fast für jedes Problem werden aus islamischen Quellen Lösungsrezepte angeboten. Einerseits wird versucht, diejenigen abzuwerten, die nicht wie sie selbst denken, indem deren Schwäche dem mangelnden Glauben an wahren Gott und einer Vorherbestimmung zugeschrieben werden. Es wird indirekt darauf hingewiesen, dass sie selbst die wahren Vertreter des Glaubens und der Tugenden sind. Ein immenser „Gemeindedruck“ ist die natürliche Folge dieser dogmatischen Rhetorik.
Immer wenn Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Achtung vor Menschen, Moral erwähnt werden, wird aus den islamischen Hauptquellen sofort eine Reihe von Argumenten vorgebracht. Vor Augen geführt werden Beispiele aus dem Leben führender Persönlichkeiten, insbesondere der Propheten. Sie werden so beschrieben, als ob sie alles und jedes repräsentieren und unangefochtene Geltung haben. Genau das nenne ich Rhetorik. Es geht nicht darum, wie sehr diese Werte als Individuen, Gemeinschaften und Gesellschaft angeeignet und verinnerlicht werden oder ob soziale Praktiken, Institutionen und Regeln, die sich aus universellen menschlichen Werten ergeben, verwirklicht werden oder nicht. Fehlverhalten und Anschuldigungen, die in ihrer unmittelbaren Umgebung (wie Verleumdung, Verschwendung, Lüge, Korruption, Bevorzugung) anzutreffen sind, werden ignoriert. Ein Werterezept, das alle Probleme der Welt auf einmal lösen kann, wird in der Öffentlichkeit, insbesondere innerhalb der Community vermarktet. Es ist noch nicht einmal wichtig, prinzipientreu zu sein …
Aus einer philosophischen Perspektive betrachtet, Ibn Rushds (Averreos) rhetorischen, dialektischen und evidenzbasierten Aussagen zufolge, basiert wahres Wissen auf Beweisen, dialektisches Wissen auf Vermutungen und Rhetorik auf Vorstellungskraft. Es ist also einfach, alles mit Rhetorik auf eine fiktive Basis zu stellen, anstatt Wissen und Kultur zu schaffen und darauf basierende Praktiken aufzustellen.
Über religiöse Rhetorik und Narrative hinaus ist eine rationale Auffassung und ein Lebensstil immer noch ein Ergebnis der individuellen Präferenz, nicht der gemeinsamen Kultur, des gemeinsamen Nenners der gesamten Gesellschaft in jeder Schicht. Rhetorik war in der Praxis immer der Rationalität und Realität voraus. Einerseits heißt es „Worten müssen Taten folgen“, andererseits zielen alle Diskurse darauf ab, das idealisierte „imaginäre“ Narrativ weiterzuführen. Während man erklärt, dass die Konsultation das Gebot des Korans ist, wird dieses Prinzip jedoch in der Praxis auf Managementebene nicht ausreichend eingehalten. Da „Vortäuschen“ zu einem allgemeinen Verhalten und einer allgemeinen Einstellung wird, erfolgt die Konsultation häufig in vorgetäuschter Form, in dem man so tut „als ob“. Der Führer, der große Führer, der große Khan, der Kalif, der Scheich usw. bilden einen „inneren Kreis“ von Gefolgsleuten, die ihnen gehorchen und nicht „Nein!“ sagen können; und das Oberhaupt konsultiert somit seine Anhänger und „als ob die Beratung stattfindet“. Daher sind die muslimischen Gemeindestrukturen nicht ganz transparent. In unserer Zeit, in der das Erreichen des Richtigsten durch die „interne Kontrolle“ und „externe Kontrolle“ definiert wird, kann die Konsultation jedoch nur mit maximaler Beteiligung und aufrichtiger Transparenz erfolgen. „Der Gedankenaustausch“ mit denen, an die „Sold“ verteilt wird, wird nicht als Konsultation bezeichnet. Wenn das Verfahren nicht korrekt ist, kann es im Wesentlichen nicht als wahr befunden werden. Es wird ja treffend formuliert, dass das „Verfahren wichtiger als das Wesentliche der Sache ist“. Das wichtigste gemeinsame Merkmal im muslimischen Kontext ist, dass die Entscheidungsprozesse des Staates und aller seiner Institutionen und NGOs nicht offen und transparent sind. In unserer Zeit wird die Demokratie nun durch die Konzepte von Transparenz, Partizipation und Pluralismus erklärt. Die religiöse Rhetorik ist jedoch keineswegs an Fragen von Demokratie sowie ihren komplementären Teilen wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Pressefreiheit interessiert. Denn letztendlich sind ja diese Konzepte säkular. Während die weltlichen Erkenntnisse und die Werte, die durch Vernunft und Wissenschaft erzeugt werden, ständig diskutiert, verändert und weiterentwickelt werden, haben sich normative Werte über Tausende von Jahren entwickelt und spielen in jedem Glauben eine wichtige Rolle. Es wird oft der Aspekt unterstrichen, dass „schließlich alles von der Wissenschaft abhängt“ oder „wenn Vernunft und Überlieferung (also heilige Texte) in Konflikt geraten, soll Vernunft bevorzugt und Überlieferung interpretiert wird“. Aber man stellt die Überlieferung aus der Zeit der Spätantike und dem Mittelalter immer in den Vordergrund und mit tausend Arten von Interpretationen über empirische und wissenschaftliche Forschung. Laut dem großen Theologen Imam Maturidi werden die Informationsquellen auf der Basis der fünf Sinne, der Überlieferung und der Argumentation (Deduktion) interpretiert. Damit wird versucht zu erklären, dass das islamische Denken der Wissenschaft und der Vernunft Bedeutung beimisst. Aber Muslime, die ein wenig rational und kritisch denken; werden sofort mit Anschuldigungen wie „Säkularsein“, „Verdorbenheit“, „Unheilstiftung“ degradiert. Wissenschaftliche Forschung und Demokratie hingegen werden in der Praxis häufig als Vehikel zur Unterstützung der „Überlieferung“ eingesetzt. Wissenschaftliche Fakten und Erkenntnisse werden uminterpretiert und es wird versucht, sie an „ihr eigenes religiöses Verständnis“ anzupassen. Anhand der genannten Beispiele kann man leicht begreifen, in welcher Art von Mentalitätsparadoxon viele Muslime leben.
Retter-Idol und Personenkult
In der orientalischen Kultur, insbesondere in muslimischen Kreisen bildet das Retter-Idol die Grundlage des Personenkults. Die Tatsache, dass fast alle bekannten Propheten in der Region des Mittelostens gelebt haben, kann vielleicht die Bildung dieses Kultes geprägt haben. In diesem Kontext leben heute noch Gesellschaften, die maßgeblich aus Menschen bestehen, die sich nicht individuell mit ihren eigenen Potenzialen entwickelt haben und die die Möglichkeit, ihren eigenen Verstand zu nutzen, noch nicht erkannt haben. In solchen Gesellschaften wird die Bequemlichkeit, auf einen „Idol-Retter“ zu warten, einem demokratischen System vorgezogen. Dies ist der kürzeste Weg, die eigene Verantwortung loszuwerden. So üblich wie ein „Führerkult“ in muslimischen Gemeinschaften ist, so selbstverständlich ist er auch Mittelpunkt politischer Reflexionen. Während es im Westen „einen Vorsitzenden der Parteien“ gibt, gibt es im Osten eine „Partei des Führers“. Die Partei und ihre Anhänger sollen dem Führer immer die Treue halten. Dieser eine Mann sieht sich meistens als „auserwählt“ und unersetzlich. Er weiß alles am besten, trifft er alle Entscheidungen, kann aber für nichts verantwortlich gemacht werden. Deshalb kann eine pluralistische demokratische Kultur in islamischen Kreisen nicht gedeihen.
Wie kann sie denn gedeihen? Im letzten Jahrhundert verfügte die „Umma“ (islamische Gemeinschaft) über keine institutionelle und soziale Grundlage, die auf Recht, Gerechtigkeit und Menschenrechten beruhte. Nicht nur in muslimischen Gruppen, sondern in allen sozialen Schichten, in keinem der islamischen Länder, wurden diese Konzepte richtig übernommen und auf neue Generationen im formalen Bildungssystem übertragen und in eine gemeinsame Kultur und in ein geistiges „Betriebssystem“ verwandelt. Eventuell liegt hier die Hauptursache für Probleme mit diesen universellen Werten in der muslimischen Welt.
Fazit: Der Kampf für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist unvermeidlich
Die Bewegungen des Islamismus, Nationalismus und der Verwestlichung, die in der letzten Periode des Osmanischen Reiches heftig diskutiert wurden, behalten ihre Bedeutung bei. Diejenigen, die argumentieren, dass globale weltliche Probleme in muslimischen Kreisen nur mit religiösen Bezügen gelöst werden, sind immer noch nicht wenige. Seltsamerweise scheint sich der Konservatismus ein eigenes starres geistiges „Biotop“ geschaffen zu haben. Moderne Gesellschaften haben jedoch nun eine heterogene und pluralistische Struktur. Die partizipative und pluralistische Demokratie blüht auf; Rechtsnormen sind weit verbreitet. Gemeinsame ethische Werte werden von den Massen weitgehend akzeptiert und übernommen. Religiöse Rituale gehören als persönliche Präferenz zum Privatleben. Was bringt es nun, all diese Entwicklungen zu ignorieren? Ist es vernünftig zu versuchen, selbst säkularen modernen Gesellschaften zu diktieren, dass die ultimative Lösung die Religion sei (sowie Interpretationen dieser Religion, die als Reaktion auf die Probleme der Gesellschaften vor vielleicht tausend Jahren entstanden sind)? Ist es für diejenigen, die noch nicht einmal das „Problem der religiösen Erneuerung“ in diesem Zeitalter gelöst haben, möglich, durch Religion Lösungen für die sehr komplexen und gigantischen Probleme dieses Zeitalters zu finden? Ist das nicht ein Bruch mit Rationalität und Realität? Warum wird oft Wert auf theoretische theologische Ansätze und eine Ideologie gelegt, die alle Fragen des Lebens in einen religiösen Kontext stellt? Warum nicht das aufrichtige Streben nach Themen wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheiten, Menschenrechte und Ethik im praktischen Leben priorisieren? Wenn das Gesetz der Scharia in den westlichen Ländern, in denen wir leben, nicht gelten kann und es überhaupt nicht möglich ist, warum verfolgen die Muslime dann immer noch eine (religiöse) Utopie, die aus alten Zeiten stammt? Zudem sind die folgenden Fragen auch offen: Welches ist das „Scharia-Gesetz“? Welche Argumentation der Rechtsschule aus dem früheren Zeitalter wird zugrunde gelegt? Wenn es in dieser früheren Zeit erlaubt war, zu argumentieren, warum nicht jetzt? Ist dies eine göttliche Ordnung? Oder ist es die Meinung von Gelehrten? Hier stimmt irgendwas nicht oder?
Der Mensch ist natürlich weitgehend ein säkulares soziales Wesen. In den entwickelten Gesellschaften liegt das Konzept der „Demokratie“ im Sinne eines simplen Mehrparteiensystems weit zurück. Jetzt ist die demokratische Kultur zu einem Lebensstil geworden und hat sich von der Familie bis zu den Institutionen etabliert. Wir sprechen von einem fortschrittlichen Managementsystem, das vom antiken Griechenland bis zur Gegenwart gereift ist und weiterentwickelt wurde. Warum fällt es Muslimen schwer, dieses System, das infolge der Jahrtausende dauernden Zivilisation und Erkenntnisse sowie Erfahrungen der Menschheit entstanden ist, zu akzeptieren und zu verteidigen, zumindest in seinen universellen Grundwerten? Warum wollen sie nicht von Sozialwissenschaften profitieren, wenn sie kein Problem darin sehen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Menschheit mit Vernunft und Zivilisation in naturwissenschaftlichen Bereichen wie Medizin/Ingenieurwesen hervorgebracht hat, zu nutzen? Ist das nicht eine paradoxe Situation?
Wenn Muslime nur mit einer verinnerlichten ethisch-demokratischen Kultur und auf der Grundlage einer funktionierenden Rechtsstaatlichkeit zurechtkommen, dann können sie in einer wohlhabenden und freien Gesellschaft leben. Es gibt auch unzählige Beispiele dafür, wie diejenigen, die anscheinend islamische Werte verteidigen, während sie nicht mächtig oder in der Opposition sind, diese Prinzipien und Werte vergessen, sobald sie an der Macht sind. Viele Ereignisse zeigen, dass ausschließlich religiöse Diskurse und normative Herangehensweisen nicht ausreichen, wenn Geld und Macht ins Spiel kommen – auch nicht bei Muslimen!
Werden wir im Kontext der Gesellschaft und des Staates weiter versuchen, alle Probleme mit dem „Allheilmittel“ der Ideologie und mit Phrasen wie „nach islamischem Recht …“ und „Islam zufolge …“ zu lösen? Oder werden wir versuchen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte redlich zu verteidigen? Ist es denn möglich, eine Weltanschauung, eine Lebensphilosophie, ein politisches System, ein Rechtssystem und eine Wirtschaftslehre in der Welt des 21. Jahrhunderts durch ein Paradigma zu schaffen, das von menschlichen Erkenntnissen und rechtsgeschichtlichen Fakten des Mittelalters bestimmt ist.
Daher spielt die Position, die wir ohne Wenn und Aber einnehmen werden, eine Schlüsselrolle bei der Lösung sozialer Probleme. Übrigens weiß ich nicht, wie allgemein meine Beobachtung über die muslimischen (insbesondere türkischen) Theologen sein könnte. Fast alle von ihnen sind sich sicher, dass sie die einzige Wahrheit (die der ganzen Welt geliefert werden sollte) nur mit religiösen Bezügen gefunden haben. Ich habe auch festgestellt, dass viele von ihnen kein Interesse daran haben, die Beziehungen zum „Anderen“ auf der Grundlage der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheiten zu regeln. Obwohl dies im Sinne des Rechtsanspruchs für einen Muslim auch aus der Perspektive des Jenseitsglaubens ein vorrangiges Thema ist… Obwohl die meisten Probleme muslimischer Gemeinschaften gelöst werden können, wenn sie diese universellen säkularen Werten verinnerlichen und tatsächlich an ihnen festhalten… Oder irre ich mich hier?
Leider gibt es so viele Hindernisse für die muslimische Identität, sich auf diesen Gebieten richtig zu engagieren und Stellung zu beziehen. Ist es zu viel verlangt, trotz so vieler Hindernisse Muslimen zu erwarten, dass sie eine fortschrittliche Demokratie fordern, wenn sie dabei ihre eigenen kulturellen Werte berücksichtigen können? Da fast alle muslimischen Gesellschaften sich in großen Krisen befinden, ist es nicht höchste Zeit, eine echte Ethik- und Demokratiebewegung zu starten? Aber wer wird das tun? Es scheint für Muslime unmöglich zu sein, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wirklich zu verteidigen, ohne das apologetische und normative Verständnis zu überwinden. Nachdem ich diesen problematischen Punkt entdeckt hatte, stieß ich auf einen riesigen Problembereich, der noch nicht ansatzweise erschlossen und noch nicht ins Bewusstsein der Muslime vorgedrungen ist. Ein großes unbeackertes Feld!
Muhammet Mertek